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Freunde aus alten Zeiten

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22.06.2003
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Freunde aus alten Zeiten

Nett, dich heute Abend zu sehen. Ob du mich noch kennst? Hast du nicht damit gerechnet, mir zu begegnen?
Meine Freunde, weisst du, vergesse ich nicht so schnell. Ich hab immer gewusst, irgendwann würde ich dir begegnen. Still für mich habe ich das gewusst. Du hast dich kaum verändert. Du blickst mich so überrascht an. Hast du etwa Angst? Grund hättest du dazu. Neben dir sitzt deine Freundin, wohl eine Tussi erster Klasse, aber ansonsten schart sich niemand um dich.
Ein sonderbarer Anblick. Für mich die lang ersehnte, ideale Situation.
Was ich denn will? Spiel nicht den Idioten! Du weisst genau worum es geht! Oder muss ich dein Gedächtnis auffrischen? Ist schon länger her, nicht wahr? Aber bei mir verjährt so etwas nicht.

Nur du und ich. Niemand, der sich einmischen kann. Deine Freundin wird schnell merken; es ist eine persönliche Angelegenheit. Sie wird mich verstehen.
Ja, ich bin grösser als früher. Jetzt hab ich Selbstvertrauen und Stolz. Nein, ich konnte das nicht einfach vergessen, ich weiss zu gut, was du mir angetan hast.
Nein, Bier trink ich keins mit dir. Schon gar nicht auf die Vergangenheit. Auf uns? Du lachst? Uns hat es nie gegeben. Immer nur euch. Alles hat sich um euch gedreht. Drehen müssen!

***

Ich drehe mich um. Schweiss auf meiner Stirn.
Nur keine Angst zeigen, nur jetzt keine Angst!
Ich sehe euch nicht. Es ist schwierig keine Angst zu haben. Es gibt zuviel Grund dazu. Ich hoffe, dass ihr nicht schon wieder auf mich wartet. Ich suche das Feld bis zum Turnhalleneingang ab. Doch ich sehe nur die Spuren im Schnee. Sind sie von euch?

Ich hasse diese Lektion. Warum müsst ihr vor mir Sport haben? Ich hasse jeden Mittwoch! Warum müsst ihr immer so lange haben? Warum wartet ihr immer am Eingang auf mich? Warum könnt ihr nicht einfach in euer Klassenzimmer gehen?

Aber heute steht niemand da. Vielleicht seid ihr heute gnädig. Vielleicht habt ihr nichts geplant, das mich schuldig machen könnte.
Keine Disziplinarstrafe, weil ein soziales Mädchen mir helfen wollte? Kein Flur, der wegen mir schmutzig ist? Keine schlechten Noten?
Was ist los mit euch? Wollt ihr mich endlich in Ruhe lassen? Sehe ich nicht mehr wie ein Pisskopf aus? Bin ich kein Streber mehr?
Oder habe ich plötzlich das Recht, den Rasen zu überqueren, ohne euch zu fragen?

Noch zehn Meter bis zum Eingang. Der Rasen hinter mir und der karge Boden vor meinen Füssen. Wo versteckt ihr euch? Bitte, macht es kurz! Bitte lasst mich sein! Oder habt ihr ein neues Opfer gefunden? Einen anderen Outsider, zur Abwechslung?
Der Winter ist doch eure Saison. Der Schnee ein geeignetes Mittel zum Zweck. Doch da ist nicht einmal ein Schneeball, der an mir vorbei fliegt, während ich zur Türe eile. Keine Hand, die mich nach hinten reisst, keine Arme, die mich auf den Boden werfen.
Obwohl kühl und hart, fühlt sich der Türgriff angenehm an. Erleichtert atme ich auf. Meine Klassenkameraden haben sich zum Teil schon umgezogen. Einige schleppen noch ihre Taschen in die Umkleidekabinen. Ich bin der letzte. Wegen euch komme ich zu spät in die Turnstunde. Aber auch ihr verweilt gerne, nur um mich zu erwischen.
Warum habt ihr Sport vor mir? Gibt es eine Begründung? Gibt es eine Gerechtigkeit, die das begründet?
Ich reisse die Tür auf und bin in Sicherheit. Tatsächlich, heute habt ihr mich vergessen. Ich will glauben, dass ab heute alles vorbei ist. Alles.
Aber das ist es nicht.
Meine Kameraden schleppen ihre Sporttaschen in die Kabine - wo ist meine?! Heute Morgen habe ich sie hierhergebracht. Ich weiss genau, wo ich sie hingestellt habe. Ein schrecklicher Verdacht überfällt mich.
Ich wage kaum, auf den Rasen zu sehen. Ich will mich nicht umdrehen. Ich suche den ganzen Eingang ab. Ich hoffe, die Tasche doch noch zu finden. Ich hoffe vergebens.
Ich konfrontiere mich mit meiner schlimmsten Vorahnung. Zuerst in Gedanken und dann praktisch, als ich mich umdrehe.
Ihr winkt mir zu und lacht hämisch. Ich verabscheue euch.
Ihr bildet einen Halbkreis auf der Wiese und in eurer Mitte habt ihr meine Tasche. Sie ist offen und mein T-Shirt hängt heraus. Ihr werft Schnee in die Tasche.
Wenn ihr mich weinen seht, habt ihr bereits gewonnen. In meiner Jackentasche ballen sich meine Hände zu Fäusten. Ich stosse die Türe wieder auf und gehe mit gesenktem Kopf auf euch zu. Ich habe keine Wahl. Wenn ich den Lehrer hole und dieser mich nicht gleich abweist, schadet es meinem Ruf und ihr seid mit meiner Tasche schon längstens fort. Ich höre, wie die Tür wieder ins Schloss fällt. Ich zeige mich entschlossen. Ich bemühe mich streng zu wirken, als ich meine Tasche zurückfordere.
Aber als Antwort lacht ihr mich aus. Einer von euch kickt die Tasche durch die Luft. Ein Schuh und das T-Shirt fallen auf halbem Weg hinaus und landen im Schnee. Jetzt ist die Tasche ziemlich nahe. Darf ich sie holen, darf ich den Schnee rauskratzen?
Ich möchte weinen. Ich möchte schwach sein!
Einfach die Tasche ergreifen und möglichst schnell zurück in die Halle laufen. Mein Verstand rät mir das zu tun.
Mein Verstand verträgt sich nicht mit dem kleinen bisschen an Stolz, das ich noch habe.
Dieser glaubt daran, dass es immer noch schmerzlos ausgehen könnte. Er hofft, dass diesmal ich siegen werde. Er will nicht nur meine Tasche, sondern auch das T-Shirt und den Schuh zurückholen. Er will genau das, was ihr wollt. Und ich gehorche ihm. Ich gehe einen weiteren Schritt auf euch zu und versuche die Angst zu verbergen. Meine Faust verkrampft sich und meine Fingernägel drücken in die Haut.
„Sollen wir dir helfen den Schnee aus der Tasche zu nehmen?“, fragst du mich.
Ich nicke überrascht. Der fehlende ironische Unterton lässt mich fast an deinen Vorschlag glauben. Ich mache den Mund auf, um etwas zu sagen, weiss aber nicht was. Bedanken kann ich mich beim besten Willen nicht. Aber ich darf auch nichts Falsches sagen.
„Na, dann bring die Tasche her!“, forderst du mich auf. Ich zögere. Aber ich habe keine Wahl.
Ich gebe dir die Tasche. Du machst sie weit auf. Scheinbar neugierig schaust du hinein. Deine Kollegen stehen stumm um dich. Du fragst mich, was für Schuhe ich denn habe.
„Wieso?“, frage ich und weise in die Tasche.
„Der ist hässlich und altmodisch!“, erklärst du mir. Und grinst.
„Wieso?“ Gleich nach diesem Wort erkenne ich, dass es ein Fehler war. Ich hätte „Ja, stimmt.“ antworten sollen.
Plötzlich haltet ihr mich hinter dem Rücken fest. Du packst meinen Kopf und bevor ich reagieren kann, steckst du ihn in meine Tasche.
„Sieh ihn dir an!“, höre ich dich in einer anderen Welt, jenseits der Dunkelheit antworten. Ich wehre mich dagegen Schnee zu fressen. Meine Hilfeschreie gehen zugrunde. Ein harter Tritt in den Hintern löst die Tränen aus meinen Augen.
Ihr schliesst den Reissverschluss bis zu meinem Hals. Ihr sperrt mich in die Tasche. Ihr zieht mich hoch und stellt mich blind auf die Beine. Ich fuchtle wild um mich. Einer sagt: ich sei doch nicht so ein Spielverderber. Es ist Stefans Stimme. Eine Raucherstimme. Die gleiche wie vor einer Woche, als er die Zigarette auf meiner Stirn ausgedrückt hat.
Ich ersticke fast in der Tasche.
Du zählst.
Eins... zwei... drei.
Ein Schlag in meinen Rücken und ich stürze. Ihr blutet aus der Nase. Ihr lacht. Du ziehst mir ruckartig die Tasche vom Kopf. Der Reissverschluss verletzt mich am Unterkiefer. Man wird die Zähmung mehrere Tage lang sehen.

„Gehen wir! Lassen wir unseren Kumpel hier“, schlägt Marc vor.
„Aber er soll uns doch nicht falsch verstehen, der Kumpel!“, hängst du an.
Du bückst dich und schaust mich ernst an. Dann erklärst du mir: „Wir sind doch Freunde? Oder habe ich da etwas falsch verstanden?“, dein dreckiger Atem in meinem Gesicht, „Mich würde das sehr enttäuschen, wenn du vor jemandem das Gegenteil behaupten würdest. Sehr! Ich fand das kleine Spiel hier sehr amüsant, fandest du nicht auch?“
„Ja...“ Ich schlucke alle anderen Antworten.
„Dann bis zum nächsten Mal und sprich immer gut über deine Freunde!“
Ihr geht, ich bleibe liegen.

Eine Viertelstunde später schleiche ich geduckt die Strasse entlang. Ich schluchze vor mich hin. Ich hinke - das Ergebnis einer Reihe Schläge in den Oberschenkel.
Ich stelle mir vor, wie ich eine Axt schwinge und euch in Stücke schlage. Es ist mir ein wenig Trost. Aber es hilft nichts. Ich hätte nicht den Mut dazu. Ich kann euch nur hassen, wie ihr mich hasst, aber was soll ich tun? Jetzt kann ich mich nicht wehren. Ich trage euch auf eine schwarze Liste ein. Jedesmal, wenn ich einem von euch begegne, schlägt mir das die Liste wieder in den Kopf. Dank euch wird sie nie verloren gehen.
Irgendwann werde ich mich wehren.
Irgendwann muss ich mich wehren.
Vielleicht seid ihr dann allein, meine 'Freunde'!

***

Wie fühlt man sich, so allein? Du kennst mich doch noch gut. Fühlst du dich nicht geborgen, in meiner Nähe?
Lüge mich nicht an, du weisst genau worum es geht!
Wie wäre es mit einem Gespräch so unter Freunden? Einem amüsanten, kleinen Gespräch?
Und danach möchte ich, dass wir Freunde bleiben. Ich möchte nicht, dass du jemandem etwas anderes erzählst, denn das würde mich sehr enttäuschen.
Sehr.

 

Hallo Van Horebeke,

habe Deine Geschichte gerne gelesen: Klassischer Spannungsaufbau - Ausgangssituation, Rückblende, Ausgangssituation. Richtig gekonnt gemacht. Obwohl es um eine sehr persönliche `Beziehung´ geht, kann man gut den Bogen zu einer allgemeinen Problematik schlagen.
Sprachlich kommt das ungehetzte, sture Warten auf die Stunde der Rache gut rüber, die Gewissheit „bei mir verjährt so etwas nicht“.
Und etwas zynisch „Sie wird mich verstehen“. Gerechtfertigter Hass.

LG,

tschüß... Woltochinon

 

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