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Fluch der Schönheit
Es ist noch früh. Sie steht mit verschränkten Armen und hochgeschlagenem Kragen am Bahnsteigrand und schaut auf die stillen Schrebergärten hinunter. Die Schläfrigkeit macht ihr Gesicht sinnlich – es wirkt, als würde sie permanent genießen. Unter der Mütze quellen ihre braunen Haare mit dem Goldschimmer hervor. Es umgibt sie eine Aura aus Unnahbarkeit, mächtig wie ein schwarzes Loch. Sie heißt Helena, ich sehe sie öfter hier.
Plötzlich kommt ein Mann die Treppe heraufgehastet.
„He!“ ruft er und winkt. „He, hallo!“ Sie wirft ihm einen Blick zu, sieht sich um, entdeckt sonst aber niemanden. „Guten Morgen!“ strahlt er und steht jetzt vor ihr. Er sieht verknittert aus, so als wäre er gerade erst aufgestanden.
„Äh, Morgen…“
„Du bist ja schon los, hättest ja wenigstens noch tschüss sagen können. Wie fandst du’s denn? Gott, du bist morgens so schön! Sonst natürlich auch, aber dann besonders… Also, hat’s dir gefallen?“ Sie ist etwas zurückgewichen und sieht verwirrt aus.
„Äh, was denn gefallen? Ich-“
„Na der Nachmittag. Der Abend. Die Nacht …“ Er hebt anzüglich die Brauen. Sie sieht sich unsicher um und weicht weiter zurück. „Wie geht’s denn deinem Knie inzwischen?“
„Meinem Knie?“
„Sah ja schon nicht ganz ohne aus, der Sturz. Bloß gut, dass ich ein Kühlkissen dabeihatte, was?“ Sie macht den Mund auf und schließt ihn wieder. Er runzelt die Stirn. „Was ist denn mit dir?“
„Ich … Ich weiß nicht, wovon Sie da reden, ich kenne Sie nicht!“ Ein Schatten erscheint auf seinem Gesicht, und Helena weicht noch weiter zurück – in meine Richtung. Ein Ring aus süßem Schmerz legt sich um meine Brust, doch noch ist es auszuhalten. Die Hand des Mannes bewegt sich in seiner Tasche, und er lächelt erneut.
„Jedenfalls wollte ich dir noch das hier geben.“ Er streckt ihr ein kleines Marzipanschwein entgegen. „Du weißt schon“, sagt er fast schüchtern, „Für deine Präsentation heute. Ein kleiner Glücksbringer.“ Helena starrt ihn nur an. Er wirkt irritiert.
„Du magst doch Marzipan, hast du gesagt. Ich hab’s besorgt, als ich gesagt hab, ich hätte meine Handschuhe vergessen. Du hast es nicht gemerkt, oder?“ Er grinst, sie rührt sich nicht.
Ein kalter Windstoß fährt über den Bahnsteig, und etwas verschiebt sich zwischen ihnen. Die Augen des Mannes verdunkeln sich, die Mundwinkel sinken herab, das Gesicht erschlafft, bis es alt und wie gemeißelt wirkt. Helena klammert sich an die Riemen ihrer Tasche, kreuzt dabei die Arme vor dem Körper, in ihren Augen zeigt sich Angst.
„Du willst das Schwein nicht“, sagt er leise. Sie setzt zum Sprechen an, doch da zieht er seine Hand zurück. „Du willst das Schwein nicht?“ Er betrachtet es, als wäre es eine Kristallkugel.
„Also, ich-“, lenkt sie ein, doch ruckartig fährt sein Kopf hoch und er starrt sie an.
„Nein.“ Seine Hand schließt sich um das Marzipanschwein. „Du willst das Schwein nicht!“
Es geht schnell. Er schlägt zu, schlägt ihr die Faust mit dem Marzipanschwein ins Gesicht. Sie gibt einen erschrockenen Laut von sich, stürzt. Ich halte den Atem an, spüre mit ihr den dumpfen Schmerz am Steiß und dann den im Ellenbogen, hell und kreischend. Gleichzeitig kribbelt es in mir und dieser Laut hallt in meinen Ohren nach. Der Mann schaut zwischen dem zerquetschten Marzipanschwein und Helenas entsetztem Gesicht hin und her. Er blinzelt, so als hätte er etwas verpasst und würde versuchen, wieder Anschluss zu finden. Plötzlich laufen ihm Tränen übers Gesicht, er schluchzt auf und eilt davon, die Treppe hinunter.
Es ist falsch, wie Helena da am Boden liegt, eine gestrandete Meerjungfrau, und ich will ihr helfen. Ich atme tief durch und trete hinter der Säule hervor, bevor ich es mir anders überlegen kann. Das schwarze Loch erfasst mich und zerrt an mir wie ein Orkan. Ihre schreckgeweiteten Augen fixieren mich – als würde ein Drache Feuer auf mich speien. Es fühlt sich an, als würden meine Haare, die Brauen und die Wimpern weggesengt. Ich reiche ihr meine Hand und ziehe sie hoch. Sie ist so leicht.
„Na, das wird ja langsam zur Gewohnheit, dass ich dir aus der Patsche helfe, was, Helena?“ versuche ich brüchig zu scherzen, während ich mit einem Taschentuch das dunkelrote Blut auf ihrer Oberlippe abzutupfen beginne.
„Was?“ Sie unterbricht mich, indem sie es mir aus der Hand nimmt und zwei Schritte rückwärts geht. „Wer sind Sie? Ich heiße nicht Helena. Wo kommen Sie überhaupt auf einmal her?“
Dieses unverhohlene Misstrauen – was soll das? Als ob ich ein Fremder wäre! Nach allem, was wir erlebt haben, was ich für sie durchgemacht habe. Hat sie das etwa vergessen?
Ich werde zornig.