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Frühling und Winter

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28.11.2018
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Frühling und Winter

"Und? Können wir?" Maya blickte verträumt in den roten Himmel, weit über ihren Köpfen.
"Mh", machte Eris, während er auf den Fluss starrte, weit unter ihren baumelnden Füßen. In seinen Augenwinkeln verzog Maya das Gesicht, schnell sagte er noch:
"Aber vielleicht werden wir ja noch gebraucht?"
"Was soll das jetzt wieder?" Mayas schaffte es immer trotz schlaffer Mine, vorwurfsvoll zu wirken.
"Sieh mich nicht so an!"
"Wie denn?"
Im Abendlicht wirkten Mayas müde Augen wie Bernsteine, die große Schwarze Löcher in sich trugen.
"Man sollte gut darüber nachdenken", sagte Eris nach einer Weile. "Man kann es ja nicht rückgängig machen."
"Kann man nie. Soll man ja auch gar nicht. Einfach einen Ruck geben und springen."
"Und wenn wir noch nicht fertig sind auf dieser Welt?"
"Ich will nicht so weitermachen. Es da draußen zu versuchen, macht keinen Spaß mehr. Deswegen sitzen wir schon wieder hier. Genau wie gestern. Und davor. Jedes Mal kommen wir hierher, nur um zu springen. Und trotzdem bin ich am liebsten hier."
"Mh." Eris kniff die Augen zusammen und starrte wieder zwischen seine Füße.
Genau über ihre Köpfe hinweg schnatterte eine Entenfamilie fröhlich gen Süden.
"Denen scheint das alles hier unten nichts auszumachen." Mit einem Schnaufen sah Maya den Vögeln hinterher.
"Die fliegen einfach in ihr warmes Haus und lassen uns alleine in der Kälte sitzen."
"Weil sie uns nicht verstehen."
"Ja, weil sie zu weit oben sind."
"Nein, weil sie nicht wollen."
"Sie sehen uns nur nicht", wollte Eris erwidern, aber stattdessen starrte er wieder an seinen Füßen vorbei. Maya hatte ja doch recht.
Irgendwann läutete ein ferner Glockenturm eine weitere Stunde ein. Hoch über den Dächern war der Lärm der Welt nur ein entferntes Rauschen, irgendwo auf der anderen Seite.
"Weißt du noch die alte Frau, die immer am Bahnhof an der Ecke saß?" Maya neigte leicht den Kopf in Eris' Richtung und starrte an einen Ort, der hier nicht existierte.
"Mh."
"Wie hieß sie noch?"
"Keine Ahnung, was spielt ihr Name für eine Rolle?"
"Weißt du noch, wie sie uns von der Nacht auf dem Rummel erzählt hat?"
"Mh."
"Und weißt du noch, das Foto, das sie uns gezeigt hat? Wie schön sie gewesen ist in ihrem roten Kleid?"
"Mh."
"Und weißt du noch, wie sie uns von der Reise mit ihren Freunden erzählt hat? Wie viel Spaß sie gehabt hatte?"
"Mh."
"Sie war so ein glückliches Mädchen. Und dann war sie nur noch die alte Bettlerin an der Ecke."
"Mh."
"Und jetzt ist sie fort. Verhungert oder erfroren, weil keiner hingesehen hat. Und niemanden interessiert es."
"Vielleicht ist das ja unsere Aufgabe. Irgendjemand muss sich ja an sie erinnern."
Am Horizont drohte der rote Ball zwischen zwei grauen Türmen in die Flussbiegung zu krachen.
"Und warum sollte sich jemand für uns interessieren?"
"Mh."
"Und warum sollten wir weitermachen? Um auch so zu enden?" Maya rutschte hin und her, während sie das Ende des Himmels beobachtete.
"Mh."
"Und ..."
"Hör auf! Ist es denn nur das Ende, das dich interessiert?" Das Echo seiner Stimme hallte nachdrücklich vom Fluss zurück und dieses Mal wich Maya seinem Blick aus.
"Wenn ich nach da draußen sehe, kann ich nur an das Ende denken. Wie weit sind wir denn noch von der alten Frau entfernt?"
"Ungefähr ein ganzes Leben? Das Ende ist doch immer gleich. Du musst dich nur darum kümmern, womit du die Lücke zwischen jetzt und dann füllst."
"Und wenn ich am Ende nur hier oben gesessen habe?"
"Dann wirst du auch gelebt haben." Eris sah wieder an seinen Füßen vorbei, auf das wandernde Wasser.
"Glaubst du, die Enten wissen, dass sie gelebt haben?"
"Wenn sie Glück haben, müssen sie nie darüber nachdenken."
Die letzten Sonnenstrahlen versanken in ihren riesigen Pupillen, während sich die Stadtlichter zu ihrer nächtlichen Versammlung trafen.
"Ich will nicht noch so einen Winter mitmachen." Die erste Schneeflocke landete auf Mayas Nasenspitze und forderte ein Bibbern. "Kann es denn nicht immer warm sein?"
"Nein. Nach dem Winter kommt immer der Frühling und dann irgendwann wieder der Winter. Die Natur hat sich darauf eingestellt und das schaffst du auch. Sogar die Bäume machen jeden Winter mit."
"Aber nur, weil sie nicht springen können!"
"Nein, können sie nicht. Und deswegen blühen sie jeden Frühling wieder auf."
Unten nickten die Bäume ihre Zustimmung und warfen ihr buntes Laub in den Wind.
"Das wird ein langer Winter."
"Mh."

 
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Hallo!

@Friedrichard
Danke für das schöne, passende Zitat.

herzlich willkommen hierorts und ein gutes neues Jahr
Ich danke!
wobei Dir überlassen bleiben muss, was Dir „gut“ bedeute
Ist es gut, kann's Bös' bedeuten,
Müßiggang und Traumgeflecht,
den Gang hinab einläuten.
Drum: sei's schlecht, ist's recht.
der Name Eris‘ bedeutet Zwietracht, Maya (die im Mai weiterlebt) ist der Frühling,
Gut beobachtet, ich glaube sonst hat niemand einen genaueren Blick auf die Namen geworfen! Was allerdings womöglich auch gut so ist, denn tatsächlich habe ich mich nach langer Überlegung gegen eine Anpassung der Namen an den Inhalt der Geschichte entschieden. Den Namen wurde von mir keine tiefere Bedeutung zugewiesen. Daraus ergibt sich natürlich das Problem, dass der Leser dies sehr wohl in Betracht ziehen und daraufhin etwas verwirrt sein könnte oder anhand dessen auf eine falsche Fährte gelockt wird. Ich denke, dass der durchschnittliche Leser da gar nicht so genau hinschauen wird. Unabhängig davon bleibt es natürlich ein Kernelement des Textes, ich werde in Betracht ziehen die Namen zu ändern. (Wobei es ja schwer fallen wird, Namen zu finden, denen keine Bedeutung zugewiesen werden kann.)


Ich versteh schon, dass Du die „als (ob)“ Passage im Konj. I, als indirekte Rede markierst. Tatsächlich ist es aber keine reale Aussage, denn Maya tut ja nur so, als ob, dass mir sogar der Konjunktiv irrealis („als wollte sie ...“) angemessen erscheint
Das ist äußerst lehrreich. Der erste Satz wird in der nahen Zukunft sowieso noch gemordet, ich werde mir Deinen Einwand dabei zu Rate ziehen.
Wie spricht man das „h“ aus?
Hm. Mhh. Also das verwirrt mich ein wenig. Ich denke nur ein Sprachwissenschaftler könnte sich hier wirklich über den phonetischen Charakter dieses "h"s im Unklaren sein.
Es ist schlichtweg so, dass ein einzelnes "M" schrecklich aussieht, den Leser irritieren könnte, ein "Mmm" würde in eine falsche Richtung führen, ein "Hm" ist mehr Zweifel als Zustimmung bzw. Abhandlung des Gesagten und im Gegensatz dazu ist ein "Mhm" zu sehr Zustimmung. Einen neutralen, phlegmatisch angehauchten Ausdruck habe ich gesucht. Also erschien mir ein "Mh" als inhaltlich am besten passend.
Sitzt E. breitbeinig (wie der Krieger aus dem Film Kagemusha, der Schatten des Kriegers)
Danke für die Filmempfehlung.
Ich werde daraus ein "Starrte wieder an seinen Füßen vorbei" o.Ä. machen
Wie die Auslassungspunkte da stehen, behaupten sie, es fehle zumindest ein Buchstabe am vorhergehenden Wort, da wäre die Ästhetik des Apostrophs rationeller - aber jeder Buchstabe an einem „und“ wirkt merkwürdig …
Jap. Danke für diese Offenbarung, ist notiert.

Die Kommas sind auch schon eingesetzt. Danke für Deine Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge, ich finde Deine Kommentare (fast) immer sehr lehrreich, nur dann nicht, wenn ich nicht gänzlich in die vergoldeten Fugen Deines poetischen Wortgeflechtes steige, doch in diesem Falle wurde es mir ja einfach gehalten. Schön, dass es Dir gefallen hat, Dein Kommentar wurde ebenfalls gerne gelesen!


MfG Putrid Palace

 

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