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Freier Fall
Gonna leave this world for a while
Tom Petty
Wie viel Zeit braucht man, um den freien Fall zu erreichen? Mir genügte ein Satz. Gemurmelt von einem Mann, der sich entschlossen hatte, seine Liebe wieder einzupacken in den Koffer, der vor ihm stand. Dann splitterten meine Gedanken.
In der Wohnung will ich nicht bleiben, da steht der Mann mit den Worten, die mich stürzen ließen.
Auf der Straße greife ich an die Wand eines Hauses, streiche über rauen Putz und fühle die Brüchigkeit der Mauer. Mein Blick wandert hinauf zu Balkonen, an denen Fahnen hängen. Was wohl passiert, wenn sich einer der Töpfe löst? Das Gefühl, alles hören zu können, selbst das Flüstern des Mannes hinter mir, der sich über die Hausschuhe an meinen Füßen wundert, wird immer stärker. Nur wenn man ganz schnell geht, entkommt man dem Hören und Wispern. Menschen schwanken mir entgegen, ich will sie stützen, gehe auf sie zu, bis ich an ihren Gesichtern merke, dass ich es bin, die schwankt.
Ich zähle Türen und Fenster, verspreche mir, wenn zehn und dreißig aufeinanderträfen, kehrte ich um, riefe an, verabredete mich mit irgendeinem, mit dem ersten besten, der Zeit hat.
Das sechzehnte Fenster gehört zur zehnten Tür. Es sind die Fensterfluchten, die mich genarrt haben. Auslagen voller Menschen, die vom freien Fall nichts wissen. Davor Stuhlreihen und Tische, Augen, die mich mustern und verfolgen, während ich an ihnen vorbeiziehe. Die zehnte Tür steht offen. Keine Fensterflucht, nur eine kleine Kneipe mit einem Raucherabteil und Musik.
Das Innere ist dunkel, ein paar Tische formen ein Fünfeck, nur einer ist besetzt. Vom Raucherzimmer schwappen Laute herüber, lösen sich auf, bevor die Worte mich erreichen. Die Wände sind mit Bierdeckeln tapeziert. Linie an Linie, rund, rot und weiß, vereint sich zu einem Muster, dessen Sinn mir verschlossen bleibt. Ich setze mich an einen Tisch, fahre mit den Händen über die narbige Holzplatte, bis der Wirt mir etwas zu trinken bringt und ein Stück Papier. Bleistiftkringel entstehen darauf, als kopierten die Wände sich selbst, Linie an Linie folgt, wird zu Ecken, Tischen, Türen, schnell und schneller. Nur so erfasse ich den Sinn des Falls, ich muss ihn zeichnen. Und dann ist es gewiss: Ich bin allein. Wie heißt es in einem Gedicht? „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“ Manchmal lebt man ein Gedicht. Nur dass Rilke sich geirrt hat, es ist nicht Herbst, wenn der freie Fall kommt, es ist Sommer.
Ich nippe an meinem Bier und zähle die Tropfen, die an dem Glas hinabrinnen. Immer nur an das denken, was man sieht und hört, wenn man stürzt, sonst nichts. Und niemals in den Abgrund schauen. Halt dich fest an dem, was du siehst, auch wenn es ein Tropfen ist. Ich muss lachen, als ich mir vorstelle, wie unsinnig es ist, sich ausgerechnet daran festzuhalten. Dennoch zeichne ich es. Eine kleine Figur, die an einem Tropfen zappelt, der aus einem Roy-Lichtenstein-Wasserhahn quillt. Mein Blick streift ängstlich den Abgrund, der unter dem Strichmännchen wartet, nur nicht hineinschauen, huscht weiter, ahnt ein Netz von Linien, sie müssen nur gezeichnet werden. Strich an Strich, eine Rundung mit der Andeutung einer Halsbeuge und immer wieder Linien, dicht an dicht. Lass ihn warten, den Abgrund, zeichne das Netz, es fängt dich auf, rettet dich vor dem freien Fall. Bis ich sehe, was ich wirklich gemalt habe. Kein Netz, sondern die Kleidung des Mannes am Nebentisch.
Es ist warm, doch er trägt einen Fellmantel. Ich bin froh, dass er unpassend gekleidet ist, das lenkt mich ab von meinen Hausschuhen. Ab und an begegnet mir das Oval eines braunen Auges hinter meinen Linien. Starre ich das Auge an oder das Auge mich? Immer wieder streunt mein Blick zu dem Fellmantel hin, als wäre es möglich die Haare des Mantels zu zählen und zu zeichnen, Tausende feiner, dunkler Härchen mit blonden Spitzen. Irgendwann steht der Mann auf. Ein langer Fingernagel mit einem lilafarbenen Rund tippt auf meinen Zettel, fährt eine Linie nach. Wie weibisch denke ich, ein lackierter Fingernagel bei einem Mann.
„Sie sehen ihn?“, fragt er. Seine Stimme klingt sanft.
„Was meinen Sie, Ihren Fingernagel oder den Pelzmantel?“
„Den Mantel, nur wenige sehen ihn. Und die folgen mir.“
„Idiot“, sage ich leise, „sieht man mir die Einsamkeit so an?“ Doch dann blicke ich auf den Bleistiftstumpf, zahle und gehe ihm hinterher. Alles ist besser, als zuhause zu sein, wo der Mann mit den Erklärungen die Koffer packt.
Es hat geregnet. Dunstschleier kriechen vom Pflaster, verhüllen die Beine des Mannes, es ist, als folge man einem schwebenden Mantel. Vor einem alten Haus hält er und verschwindet darin. Mein Finger sondiert die Namen auf den Klingeln, nur ein alter Reflex, bevor ich eintrete. Die Tür zu seiner Wohnung ist geöffnet, über einem Stuhl hängt sein Mantel.
„Warum tragen Sie dieses Fell, es passt nicht zum Sommer.“ Meine Stimme fühlt sich fremd an, als hätte sie eine Schwingung zu viel.
„Er macht mich interessant, die Frauen folgen ihm wie einem vertrauten Geruch.“ Er schnaubt. Soll das Lachen sein? Es klingt wie eine Übung. Ich greife in meine Hosentasche und suche nach einem neuen Stift, mit dem man dieses Lachen bannen kann.
„Ich hatte nicht viele Gründe zur Freude in letzter Zeit. Wollen Sie sich nicht setzen? Ihre Jacke ablegen? Etwas trinken? Oder brauchen Sie Trost? So wie ich?“
Noch jemand, dem es geht wie mir, denke ich, und lege den Stift auf einen Tisch. Mein Blick flattert zur Eingangstür, gleitet wieder zurück.
„Setzen Sie sich. Was haben Sie zu verlieren? Was spricht gegen Wärme in einer Nacht, die trostlos ist? Ich sehe es Ihnen an. Wissen Sie nicht, wer ich bin?“
„Doch. Der Mann mit dem Fell“, ich lache, „Sie gehören in den Zoo.“
Er gießt mir ein Glas ein, eine honigfarbene Flüssigkeit, nickt mir zu. „Auf den Trost“, sagt er, „und auf die, die ihn suchen.“ Ich höre ihn, die Traurigkeit, die in seiner Stimme vibriert, und nippe an dem Glas, schmecke süßen, schweren Portwein mit einer leichten Zimtnote.
Dann reicht er mir den Mantel. „Fühl“, sagt er. „Nur wenige sehen ihn. Fühl den weichen Pelz. Er schützt und tröstet. Fühl nur.“
Der Mantel erhebt sich vor mir wie ein fedriger Vorhang. Erst habe ich Angst, groß ist er, dunkel, doch dann fass ich vorsichtig in das zarte Fell, erforsche Härchen um Härchen, taste und spüre die goldenen Spitzen, zeichne den Flaum mit meinen Fingern, es ist viel besser, als auf Papier zu malen, ergründe die Fasern, bis sie verschwimmen und ganz leise eine Stimme erklingt. Ich kann sie nicht zuordnen, doch sie wärmt wie die Suppe, die man als Kind bekam, wenn man krank war. Dann erkenne ich sie. Das ist meine Großmutter, wenn sie ein Lied für mich sang.
Langsam komme ich zu mir, erwache wie aus einem Traum. „Wie kann das sein?“, frage ich. „Es ist wunderschön.“
„Es ist der Mantel, er führt uns zurück in die Kindheit, lässt uns das Leid der Erwachsenen vergessen, sogar die Einsamkeit. Du spürst sie nicht mehr. Probiere nur, schlüpf hinein. Er tröstet dich.“ Der Mann erhebt sich, in den Händen den Mantel wie eine Opfergabe. Ich öffne meine Arme, will ihn überstreifen, doch dann zögere ich. Warum habe ich meine Großmutter nur gehört? Warum habe ich sie nicht gesehen? Oder gerochen? Sie roch immer so gut nach Geißblatt und Birnen. Und was wird der Mann für den Trost wollen? Er kennt mich doch nicht einmal. „Ich will nur einen Kuss“, wispert der Mann, „mehr nicht, schlüpf nur hinein, dann wirst du alles spüren und sehen, sogar riechen.“ Wieso liest er meine Gedanken? Oder habe ich laut gesprochen? Dann spüre ich seine Lippen. Warm und weich. Ich falle, doch da sind Arme, die mich umschließen, Beine, die mich umklammern. Meine Haut wird kühl, ein Gesicht taucht auf, verschwimmt, wird zu dem Gesicht des Mannes, den ich liebe, dann zu einem anderen, das für immer gegangen ist, verwandelt sich erneut. Es war nur ein Traum, ein ganz schlimmer Alptraum, sie sind alle da, hier bei mir, die Verlorengeglaubten, bin nicht allein, nie mehr. Ich dränge mich an den Körper über mir, presse meine Hände auf seinen Rücken, will ihn in mich ziehen, einsaugen. Doch dann verwandelt sich das Gesicht erneut, wird wieder zu dem des Mannes mit dem Fellmantel. Seine Augen schauen auf mich herab, zwei Tunnel, in denen Lichtpunkte zucken.
Über die Ebene läuft ein Mann. Um seine Schultern liegt ein Mantel aus weichem, dunklen Fell. Er schützt ihn vor den Winden, die aus den Abgründen nach oben jagen. Der Mann rennt, er sucht jemanden, den er trösten, dem er das Leid süßen kann.
„Du darfst ihn tragen“, sagt er, „denn du hast den Mantel gesehen, nur wenigen ist das vergönnt. Schlüpf hinein, und du wirst nie wieder Leid spüren.“ Der Mann gießt mir ein neues Glas ein, ich trinke rasch. Ein zweites, drittes. Der süße Zimtgeschmack berauscht. Vorsichtig fahre ich mit dem rechten Zeigefinger an dem Ärmel des Mantels entlang, gleite hinein. Ich schaue auf meine fingerlos gewordene Hand, taste weiter, bis sie verschwunden ist. Das Innere ist glatt und kühl, feine Rillen entfalten sich unter meinem Tasten, richten sich auf zu zarten Fäden. Wie eine zweite Haar-Schicht schimmern sie durch die Oberseite des Mantels hindurch. Dazwischen pulst ein rosiger Widerschein, meine Hand, die sich von den schwarzblonden Härchen abhebt. Sie kitzeln, wenn man darüber streicht. Dann werden sie blass, als würden sie in meine Haut dringen, verschwimmen zu einer wolkigen Farblandschaft, aus der allmählich die Kontur eines Kindes wächst. Dunkelrote Zöpfchen, eine Zahnlücke. Mein Knie ist aufgeschlagen, ich weine, eine Stimme ruft nach mir, zwei tröstende Arme umfangen mich. Ich versinke in einem weichen Schoß, sehe eine Schürze mit dunkelblauen Streifen. Ein Lied erklingt: „Habt ihr nicht unser kleines Mädelchen gesehn, es ist uns weggelaufen, schon lang, lang ist´s her. Lang ist´s her.“ Ich sehe mich selbst mit lachendem Gesicht und dicken Beinchen, um meine Füße rascheln Blätter. Das Knie ist verheilt. Ich will meine Großmutter in die Arme nehmen, will ihre Schürze riechen, in deren Taschen Birnen stecken, doch ich höre nur ihre Stimme, sehe ihr glattes Gesicht. Warum rieche ich sie nicht, wo sind ihre Falten? Es ist ja sonst nicht meine Oma. Mit der linken Hand taste ich nach meinem Bleistift, ich muss die Linien in ihrem Gesicht malen, unbedingt, vielleicht rieche ich die Oma dann. Es ist nur mit der linken Hand, aber für Lachfalten wird es reichen. Und für Birnengeruch. Man muss es nur auf das Papier bringen, dann wird alles gut. Doch der Stift in meiner Hand fühlt sich ungelenk an, die Linien verbiegen zu einem krakeligen Gewirr.
Meine rechte Hand ist wieder frei und schmerzt. Wie aus einem Nebel taucht das Gesicht des Mannes vor mir auf. Es ist verzerrt, schweißgebadet. Ich frage mich, warum er den Mantel nicht selbst behält, wenn er doch so gut tröstet, warum er ihn unbedingt loswerden will? Ein Tropfen rinnt über sein Gesicht, benetzt die zarte Linie des Halses, sickert hinab auf seine Brust, stockt und perlt an einem Haar entlang. Ich muss an den Comic-Tropfen denken, der noch irgendwo auf einem Blatt sein muss, dann sehe ich, dass das Haar eine helle Spitze hat.
Vor vielen Jahren, als er noch nicht über die Ebenen lief, da liebte er ein Mädchen, denn ihr Haar war hell wie Bernstein und roch nach Zimt und Feigen. Er streichelte es oft zum Troste, denn ihre Mutter war eine böse Zauberin, die ihr Kind schlug. Sein Streicheln linderte den Schmerz des Mädchens, nicht nur den ihres Geistes, sondern auch den ihres Leibes, denn er bockte sie auf, dass sie vor Lust schrie und ihre harte Mutter vergaß. Und ihrer beider Haar lag so dicht beieinander, dass es aussah wie ein einziges Haupt aus dunkelhellen Flechten. Doch eines Tages, als die Zauberin, entdeckte, wie sich die Haare ihrer Tochter mit denen des Mannes mischten und Strähne dicht an Strähne lag, da verdammte sie ihn. Sie nahm ihm seinen Namen, verurteilte ihn dazu, dass er am ganzen Körper von Haaren bedeckt werde, dass er daraus einen Mantel schüfe und auf immer damit trösten müsse. Erst dann werde er erlöst von dem Mantel und dem Haar, wenn er genügend fände, die den Mantel des Trostes tragen wollten. Und sie verfluchte ihn, dass sein Trost süß sei, süß und schal und weder Bitterkeit, noch Schärfe oder Salz kenne. Nur Süße.
Er sieht krank aus, flehend, doch ich wende mich ab, kann ihm nicht helfen, will es nicht. An der Tür hat der Mann mich eingeholt. „Ich habe noch nicht einmal einen Namen“, bittet er. „Hilf mir, wenn ich dich schon nicht trösten darf!“ Ich zögere. Namenlos zu sein, das quält, so sehr wie Einsamkeit.
Seine Hände umschließen mein Gesicht, meinen Hals. Sein Blick ist wie ein Tunnel, der mich in ein barmherziges Dunkel führt. „Wir könnten uns trösten“, sagt der Blick. Doch ich will keinen Mantel tragen, in dem die Haut meiner Großmutter glatt ist. Oder doch? Einsamkeit wiegt schwer, und man spürt ihr wahres Gewicht erst dann, wenn sie bleibt. So kalt und bitter ist sie wie der Fallwind. Wie leicht wäre das, Trost, wann immer ich ihn brauche, in diesem schwarzen Pelz. „Bist du es? Bist du der freie Fall?“, flüstere ich und tauche durch den Kranz seiner Iris hinein in die Schwärze seiner Augen. Das Dunkel darin bewegt sich, fällt zusammen und bläht sich auf. Ein Blasebalg gefüllt mit Trilliarden lebender Organismen, die dicht an dicht die Dunkelheit besiedeln, zarte Haare, die in einem gemeinsamen Rhythmus atmen. Ich greife meinen Bleistift, doch zeichnen, das geht nicht mehr, kann mich nur an den rauen Kanten des Stifts stützen und hoffen, dass er von allein weiß, was zu tun ist. Als ich ihn packe, meinen Halt im Dunkel, so fest, dass sich das Holz in meine Haut bohrt, da weiß ich, dass die Haare dieses Felles mich ersticken werden, wenn sie trösten. Und dann sehe ich sie wieder, die kleine, zappelnde Figur an dem gläsernen Tropfen, der aus dem Comic-Wasserhahn rinnt. Was für ein jämmerlicher Halt, denke ich, blicke in den Abgrund und lasse los.
Etwas kracht. In meiner Hand ist der Stift, er ist blutig. Auf dem Boden liegt das Glas, das ich vorhin in der Hand gehalten habe. Zerbrochen. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit verfärbt sich zu einer schmutziggrauen Lache, die in den Fellmantel sickert.
Der Mann hat losgelassen, an seinem Mundwinkel hängt ein Tropfen, rot ist er und er rinnt ganz langsam. „Tropfen sind wirklich kein guter Halt, wenn man fällt“, sage ich, nehme meine Jacke und gehe.
Wieder sitze ich an einem narbigen Tisch. Flecken darauf bilden Muster, ich fahre sie mit dem Zeigefinger nach, um sie zu erforschen, blicke auf die Haut meiner Hand, die mit Wundmalen übersät ist. Wenn man genau hinschaut, sieht man in den Wülsten kleine Haarbälge, aus denen Härchen sprießen. Die Kellnerin bringt Kaffee und stellt ihn neben das Papier, das vor mir liegt. Ein Blatt voller Linien. Dicht an dicht. Wie die Haare eines Fells.