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Frau Epoillak
Ich strich mit der Handfläche über den Buchdeckel, veränderte die Geschwindigkeit und erzeugte so ein Geräusch, das an das Anrollen und Brechen von Wellen erinnerte. Leise und sanft. Die Schramme bildete einen Kontrast zur glatten, kühlen Oberfläche. Ich öffnete die Augen und las den in oranger Farbe gedruckten Titel: Romane & Kurzgeschichten schreiben. Um den Titel herum war der Buchdeckel von grauer Schrift bedeckt. Charaktere, die Schatten werfen. Das Wie und Warum von Figuren. Ich schlug den Buchdeckel auf und durchblätterte die Seiten mit einem kaum hörbaren Rascheln; es roch nach Papier, Moder und Chemikalien. In dem Moment ertappte ich mich, beendete den Zeitvertreib, starrte wieder auf meinen Laptop und las meinen Text. Trotz akribischer Organisation inklusive Zeitplan, Gliederung und Bearbeitung aller Aufgaben meines Schreibratgebers war mein Held eine Pappfigur. Eine lächerliche Pappfigur. Als ich erneut nach dem Buch greifen wollte, hörte ich eine Glocke läuten. Ich drehte mich auf meinem Stuhl um, sah aber niemanden. Doch dann erklang eine Frauenstimme. Sie sprach von Büchern, die ich als Kind geliebt hatte, erwähnte die Brüder Löwenherz und vor meinen Augen tauchte das Bild von Krümel auf.
Ich nahm meine Hornbrille ab, rieb mir über die Augen und massierte den Nasenrücken. Mir war schwindelig und ich fühlte, wie mich etwas in die Tiefe zog und mir das Bewusstsein entglitt.
Alles um mich herum war schwarz. Das erste, was ich roch, war eine Mischung aus Wildapfel und Zimt. Der Geruch erinnerte mich an meinen Lieblingstee zu Weihnachten; im Kreis meiner Familie saßen wir in der Küche, spielten Gesellschaftsspiele und aßen selbstgebackene Vanillekipferl. Ich atmete die Luft tief ein und setzte einen Fuß vor den anderen; das Material meiner Schuhe hallte in der Dunkelheit und es war mir, als hörte ich eine Gitarre, ein leises Zupfen der Saiten, die mit meinen Schritten zu meinem Lieblingslied von Gustavo Santaolalla verschmolzen.
Ein glitzerndes Licht tauchte auf. Im Zentrum war ein leuchtender Kern, der nach allen Himmelsrichtungen strahlte, wobei sich vier Linien nach außen erstreckten, die mich an ein Kreuz erinnerten. Es war eine Glasphiole. Ohne weiter darüber nachzudenken, ergriff ich sie und leuchtete damit in die Dunkelheit. Das Licht fiel auf einen Weg, der sich vor mir in die Tiefe neigte. Schritt für Schritt ging ich weiter. Nach einer Weile kam ich an einen See, hörte ein leises Tropfen und fühlte die Höhe des Raums. Dann ging meine Phiole aus. Doch schon stiegen aus dem See Lichter auf, in allen Farben, und erhellten den unterirdischen See.
Wieder hörte ich die leise Stimme und vor mir tauchte eine Frau auf, die mich anlächelte. Sie hatte lange, schwarze Haare, war mit einem türkisblauen Gewand bekleidet und hielt einen Koffer in der Hand. Um ihren Hals trug sie ein silbernes Amulett, das aus einem äußeren und einem inneren Ring bestand. Ich sah es genau vor mir, als läge es in meiner Hand: Im Inneren war das Symbol eines Auges zu sehen; der äußere Ring war in zwölf Flächen unterteilt, ich konnte eine Harfe, eine Pergamentrolle, ein Buch und einen Stift erkennen, die sich abwechselnd aneinanderreihten.
„Wo bin ich?“, fragte ich. „Bin ich verrückt geworden?“
Sie schüttelte den Kopf, schaute mich an und etwas in ihrem Blick beruhigte mich. „Du bist bei dir“, sagte sie.
Ich verstand nicht, was sie meinte. „Wer bist du?“
„Ich bin Frau Epoillak“, sagte sie, „aber ich habe viele Namen.“
„Wie meinst du das?“
Sie antwortete nicht. Stattdessen überreichte sie mir den Koffer und klopfte mit der Handfläche darauf. Der Griff zeigte in meine Richtung, der Deckel war abgewetzt und auf den goldenen Scharnieren waren schwarze Flecken zu sehen. Er fühlte sich seltsam leicht an.
„Mach ihn auf“, sagte sie.
„Was soll ich mit einem Koffer?“ Es kam mir lächerlich vor.
„Du verzweifelst an deiner Figurenzeichnung. Deine Figuren sind leblos.“
Wie konnte sie das wissen? Ich hatte niemandem davon erzählt. „Was hat das damit zu tun?“, fragte ich.
„Hast du dich nie gefragt, woher deine Ideen kommen?“
„Ich erfinde sie eben.“
„Ideen werden nicht erfunden, sie werden entdeckt.“ Ihr Blick wanderte wieder zum Koffer.
Ich wusste nicht weiter, drückte daher auf die beiden Scharniere und klappte den Deckel auf. Es sah aus wie ein Malkasten, nur dass die Tusche durch schimmernde Lichter in Regenbogenfarben ersetzt war; sie tanzten, flimmerten, funkelten. Aus dem Koffer stieg der Geruch nach Kiefern, Safran und Minze.
„Was um Himmelswillen ist das?“
„Was wolltest du immer schon erschaffen?“, fragte die Frau und berührte die Lichter; sie schlängelten sich um ihr Handgelenk, den Unterarm, ringelten sich um ihren Hals und wanderten auf der anderen Seite wieder hinab, um dann wieder ihren ursprünglichen Platz im Koffer einzunehmen.
Ich schwieg für einen Moment, bis ich es verstand und wusste, wer sie war. „Ich hab immer von einer eigenen Welt geträumt, die wirklich funktioniert; von Figuren, die sich echt anfühlen und keine Pappfiguren sind. Und ich wollte immer dieses Gefühl auf Papier bringen, dass ich doch nie ganz ausdrücken kann.“
Die Lichter im Koffer flackerten unter ihren Fingern und sie formte aus ihnen einen Planeten. Als er fertig war, ließ sie ihn los und er schwebte einige Zentimeter über dem Kofferboden; es erinnerte mich an ein Hologramm von einzigartiger Schönheit. Ich betastete den Planeten, berührte die große, blaue Fläche und dabei war mir, als stünde ich vor einem endlosen Ozean, als wehte mir Meeresluft ins Gesicht und ich meinte, die Wellen plätschern zu hören und aus den Tiefen des Meeres schien eine Blüte emporzusteigen, die golden lumineszierte.
Nach einer kurzen Pause, schaute ich auf den Koffer hinab und sagte: „Ich wünsche mir als nächstes eine lebensnahe Figur.“
Sie legte ihre Hand hinein: Der Planet löste sich auf und die Regenbogenlichter formten sich zu einer etwa fünfzehn Zentimeter großen Gestalt um. Die Figur bewegte sich und setzte sich im Schneidersitz auf die Innenfläche des Koffers. Sie winkte mir zu und kletterte dann auf meine Finger und legte sich in meine Armbeuge. Ich sah ihr ins Gesicht: Die Wangen funkelten hellblau, die Stirn orange, die Nase hellgrün und das Kinn rot; anstelle von Haaren war der Figur eine Kopfbedeckung gewachsen, die aus mehreren, rechteckigen Stäben bestand, zwischen denen jeweils ein Zwischenraum lag. Mich erinnerte es an eine Krone, außer, dass die Zacken rechteckig und stumpf waren. Ich beobachtete, wie sie lächelte. Ein Gefühl des Geborgenseins machte sich in mir breit und vorsichtig legte ich den Koffer auf den Boden, darauf bedacht, meine Armbeuge möglichst ruhig zu halten.
Endlich hast du mich gefunden, dachte die Figur in meinem Kopf. Ich dachte schon, du würdest mir nie zuhören.
Wer bist du?
Ich bin du und du bist ich. In meinem Kopf erklang ein leises Lachen. Dummerchen. Hast du wirklich gedacht, dass andere Leute dir sagen können, wie du mich findest? So was kannst du nicht erzwingen. Ganz bestimmt nicht von außen.
Die Lichtgestalt stieg auf meine Schulter und legte ihre kleinen Hände auf meinen Nackenansatz. Ein Kribbeln lief meine Wirbelsäule hinab und das meine ich wortwörtlich, es hielt für Minuten an, steigerte sich immer weiter. Tränen liefen mir über die Wange. „Ich habe es“, sagte ich.
„Du hast es“, antwortete Frau Epoillak.
Ich hab dich gern, dachte das kleine Wesen und ich sah, wie es sein Köpfchen an meine Schulter schmiegte. Ganz behutsam streichelte ich ihm über den Rücken. In Gedanken hörte ich ein wohliges Seufzen. Dann sah ich wie sich die Frau vor mir zu einem Lichtermeer auflöste; die Farben verbanden sich mit dem See, füllten den gesamten unterirdischen Raum und alles in mir drehte sich.
Als ich die Augen wieder öffnete, saß ich vor meinem Laptop. Ein Gefühl innerer Ruhe machte sich in mir breit. Ich griff nach meinem Schreibratgeber und stellte ihn in das Bücherregal. Daraufhin stellte ich mir einen Koffer vor, der voller Lichter war, und begann zu schreiben. In meinem Kopf hörte ich eine Stimme: Gute Entscheidung und jetzt hör mir zu.