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Frag Mr. Pepp!
Da lag er wieder an meine Frau geschmiegt, ließ sich kraulen, wurde getätschelt. „Ja, mein Süßer“, hauchte Anja.
Mit einem stummen Fluch auf den Lippen setzte ich mich ans andere Ende der Couch. Und dabei war ich nur schnell auf dem Klo gewesen.
Mr. Pepp hatte es schon lange vor mir gegeben. In unserem Haus, in das wir erst letzte Woche eingezogen waren, bekam Mr. Pepp dann ein eigenes Zimmer mit Kratzbäumen und Spielzeug. Sonnenseite, Blick auf den Garten. Ich musste mit dem kalten Keller vorliebnehmen und dort zwischen Kisten und Kartons, Wäschekörben und Bügelbrett, auf einem Schemel sitzend, meine Modelleisenbahn aufbauen. Tauschen würde ich an des Katers Stelle sicher nicht.
Die Vorabend-Quizsendung war zu Ende. Die ganze Zeit über hatte Anja mit dem Kater geschmust, kein Wort mit mir gesprochen und auch nicht mitgefiebert oder geraten. Sie stand auf, streichelte über das lange Fell und sagte, dass sie was fürs Abendessen und zum Naschen für den Krimi einkaufen möchte.
„Bringst du mir Süßes mit?“, fragte ich.
„Du bist zu fett“, sagte sie grinsend und ging in den Korridor. Mr. Pepp schnurrte zufrieden. Ich hätte gerne vom Kater gewusst, wie er es schaffte, dass Frauchen nur für ihn Leckerlis mitbrachte.
Majestätisch war Mr. Pepp auf meinem Platz liegen geblieben. Es schien, als grinste er mich frech an, als wäre er bereit, seine Position mit Fauchen und Kratzen zu verteidigen. Darauf wollte ich es nicht ankommen lassen. Schon einmal war ich nicht als Sieger hervorgegangen und musste eine böse Entzündung am Unterarm davontragen.
Ich hörte die Haustür ins Schloss fallen. Mr. Pepp miaute, als würde er „bis gleich“ sagen. Sofort schaltete ich den Fernseher aus, eilte in den Keller und holte die Plastikbox, in der wir den Kater beim Einzug transportiert hatten.
Ich stellte sie vor die Couch, öffnete das Türchen und kauerte mich mit etwas Abstand daneben, um nicht schon wieder Bekanntschaft mit seinen scharfen Krallen zu machen.
Mr. Pepp interessierte das nicht.
Ich griff nach hinten, fand seine Plüschmaus und quetschte sie hinter die Box. Er wirkte ein wenig misstrauisch wegen des lauten Piepens, krabbelte dann doch hinein.
Vorsichtig schloss ich das Türchen und zog mir Schuhe und Jacke an.
Draußen war es kalt, der Schnee rieselte. Fieser Winter; ich fror und ärgerte mich, keine Wollmütze aufgesetzt zu haben.
So gut kannte ich mich in der Gegend noch nicht aus. Doch ich wusste einen passenden Ort.
Neben der Sparkasse fand ich die Hofeinfahrt, die zu einem weitläufigen Spielplatz mit vielen Büschen und angrenzenden Gärten führte. Ich schritt hinein und stellte die Transportbox ab, öffnete sie, trat zurück und lugte um die Ecke. Mr. Pepp tastete sich heraus, blieb erst stehen und tapste dann durch den Schnee, versuchte gar, Schneeflocken zu fangen.
Kurze Zeit später hatte ich die Box zurück in den Keller gebracht und schrubbte Couch und Kissen und Wolldecke gründlich mit der Teppichbürste ab. Ich machte es mir mit einem Bier bequem … und spürte einen Juckreiz an der Haut, wischte mir über die tränenden Augen – und saugte erneut alles ab. Ich hätte etwas Langärmeliges anstatt des T-Shirts anziehen können, aber ich ließ mir nicht vom Kater vorschreiben, wie ich mich kleiden sollte.
Bierschlürfend scrollte ich am Handy durch die neuesten Facebook-Einträge und wartete auf meine Frau. Vielleicht brachte sie Schnitzel mit Rahmsoße und Tiefkühlpommes mit. Obwohl ich lieber Kroketten mochte.
Ich überlegte mir, was ich ihr sagen würde, sobald sie zurückkam. Dass ich wohl kurz eingenickt sein musste. Nein.
Dass ich Mr. Pepp nicht aus den Augen gelassen hätte, mir nur kurz ein Bier holen, nein, die Spülmaschine ausräumen wollte.
Dass die Katzenklappe noch nachschwang, als ich Mr. Pepp auf dem Katzenklo vermutete, und gerade dabei war, sie anzurufen.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch im Flur. Die Katzenklappe! Anja hatte sie direkt nach dem Einzug einbauen lassen, obwohl der Kater bis dato die vier Wände nie verlassen hatte. Sie meinte, Mr. Pepp sollte selbst entscheiden, wann er dazu bereit wäre.
Der Kater schlich zu mir ins Wohnzimmer und fing an, sich zu putzen. Er sah aus wie immer. Keine Spur von Kälte, Einsamkeit, Frust oder Enttäuschung. Geblieben waren Hochnäsigkeit und Arroganz.
„Wie kommst du denn hierhin?“, fragte ich Mr. Pepp.
Mr. Pepp antwortete nicht.
Ich legte mein Handy beiseite und holte wieder die Transportbox. Erstaunlicherweise betrat er sie sofort. Draußen im Winter musste es ihm gut gefallen haben.
Diesmal nahm ich den SUV. Ich trat das Gaspedal durch; Vierradantrieb – der Panzer würde mich sicher über die rutschigen Straßen bringen. Mir fiel der Wald ein, an dem wir während des Umzugs vorbeigefahren waren.
Einige Kreisverkehre und Abbiegungen und enge Kurven später erreichte ich ihn. Vor einem Fußweg, der zum Wald führte, parkte ich das Auto.
Mit der Box zog ich los. Es war kälter geworden, ich hätte mir Handschuhe anziehen sollen. Durch eine tunnelartige Bahnunterführung kam ich zum Waldrand und entschied mich für eine der Abzweigungen. Der Schnee knirschte unter meinen Sneakers, die Kälte drang durch den dünnen Stoff der Jogginghose. Ich hätte mir gefütterte Schuhe und eine dickere Hose anziehen sollen. Egal, in ein paar Minuten würde ich wieder eingekuschelt auf meiner Couch liegen.
Der Weg wurde zum Pfad, der Pfad zum schneebedeckten Dickicht. Ich drängte Äste beiseite, die mir den Weg versperrten oder mich beim Zurückschnellen ins Gesicht gepeitscht hätten. Mehrere gefällte Baumstämme überstieg ich, blickte mich mehrfach um, obwohl keine Menschenseele unterwegs war. Alles wirkte gleich. Gleich weiß, gleich still.
Als ich auf eine Lichtung stieß, hielt ich an, spähte umher. Im Sommer sicher ein idyllisches Örtchen. Der Weiher in der Mitte war zu einer anderen Jahreszeit wohl schlammreich, sumpfig, mit nistenden Wildenten im Schilf. Ideale Bedingungen.
Jetzt lag vor mir nicht mehr als ein mit dicker Eisschicht zugefrorener Ententeich. Da hätten auch schwere Äste oder Steine nicht ausgereicht, das Eis zu brechen, um zumindest ein kleines Loch hineinzubekommen.
Meter um Meter kämpfte ich mich durchs Gestrüpp. Zwischen dornigen Büschen setzte ich die Box ab, öffnete sie und ging etwas zurück. Ich wischte mir den Schnee von den Augenbrauen, strich mir übers Haar, hauchte mir in die Hände und rieb sie. Dann sah ich hinüber. Mr. Pepp war verschwunden. Seine Spuren endeten vor Sträuchern. Ade, Mr. Pepp, rief ich in die Kälte hinaus. Mr. Pepp antwortete nicht.
Je weiter ich umherirrte, desto mehr ähnelte sich alles. Ich versuchte, die Himmelsrichtung auszumachen, griff in meine Hosentasche und ärgerte mich. Mein Handy lag noch immer auf der Couch. Kreuz und quer verlor ich mich … und atmete dann erleichtert auf, als ich auf Lebenszeichen stieß: Fußspuren im Schnee. Intuitiv stellte ich einen Fuß in den Abdruck – und brüllte wütend. Dann kam mir die Idee, diesen, meinen eigenen Spuren, rückwärts zu folgen. Kurz darauf stand ich erneut vor den Gebüschen, wo ich den Kater seinem Schicksal überlassen hatte.
Ich rief nach Mr. Pepp. Mr. Pepp antwortete nicht.
Auf die Knie gestützt überlegte ich, atmete schwer aus, rieb mir die Hände, bewegte mich weiter. Die auf dem Boden liegenden Äste bemerkte ich erst, nachdem ich darauf getreten oder fast drüber gestolpert war. Glücklicherweise konnte ich mich auf den Beinen halten, rutschte weder aus, noch versank ich im Schnee. Das hätte mir noch gefehlt, mich wegen des Katers zu verletzen.
Die Bahnunterführung fand ich nicht.
Dafür aber wieder die Stelle, wo ich den Kater zuletzt gesehen hatte. Wieder rief ich nach Mr. Pepp.
Nach einer dreifachen Waldwanderung in weiten Schneckenkreisen entdeckte ich endlich einen Weg, der zu einer Straße führte. Raus hier aus dem tiefen, weißen, schweigenden Wald, dachte ich. Den SUV würde ich am nächsten Tag im Hellen finden, notfalls mithilfe eines ortskundigen Taxifahrers.
In den Straßen schützten keine dichten Bäume mehr vor dem Winter. Der Schnee war zu einem Schneesturm geworden, meine Finger zu dünnen, brüchigen Zweigen, mein lichtes Haar zu einem festgefrorenen Etwas auf einem kalten Schädel.
Die im Dunkeln kaum lesbaren Straßennamen auf den zugeschneiten Schildern sagten mir nichts. Ich erkannte auch kein Gebäude oder anderes Auffälliges wieder. Ich hatte das Gefühl für Zeit und Raum verloren.
Keinen einzigen Menschen konnte ich entdecken, den ich hätte fragen können. Warum auch? Schließlich war es Samstagabend in einem verlassenen Kaff, und ein Wetter, bei dem sich noch nicht mal der Kommandant der Nachtwache vor die Mauer gewagt hätte.
Wütend trat ich gegen eine Laterne. Gefrorenes Eis fiel herunter und landete auf meinen Kopf. Trotz der Schmerzen brach ich in ein hysterisches Lachen aus. In der Ferne stand tatsächlich eine Telefonzelle. Meine Rettung.
Ich eilte über die Straße, rutsche auf Eis aus und landete auf dem harten, kalten Boden. Mir gelang es, den Sturz mit den Händen abzufedern. Zu meinem Glück fuhren bei dem Wetter keine Autos, die mich bei vergeblichen Bremsversuchen mitgeschleift hätten. Mühsam stand ich auf und eierte über den glatten Boden bis zur Telefonzelle.
Die Tür klemmte oder war eingefroren. Ich zog am Griff und zog und zog – bis die Tür nachgab und ich erneut auf den Boden stürzte und mit meinen lädierten Händen erneut versuchte, den Fang abzufedern. Mit steifen Fingern tastete ich in der Hosentasche. Natürlich hatte ich kein Kleingeld bei mir, nur die Schlüssel! Wer steckt sich schon Geld in die Jogginghose? Ich trat aus der Telefonzelle, schmiss die Tür zu und sah dann erst meine Erlösung, das Schild, das über dem Telefon hing: Kein Geld, keine Karte, kein Handy? Hier telefonieren. 0800 0800 108. R-Gespräch. Da zahlt der Angerufene.
„R-Gespräch? Was ist denn los, Stefan?“
„Ich hab mein Handy vergessen.“
„Wo steckst du überhaupt? Ich mach mir langsam Sorgen! Der Krimi hat schon angefangen, dein Essen ist kalt.“
„Ich wollte nur …“
„Vor der Katzenklappe war es nass. Hast du den armen Mr. Pepp bei der Arschkälte etwa rausgelassen?“
Ich überlegte. Der Kater hatte es zurückgeschafft. Er hatte wahrscheinlich auch keine Rückenschmerzen, keine blauen Flecken, Beulen, blaue Lippen, oder angebrochene Gliedmaßen davongetragen.
Mein Kopf dröhnte, die Muskeln zitterten, ich atmete schneller als gewöhnlich, spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte. Ich hörte eine innere Stimme. War ich unterkühlt? War ich noch bei klaren Gedanken? Was sagte die fremde Stimme in mir? Sollte ich wirklich …?
„Ist ... ist Mr. Pepp in der Nähe?“
„Liegt neben mir. Wieso?“
„Weil, weil ...“, sprach ich bibbernd mit der fremden Stimme weiter. Von Schwindelgefühl befallen, lehnte ich mich an die Glastür. Nur keuchend konnte ich die Worte in den Hörer pressen: „Kannst du … kannst du Mr. Pepp bitte ans Telefon holen?“