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Frühmorgens im Plenterwald
Ich gehe mit Ursina und unserem Spaniel hinaus auf den Ochsenboden. Wir wollen Hasen und Rehe beobachten, die dort frühmorgens äsen, bevor die ersten Spaziergänger getrampelt kommen und sie vertreiben.
Wir gehen durch den Plenterwald. Beidseits des Weges stehen Tannen, wuchern Weißwurzen und Farnwedel. Heute Morgen hat es zwei Stunden geregnet. An den Tannenreisern hängen noch die Regentropfen. Der Boden ist nass und die Luft feucht. Dem Wegrand entlang sickert Wasser aus dem Erdreich, sammelt sich im Weggraben, rinnt durch Schlick und Sand.
Ich bleibe stehen. Vor meinen Füssen regt sich ein kleines, schwarzes Tier. Neugierig bücke ich mich und schaue genauer hin. Es ist ein Salamander. Er kraxelt aus dem Graben, verharrt und äugt, als hätte er alle Zeit der Welt, bevor er sich anschickt, den Weg zu queren. Seltsam, denke ich, während ich ihn beobachte. Er sieht mich, ich könnte ihn zertreten, er fürchtet sich aber nicht.
«He, kleiner Lurch», rufe ich ihm zu, und möchte noch sagen, wie erstaunt ich bin, da surrt ein fingergrosses, schimmerndes Ding an meinem Kopf vorbei. Erschrocken springe ich zur Seite.
«Was war das?»
Ursina lacht.
«Ursina, hast du gesehen, was das war?»
Statt dass sie antwortet, wendet sie sich an Fizi. Fizi hat bemerkt, dass mich etwas erschreckt hat. Er verkennt jedoch die Lage und stellt sich dem Salamander in den Weg, fletscht die Lefzen, bellt und knurrt ihn an.
Ursina: «Wizi Fizi, sei still! Der kleine Dino ist unschuldig.»
Während Ursina noch unseren braven Freund schilt, spähe ich den Weg entlang. Ich gucke, wohin das sirrende Ding geflogen ist. Ich horche. Wäre es noch nahe oder käme es gar zurück, müsste ich es hören können. – Nichts, es ist weg.
Noch einmal will ich Ursina fragen, ob sie das Ding erkennen konnte. Statt dass ich sie frage, stutze ich über Fizi. Noch immer belfert er den Salamander an, weicht jedoch zurück, weil jener furchtlos vorwärts, langsam immer weiter und geradewegs auf ihn zu stapft.
«Fizi, still jetzt, kusch!» heiße ich ihn. «Komm her!»
Sofort lässt er den Salamander ziehen und hechelt herbei.
«So ist’s recht», lobe ich ihn und streichle ihm das Fell. «Braver Hund, guter Hund, ein richtiger Jagdhund bist du, gell!? Wir zwei sind ein starkes Team.» Ich halte kurz inne und füge dann noch hinzu: «Wer’s bestreitet, muss ein verstockter Mensch sein.»
Ich gucke zu Ursina hinüber. Sie verdreht die Augen.
Plötzlich höre ich das Surren wieder. Es wird lauter.
«Obacht», rufe ich, «es kommt zurück.»
Dieses Mal surrt es seitlich des Weges, zwischen den Tannen durch. Einen einzigen, knappen Augenblick lang kann ich sehen, wie es zwischen zwei Stämmen grünlich schwarz und gelb gestreift, und mit bläulich flirrenden Flügeln aufleuchtet, bevor es im Wald entschwindet.
«Ursina, hast du gesehen!?», rufe ich. «Eine Libelle, und zwar eine richtig große!»
Wir gehen weiter.
Plaudernd bummeln wir an rot behangenen Ebereschen und Berberitzen vorbei, riechen den Schachtelhalm, der talwärts am Wegrain spriesst, lassen die Blicke schweifen und hören die Rufe der Baumpieper und Zilpzalpe.
«In zwei Wochen ist übrigens Prüfung», sage ich und verweise mit dem Kinn auf Fizi.
«Nein?»
«Doch, das geht jetzt fix. Vorstehen, Apportieren, Wasserarbeit – alles, was ein Jagdhund können muss, und zwar in Tegernau. Ich meine, die Prüfung ist in Tegernau.»
«Er ist noch so jung.»
«Er ist zwölf Monate alt. Es zahlt sich eben aus, dass ich ihn nie verwöhnt habe. Nichts von wegen: Jö, so ein süsses Hündchen!»
Ich pfeife auf zwei Fingern und sehe befriedigt, wie Fizi sogleich angerannt kommt.
«Siehst du, wie er folgt? – So muss das sein. Das ist nicht wie bei diesen Freizeithündelern.»
Ursina wechselt das Thema. Sie bedauert, dass sie kein Gefäss dabei habe, um die Beeren der Berberitzen zu sammeln. Mich zwickt das Gewissen. Habe ich zu dick aufgetragen? Sie mag es nicht, wenn ich auftrumpfe. Andererseits müsste sie doch zugeben können, dass ich innert kürzester Zeit aus einem fiependen und winselnden Welpen einen Eins-A-Vorsteherhund herangezogen habe.
Wir gehen weiter.
Am Waldrand breitet sich die Ochsenweide aus. Bewirtschaftet wird diese historische Tankstelle heutzutage mit Schafen, insofern mit ihnen keine Alp bestossen wird. Ochsen sieht man hier also keine mehr. Wie zu Gotthelffs Zeiten eröffnet sich unserem Auge jedoch eine Magerwiesen- und Heckenlandschaft, die zu besuchen sich jederzeit lohnt.
Vor drei Jahren erneuerten Freiwillige der IG-ProNatura die Trockenmauern, die nun unseren Weg säumen. Die Eidechsen, die sich auf den Mauersteinen sonnen, freute es. Zweijährlich reuten hiesige Schüler und Lehrer dem Waldrand entlang Erlensträucher. Auch junge Birken und Fichten reissen sie aus. Ihr Arbeitseinsatz bewahrt Kulturland, das sonst verganden würde. Gleichzeitig lernen sie, dass die Allmende kein Privateigentum sondern Gemeingut einer Gemeinschaft ist, der sie selber angehören. Der Plenterwald und die Ochsenweide zählen nämlich zur Allmende.
Liebend gerne würde ich Ursina sagen, was mir gerade durch den Kopf geht. Aber das würde sie noch mehr verärgern. Sicher ist es besser, wenn ich warte, bis sie ihren Unmut verdaut hat. Zwar könnte ich versuchen, sie zu erheitern. Doch Scherzen würde auch nichts helfen. Dafür sind wir schon zu lange verheiratet. Ich weiß, dass sie die Absicht hinter dem Ganzen erkennen würde, und ich weiß auch, was sie dann sagen würde. Sie würde sagen: Deine Witze sind wie ein Stück Erdbeertorte mit einer toten Fliege drin.
Wir gehen weiter.
Vor dem Waldrand steht der Überrest einer Tanne, die von einem Blitz getroffen wurde. Ein Specht, den wir zwar hören, aber nicht sehen können, hämmert den Stamm. Es muss ein Bunt- oder Schwarzspecht sein. Die kleineren Spechtmeisen klopfen feiner.
Im Frühjahr war ich schon einmal hier, um Schneehasen zu fangen. Nichts einfacher, als Schneehasen fangen. Man braucht hierzu ein Laken, mehr nicht. Damit habe ich folgendes gemacht: Ich breitete es auf der Wiese aus und lief dann eine Weile herum. Wenn ich an einen Busch kam, schlug ich mit einem Stecken drauf. Die Hasen sprangen heraus und zu dem Laken hin. Als ich zurückkam, kauerten fünf Schneehasen drauf. Ihrer Natur gemäß hielten sie still. Das tun sie, weil das Laken schneeweiß ist und weil sie meinen, man könne sie darauf nicht sehen. So sind sie eben und so harrten sie auch dann noch aus, als ich die Eckzipfel des Lakens hochhob und über ihnen verknotete, womit sie gefangen waren.
Wir gehen weiter.
Noch immer gehen wir stillschweigend vor uns hin. Fizi flitzt mal links, mal rechts den Weg lang. Im Wald schreit ein Fuchs. Mein baldiger Jagdhund zeigt an: Auf drei Beinen, ein Vorderpfote angehoben, bleibt er stehen und horcht.
Doch dann geschieht es. Fizi eilt uns voraus. Um zehn Schritte entfernt liegen große Steinhaufen, die teils unter Bäumen und Büschen liegen. Er stöbert am nächstliegenden Haufen entlang und scheucht zwei Häher auf. Schimpfend fliegen sie in einen Eschenwipfel hinauf und vollführen dort ihr Spektakel. Aufgeregt flattern sie in der Baumkrone umher, rätschen hohnlachend auf uns herab, feixen und kreischen hämisch wie es nur Häher können, lärmen, keifen und keckern, sodass jeder Vogel, jedes Reh und jeder Hase es hören kann. Spotten nennt der Vogelkundler dieses Verhalten. Die Häher weissen damit auf Eindringlinge und Beutegreifer hin. Spotten? – Wie sie uns schmähen, tönt wirklich spöttisch. Es tönt wie: «Schaut her, schaut alle her! Da kommen sie, diese Grünschnäbel! Da, da unten. Anschleichen wollten sie uns. Aber hört: Nichtskönner, wir sehen euch! Eingebildeter Gockel und mit einer doofen Schnepfe, Spatzenhirne, wir sehen euch! Jawohl, wir sehen euch! Dreckseule, Arschkakadu, Entenficker, Hupfdohle, wir sehen euch!»
Ich pfeife Fizi zurück und bin versucht, einen Stein nach den Hähern zu werfen. Sollen sie doch ruhig sein, Himmel Herrgott! Wir sind gekommen, um Rehe und Hasen zu beobachten. Aber dieses Unterfangen ist nun vereitelt worden. Haben uns ausgerechnet die lautesten und schlimmsten Vögel im ganzen Wald entdeckt. Aber ja doch, ich kann euch hören! Zetermordio, und Fizi hat versagt! Wenn er in Tegernau dasselbe macht, dann, das weiß ich jetzt schon, dann wird auch Ursina spötteln.
Ich gucke über die Ochsenboden hin, sehe Berberitzen, den abgestorbenen Stamm der Wettertanne, Erlen und Eschen, unten im Talgrund Auen und über Bergkämme herein strahlt die Morgensonne. Das Wetter hält ein, was Kachelmann versprach. Es wird warm und sonnig. In meinem Kopf aber wälze ich dunkel dumpfen Unmut und frostige Sorgen. Ist nicht mein Tag heute. Wenn doch wenigstens Ursina wieder mit mir reden würde!
Wir gehen weiter.
«Wahrscheinlich eine Quelljungfer», erklärt Ursina plötzlich, ohne dass ich etwas gefragt hätte.
«Eine Quelljungfer?»
«Die jagen auch abseits von Tümpeln und Weihern.»
«Ach so, die Libelle! – Ja, die jagen auch. Das kannst du laut sagen. Fast hätte sie mir ein Ohr abgejagt.»
Ursina legt den Kopf schief, guckt mich keck an, bleckt die Zähne und macht Anstalten, als würde sie etwas abbeissen. Zweimal klacken ihre Zahnreihen aufeinander.
«Bist eben ein Süßer», raunt sie.
Ich reisse die Augen auf. Wie, ist sie denn nicht böse auf mich? Ich bin verwirrt. Im Wald schreit erneut der Fuchs. Habe ich mir ihren Ärger vielleicht nur eingebildet? Wie leicht man sich doch irren kann.