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Frühschicht
Ich wusste schon lange, dass mein Leben weniger großartig verlief, als ich es mir erträumt hatte, doch als mich Emma rauswarf, verging mir das Lachen endgültig.
Ich sei impotent, meinte sie, jeder kleine Junge ficke besser als ich, und überhaupt sei ich der allerletzte Versager, ob ich da in letzter Zeit mal drüber nachgedacht habe, und ob ich glaubte, sie würde ihre besten Jahre mit einem Langeweiler verplempern wollen, sie sei schließlich keine zwanzig mehr, und wie lange sie sich dieses Trauerspiel noch antun solle und so weiter. Als wäre es meine Schuld, dass ich mein Gerät bei ihr nicht mehr hochkriegte. Wer hätte mit der Kuh auch schlafen wollen?
Es war weit nach Mitternacht, ich stand mit zwei Pappkartons und einem Koffer auf der Straße und ein eisiger Wind pfiff mir um die Ohren. Unter uns gesagt, ich hatte keine Ahnung, wo ich hin sollte. Kurz überlegte ich, bei Theo anzuläuten. Oder bei Matze. Aber allein die Vorstellung, was ich mir von den Witzbolden vermutlich anhören könnte, ließ mich mit den Zähnen knirschen. Auch nach einem Puffbesuch stand mir nicht der Sinn.
Kurzerhand beschloss ich, mich mit dem Wagen vors Werkstor zu stellen. Dort könnte ich in aller Ruhe Radio hören und ein bisschen nachdenken, dazu ein paar Kippen rauchen und darauf warten, dass meine Schicht anfing. Und um sechs dann in die Halle reinmarschieren, mit einem fröhlichen Liedchen auf den Lippen, und so tun, als wäre alles bestens, als wäre alles in Ordnung.
Als wäre auch nur irgendwas in Ordnung in meinem Leben. Dass mich mein kaputter Rücken bei der elendigen Schufterei halb umbrachte, darüber dachte ich schon gar nicht mehr nach. Ich solle mir bloß nicht einbilden, er bezahle mich fürs Herumstehen, hatte ich mir erst kürzlich vom Hormayer anhören müssen. Er ertappte mich im Waschraum, wo ich mit durchgedrücktem Kreuz Fratzen schnitt und nicht wusste, wie ich den nächsten Schritt bewerkstelligen sollte. Typen wie ich stünden Schlange vor seinem Büro, da solle ich mich nur ja keinen falschen Vorstellungen hingeben, um an der Metora zu arbeiten, brauche man bei Gott kein Genie zu sein, er hoffe, dass mir das klar sei. Und so weiter.
Keine Ahnung, wie lange ich diesen Job noch auf der Habenseite verbuchen konnte. Jetzt, da ich nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf hatte, stand es um meine Lebensbilanz wahrlich nicht zum Besten. Ich war noch keine sechzig und pfiff aus dem letzten Loch. So sah es in Wahrheit aus.
Und dann begann es auch noch zu regnen. Genaugenommen waren es winzige Eiskristalle, die mir der Wind waagrecht ins Gesicht peitschte. Eine Sache, die ich noch nie hatte ausstehen können, dieses elende Dreckswetter, diesen elenden Winter. Ich war eher der Schönwettertyp, weiß der Himmel, was ich in dieser Ecke der Welt verloren hatte. Sinnlos, darüber nachzudenken.
Ich sperrte den Wagen auf und warf meinen Krempel in den Kofferraum. Die zwei Dosen Bier, die erfreulicherweise da drin rumkugelten, holte ich raus und setzte mich hinters Steuer. Ich riss eine Dose auf, schaltete das Radio ein und steckte mir eine an. Kurzum, ich tat so, als wüsste ich, was ich tat, als hätte ich einen Plan. Der Plan sah als Nächstes vor, einen Sender zu finden, der die Nacht zumindest ein bisschen erträglicher gestaltete. Im besten Fall spielten sie ein paar alte Schnulzen von Frank Sinatra oder Billie Holiday, so was in der Art schwebte mir vor. Stattdessen geriet ich an eine Sendung, wo Hörer anrufen konnten. Einsame, Verlassene, Schlaflose, Verlierer, Verrückte. Leute, die derart bescheuert waren, dass sie einem Wildfremden den allerletzten Mist erzählten und dabei nicht kapierten, dass sie vom Moderator, einem arroganten Klugscheißer der Extraklasse, schlicht verarscht wurden. Eben als ich aus der Parklücke fuhr, erzählte einer, dass er gerade mit zwei Blondinen im Bett liege und die eine nach Strich und Faden in den Arsch pemperte, während die andere seinen Mordsständer im Mund habe, das ganze Ding, die gesamten fünfundzwanzig Zentimeter, ungelogen, und so weiter. Woraufhin der Moderator, ein Schlaumeier wie gesagt, nicht umhin konnte, ihn zu fragen, wie er sich das vorzustellen habe, was jetzt genau im Arsch der einen und was im Mund der anderen steckte, er besäße ja wohl kaum zwei, oder wie? Was den Typen gehörig aus dem Konzept brachte. „Fick dich selber, Arschloch“, nuschelte der Spinner noch und legte auf. Ich grinste vor mich hin – was konnte meiner Stimmung zuträglicher sein, als zu hören, dass es noch weit Beklopptere als mich gab? Ich fuhr also zur Fabrik, parkte neben Matzes Sattelschlepper und trank das zweite Bier. Da war es halb zwei.
Als ich aufwachte, war es kurz vor vier und mein Rücken endgültig im Eimer. Ich fror erbärmlich, aber ich wagte nicht, mich zu bewegen, ein glühender Schürhaken steckte mir im Kreuz, mir war schleierhaft, wie ich aus dem Wagen rauskommen sollte. Ächzend, fluchend langte ich zum Handschuhfach, in der Hoffnung, dort drin noch ein paar Megacetamol® zu finden, oder zumindest ein Aspirin, irgendwas. Im besten Fall einen Revolver.
Was ich fand, war die Flasche mit dem doppelt Gebrannten vom Höllererbauer, meine eiserne Reserve. Ein erster Lichtblick! Und dann entdeckte ich noch diese Zellophanhülle mit dem Bindfaden drum herum und ein paar minzgrünen Tabletten drin. Die hatte ich doch tatsächlich vergessen. Matze hatte mir die irgendwann geschenkt, keine Ahnung, was für Zeug das war, er jedenfalls schwor darauf. Ich schluckte ein paar von den Dingern und spülte mit dem Obstler tüchtig nach.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass die Windschutzscheibe zugeschneit war. Draußen herrschte tiefster Winter und im Wagen hatte es keine fünf Grad. Grund genug, mich zusammenzureißen und einen Besuch in der Kantine ins Auge zu fassen. Noch lebte ich. Immerhin. Und ein höllisch starker Espresso würde die Sache nicht verschlimmern, redete ich mir ein. Ich steckte noch zwei von den Pillen in den Mund, als Wegzehrung gewissermaßen für den Fußmarsch durch die Arktis, doch eben, als ich die Flasche ansetzte, ertönte ein Klopfen neben meinem linken Ohr. Beinahe verschluckte ich mich. Ich kurbelte das Fenster runter und blickte geradewegs in eine feixende Visage, in eine Visage mit einem dieser idiotischen Hipsterbärte.
„Andi? Bist du das wirklich? Pennst du da drin? Echt?“
Jürgen, mein neuer Partner an der Metora! Die Nervensäge hatte mir gerade noch gefehlt.
„Ist es jetzt so weit, hat dich deine Alte endgültig rausgeschmissen? Ich lach mich kaputt.“
„Ja, lach dich ruhig kaputt, du Komiker. Mal sehen, ob du in dreißig Jahren auch noch lachst.“
Er ging um den Wagen und öffnete die Beifahrertür. Der Wind fegte eine halbe Tonne Schnee herein und riss mir die Zigarette von den Lippen, ich sah zu, schleunigst mein Fenster hochzukriegen. Jürgen ließ sich in den Sitz fallen.
„Mach zu, du Idiot!"
Er schloss die Tür und schaute mich treuherzig an. „Toll, dass es endlich schneit, was?“
Der Typ war wirklich irre, ich fasste es nicht.
„Was treibst du hier überhaupt?", fragte ich ihn. Nicht, dass es mich interessiert hätte. „Spazierengehen? Falschparker aufschreiben?"
„Will mir die Stanze anschauen. Die hat gestern Macken gemacht, so komische Geräusche.“
„Um vier? Zwei Stunden vor Schichtbeginn? Soll das ein Witz sein?“
Das war wieder typisch für diesen Scheißkerl. Nicht genug damit, dass sie mir einen Grünschnabel vor die Nase setzten – einen Praktikanten, das musste man sich mal vorstellen – nein, der Heini glaubte auch noch, in seiner Freizeit an unserer Maschine herumdoktern zu müssen.
„Der Hormayer weiß Bescheid. Der findet das cool, dass ich mich drum kümmern will.“
„So so. Der findet das also cool.“
„Mann, ich mach’s halt, weil ich’s kann. Und ist ja zum Wohle der Firma.“
Ich setzte die Flasche an und trank, bis es mir die Tränen aus den Augen trieb. Jürgen bot ich die Flasche nicht an. Stattdessen nahm ich noch eine von Matzes Tabletten.
„Zum Wohle der Firma? Sag mal, hörst du dir eigentlich zu? … Schon mal was von Arbeitszeitregelung gehört, Arschloch?“
„Was?“
„Solidarität, Zusammenhalt unter Arbeitern, Proletarier aller Länder und so weiter. Alles Larifari für dich?“
„Na ja, ich denke halt an meine Zukunft.“
Er dachte also an seine Zukunft. Sehr vernünftig, rechtbesehen, ein wahrlich schlaues Kerlchen. Ich hätte kotzen können. Genau solchen Strebern war es zu verdanken, dass die Stückzahlvorgaben alle paar Wochen hochgeschraubt wurden. Oder dass von einem Tag zum anderen drei Männer die Arbeit von vorher vier schaffen mussten. Erst vor drei Monaten hatten sie Theo nach Hause geschickt, Walter wenige Wochen später. Was einen wie Jürgen nicht weiter juckte, weil er nach seinem Praktikum in der Fertigung in null komma nix eine Etage höher sitzen würde. Um dort dann mit sauberen Händen und einem Leuchten in den Augen den Bossen an den Lippen zu hängen, wenn sie das Hohelied von Rentabilität und Rationalisierung und Automatisierung und Gewinnoptimierung anstimmten. Amen. Während Leute wie ich sich nächtens im Bett dabei ertappten, an den Fingernägeln zu kauen oder sich in die Faust zu beißen, um nicht zu schreien. Während die Heerschar der Verlierer, der Schlaflosen, der Verrückten immer größer wurde. Ich nahm noch einen Schluck.
„Hast du den Theo noch gekannt?“
„Theo? ... Nö, nicht dass ich wüsste.“
„Den Walter?“
„Weiß nicht. Glaub nicht.“
„Schon mal in der Nacht hochgeschreckt, weil du so laut mit den Zähnen geklappert hast?“
„Was?“
„Vergiss es.“ Ich wusste nichts mehr zu sagen. Jürgen offenbar auch nicht.
„Na ja, ich muss dann langsam los. Die Pflicht ruft.“
„Ich wünsch dir eine großartige Zukunft, Arschloch.“
„Mensch, Andi, du kannst mich wirklich nicht leiden, was?“
Erwartete er sich eine Antwort? Ich blickte ihn nicht einmal an, sondern widmete mich wieder der Flasche. Doch eben, als ich sie zum Mund heben wollte, fuhr mir ein Schmerz durch die Lendenwirbel, quer hindurch, ein greller Blitzstrahl. Schlimmer als je zuvor. Mir blieb die Luft weg. Das war’s, dachte ich, Spielabbruch, Ende. Der Schmerz brachte mich fast um und der verfluchte grüne Schnee auf der Scheibe machte die Sache nicht besser. Wie erstickt fühlte ich mich, wie unter Wasser, alles wirkte schemenhaft, alles schien sich zu drehen. Mir war kotzübel, der Scheißwagen, die ganze Scheißwelt drehte sich, mir fehlte völlig der Durchblick. Ich schaltete die Scheibenwischer ein. Mühsam kratzten sie den Schnee vom Glas.
„Alles in Ordnung mit dir?“ Das sagte er nicht, das säuselte er. Dieser Speichellecker.
„Verzieh dich.“
„Bist du dir sicher?“
„Meine Schicht beginnt um sechs!“, brüllte ich.
„Na ja, du musst es wissen.“ Jürgen öffnete die Tür. Ich leerte die Flasche und schleuderte sie an Jürgen vorbei auf den Parkplatz. Sanft landete sie im Schnee, mit einem leisen Pfft, nicht lauter als das Seufzen einer Spitzmaus. Auch das noch. Ich hätte sie ihm an den Schädel schmettern müssen, ich Idiot. Meine Hände verkrampften sich ums Lenkrad. Mir tropfte eiskalter Schweiß von der Stirn.
„Bis dann, Andi.“ Er schickte sich an, auszusteigen. Ich stand im Begriff, das Lenkrad auszureißen.
„Eine Kleinigkeit noch, Jürgen …“, mir kam’s hoch, ich würgte an saurem Schleim, ich schluckte ihn runter, „im Kofferraum … da hab ich eine Decke … kannst mir die noch holen?“
Jürgen grinste mich an und nickte. „Klar, Andi, mach ich. Bist ja mein Kollege, oder?“ Er stieg aus. Sein gönnerhaftes Grinsen hatte mir endgültig den Rest gegeben. Und dieser lächerliche Bart! Ich beugte mich vor und übergab mich in den Fußraum.
Als Jürgen den Kofferraumdeckel wieder zuwarf, hatte ich längst den Motor gestartet und den Retourgang drin. Ein beherzter Tritt aufs Gaspedal und schon sah ich Jürgen im rötlichen Schein der Rücklichter mit den Armen rudern und rücklings zu Boden gehen. Der Wagen machte einen Rumpler und dann noch einen und dann tauchte Jürgen wieder auf, festlich angestrahlt von den Frontscheinwerfern. Ein zuckendes Bündel im Schnee. Dieser Scheißkerl. Konnte genauso gut ein Reh sein. Oder eine Wildsau. Ich setzte weiter zurück, gute fünfzehn Meter, haute den Ersten rein und drückte auf die Hupe. Und mit vollem Karacho drüber. Das machte ich zwei-, dreimal, vor und zurück, ich war wie von Sinnen, ich fühlte mich großartig. Irgendwann ließ ich es gut sein und kurvte vom Parkplatz raus auf die Landstraße, Richtung Autobahn.
Unter uns gesagt, ich hatte keine Ahnung, wo ich hin wollte. Auf jeden Fall würde ich mich für ein paar Tage krankmelden, so viel stand fest.
Sofern ich nicht vorher gegen einen Brückenpfeiler raste. Oder in den Stausee.