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- 04.03.2018
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Flämmchen und Branko
Drei Tage noch. Luzia klatschte vor Freude in die Hände. Schnell pustete sie die Flammen auf den Handflächen aus, aber es war zu spät. Rauchschwaden stiegen hoch zur Decke, wo sie an den dunklen Balken entlangwanderten. Luzia riss die Tür auf, dennoch zogen einige Wölkchen durch das Treppenloch ins Obergeschoss.
Bange Sekunden verstrichen, bevor sie Gerumpel und ein Grunzen hörte.
»Luzia!«, dröhnte Zacharias Stimme von oben. Zacharias rief sie nie Flämmchen. Das hatten nur Gerti und Anton getan.
Die Kammertür quietschte in den Angeln, dann hörte sie das Schlurfen der Pantoffeln. Bei jedem Schritt nach unten knarzte die alte Holztreppe.
»Luzia, hast du wieder …?«, polterte er los. Zacharias' Augenbrauen waren weiß wie eine Schneewechte. Darunter funkelten seine Augen, in die das Leben nur zurückkam, wenn er wütend war.
Sie senkte den Blick und schüttelte den Kopf. Die Hände hatte sie hinter dem Rücken verschränkt, damit sie nicht aus Versehen etwas taten, was sie nicht durften. Einen Moment lang stand sie reglos da, dann schniefte sie die Träne unter der Nase weg und nickte. Zacharias war zum Glück nie lange böse. Sein Groll verrauchte, sobald die Augenbrauen sich wieder hoben. Dennoch konnte sie ihm nicht in die Augen schauen.
»Zeig mir die Hände«, sagte der Großvater.
Luzia hielt ihm die Handflächen hin, sie waren schwarz. Sie wusste, was sie zu tun hatte, hob die Hände zu den Schläfen und zog sie über die Wangen bis zum Kinn. Erst heute Abend durfte sie den Ruß abwaschen, bis dahin würde sie aussehen wie eine Kaminfegerin. Bis auf den Spiegel in ihrer Kammer würde es niemand zu sehen bekommen. Dort war sie alleine, seit Anton nicht mehr neben ihr schlief.
Grummelnd ging Zacharias zum Verschlag, zog Stiefel und Woll-Joppe an und trat aus dem Haus. Von draußen leuchtete kurz die Wintersonne in die Stube, dann schlug die Tür zu. Luzia wusste, er würde jetzt zum neuen Stall gehen, an dem roten Lärchenholz riechen und dabei an Gerti und Anton denken.
In Luzias Erinnerung hingen zwei Bilder. Sie hingen fest an ihrem Platz wie zwei Rahmen an der Wand. Den Anton sah sie mit dem Schnitzmesser in der schmalen Hand, wie er einfache Vögelchen schnitzte, auf die Späne zeigte und dann sagte: 'Zünd sie an, Flämmchen.'
Er konnte sich nicht sattsehen an dem Feuer, das aus ihren Händen loderte. Manchmal dachte sie, das wäre der eigentliche Grund, warum der Anton so viel schnitzte, denn niemand brauchte jemals so viele Holzvögel.
Gerti sah sie stets in der Küche stehen, zwischen dem mit Mehl bestäubten Tisch und dem weißen Herd aus Emaille. Sie drückte die große Schüssel an ihren Busen und knetete mit kräftiger Hand darin. Dabei lachte sie, als wäre das alles ein Klacks. Gerti roch nach Zimtsternen und frischem Sahnequark. Niemand sonst roch so gut. An manchen Tagen im Frühling hing ein Hauch davon noch in der Luft, auch wenn die Küche schon lange verwaist war und niemand mehr im großen Ofen buk.
»Luzia? Zacharias?«. Es klopfte zweimal an den Türrahmen. Heute war Mittwoch und mittwochs kam die Ellen mit der Post.
»Ellen, leg die Briefe bitte draußen auf die Bank.« Kurze Stille. Luzia hörte ein Rascheln, etwas plumpste auf das Holz. Dann hörte sie nichts mehr.
»Alles in Ordnung, Luzia?«
Luzia überlegte, was sie antworten sollte. Eine dunkle Stimme kam ihr zuvor: »Was soll mit ihr nicht in Ordnung sein?« Zacharias hatte wohl das Rufen gehört.
»Ich mein ja nur, weil sie die Tür nicht aufmacht.«
»Sie hat Kopfschmerzen, das Sonnenlicht tut ihr weh.«
»Oh, die Arme. Pfefferminzöl auf die Stirn, das hilft. – Bis nächste Woche dann.«
Ellen wendete das Fahrrad im Hof, Luzia hörte das Knirschen der Reifen auf den kleinen Steinchen. Sie wartete noch eine kleine Weile, dann öffnete sie die Tür.
Draußen auf der Bank saß Zacharias und hielt einen Brief in den schwieligen Händen. Ein Blatt Papier mit einem Wappen im Kopf, einer Handbreit Buchstaben aus einer Schreibmaschine darunter und einem Stempel vom Amt. Und darin eingefangene Bögen und Striche aus blauer Tinte.
Als Zacharias aufblickte, war da ein wenig von Gerti und Anton in seinem Blick. Vielleicht war es eine Erinnerung, die schon länger eine Tür nach draußen suchte, weil sie es allein in der klammen Stille nicht mehr aushielt.
»Was steht in dem Brief?« Luzia zog die Nase kraus, weil die Sonne sie blendete.
Zacharias faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Joppe. Dann stand er auf und ging wieder zum Stall.
Auf dem Tisch stand der Adventskranz aus frischem Grün mit der Weihnachtspyramide in der Mitte. Einer der Flügel war gebrochen. Zacharias wollte den Knochenleim aufkochen, sobald der Kachelofen in der Stube das nächste Mal heiß genug sein würde, wie er sagte. Jetzt im Winter war er jeden Tag heiß genug und doch blieb der Leim auf der Fensterbank stehen.
Luzia nahm den Topf in die Hände, drückte fest zu und dachte an Gerti. In den Duft nach Zimtsternen mischte sich bald der stechende Geruch des Leims. Mit dem Pinsel aus dem Topf bestrich sie das Bruchstück und drückte es an seinen Platz. Bis der Leim kalt genug war, hielt sie den Flügel fest.
Luzia schnippte mit den Fingern. Vom Daumen tropfte eine kleine Flamme auf eine der verstaubten Kerzen. Nach der dritten angezündeten Kerze begann die Pyramide sich zu drehen. Der Hirte mit dem mannshohen Stab sauste fünfmal an ihr vorbei, dann spuckte sie auf die Fingerspitzen und löschte die Flammen. Sie öffnete das Fenster und stellte den Topf mit dem flüssigen Leim in den Zug. Der Brief! Sie musste ihn fragen.
Luzia ging durch den Schnee zum Stall. Die neuen Bretter um das offene Tor herum leuchteten wie ein Sonnenaufgang. Gülle stach in der Nase, kurz hielt sie die Luft an. Sie achtete darauf, mit den frisch gefetteten Stiefeln nicht in die Kuhfladen zu treten. Sie hatte sie umsonst geputzt, Nikolaus war dieses Jahr nicht gekommen.
Das Scharren der Hufe war zu hören und Heu, das in Mäulern knistert. Dazwischen ein flaches Schnarchen. Zacharias lag rücklings auf einem der großen Ballen, die Forke stak im Stroh, daneben lag eine kleine silberne Flasche. Die Joppe war aufgeklappt, das Stück Papier ragte aus der Innentasche.
Vorsichtig fingerte Luzia den Brief aus der Joppe. Wenn Zacharias wach wurde, konnte sie den Brief fallen lassen und sagen, er wäre ihm aus der Tasche gerutscht.
Sehr geehrter Herr Brandl,
zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Mündel Luzia Loibl nicht länger in Ihrem Haushalt verbleiben kann.
Nach dem Ableben Ihrer Ehegattin Gertrud Brandl und Ihres Mündels Anton Loibl sehen wir die familiäre Grundlage für ein gedeihliches Aufwachsen des Mündels nicht mehr als gegeben an. Die Überführung ins Waisenhaus Klosterbrunn wird im Jänner des folgenden Jahres stattfinden.
Hochachtungsvoll.
Luzia zitterte und mit ihr das Blatt Papier zwischen den Fingern. Es verschwamm vor den Augen. Es flatterte, es prasselte, es brannte. Sie schloss die Hände, versuchte, das glimmende Papier darin einzuschließen. Vergeblich. Einzelne rot geränderte Flocken schwebten durch die Scheune.
»Zacharias!« Luzia schrie, so laut sie konnte..
Großvater sprang auf die Beine, umklammerte die Forke, die Augen weit geöffnet. Er verstand augenblicklich, griff den Blecheimer, lief zum Trog und verteilte Wasser auf die Glutnester. Als es nur noch qualmte, landete der Eimer mit Wucht auf dem Boden, schepperte durch die Scheune. Die Kühe scharrten und muhten laut.
Zacharias stand vor ihr, hob voller Wut die Hand und ließ sie wieder sinken, hob sie nochmals an, dann zischte er durch die Zähne: »Genug. Es ist genug, ein für alle Mal. Hörst du …«
Luzia drehte sich um und lief. Sie schaute nicht zurück, hörte nicht, was er rief, lief, so schnell die Stiefel sie trugen. Über die verschneite Weide, über die weiße Wiese dahinter und hinein in den Wald. Durch dunklen Tann, über Lichtungen und unter kahlen Buchen hindurch. Immer wieder musste sie blinzeln, weil der Wald durch die Tränen verschwamm. Sie lief, bis ihr Atem nicht mehr ausreichte und sie stehen bleiben musste.
Sie war in einem Teil des Waldes angelangt, in dem niemand Holz schlug, in dem es keine Wege für Ochsenkarren gab, noch nicht einmal Fußpfade, nur Gestrüpp, Schnee und Kälte. Ab und zu knackte es im Unterholz. Aus weiter Ferne kam ein Heulen. Über den Wipfeln hing schon die sternenklare Nacht und wartete darauf, dass die Sonne den Himmel freigab.
Luzia sammelte Tannenzapfen, kleine Äste und Stücke abgebrochener Borke. Sie grub eine Mulde in den Schnee und schichtete alles zu einem Haufen. Dann dachte sie an den Anton, den Vogelschnitzer und klatschte in die Hände. Auf ihren Handflächen standen flackernde, rote Flammen. Luzia ließ sie hinabtropfen. Das Feuer leuchtete von unten in ihr Gesicht – und in ein fremdes, sehr bleiches.
»Mist verdorri, wie hast du das gemacht?«, sagte der Junge.
Luzia fuhr zusammen, sprang auf die andere Seite des Feuers und hob die Hände. »Einen Schritt weiter und ich brutzle dir deinen Allerwertesten weg.«
»Schon gut, immer schön ruhig«, sagte der Junge. Er hatte ungewöhnlich große Augen, beinahe wie die eines Kälbchens. Die Kleider, die um Arme und Beine schlotterten, waren kohlrabenschwarz, ebenso die riesige Schiebermütze, die schief auf seinem Kopf hing. »Woher kannst du das, bist du eine Feuerhexe?«
»Bestimmt nicht, denn wenn ich das wäre, wüsste ich, was das wäre, weiß ich aber nicht«, sagte Luzia.
»'Sonst wüsste ich, was das wäre, weiß ich aber nicht', schnak schnak.« Der Junge tänzelte auf Zehenspitzen und hatte beim Nachäffen die Hände gehoben, jetzt ließ er sie sinken. »Du bist echt lustig«, sagte er.
»Und du bist echt dreckig und frech. Schnak schnak«, sagte Luzia.
Der Junge grinste. »Dreckig bist du selber«, er strich sich über die Wange, »… und du weißt dich zu wehren, das gefällt mir.« Er streckte die Hand aus. Die Handfläche war ebenso schwarz wie Luzias, wenn sie Feuer machte.
»Branislav, kannst mich aber Branko nennen.«
»Flämmchen, äh, Luzia.«
»Was tust du hier, Flämmchen, außer Tannenzapfen abzufackeln?«
»Das gleiche könnte ich dich fragen. Du musst ja auch mal was anderes tun, als Leute zu erschrecken.«
Branko grinste und tippte an die Mütze. »Ich seh schon, wir verstehen uns.« Er schaute sie aus Kälberaugen an, als müsste er überlegen, dann drehte er sich um, ging los und winkte mit dem Arm. »Komm mit.«
Luzia griff einen armlangen Ast, zündete ihn an und folgte ihm. Man konnte nie wissen.
Zacharias sah hinaus auf den Schnee. Die Abdrücke von Luzias Stiefeln waren beinahe zugeschneit. Sie trug die Stiefel, die sie so gründlich geputzt hatte und die er am Nikolausabend vergessen hatte zu füllen. Vielleicht lag das Rathaus richtig und er konnte dem Mädchen nicht geben, was es brauchte. Er hatte Gerti damals sein Wort gegeben. Gerti hatte beschlossen, Luzia und Anton aufzunehmen, ohne ihn zu fragen. Die wichtigsten Entscheidungen traf sie immer alleine und im Nachhinein zeigte sich, sie lag richtig damit.
»Du musst uns in dein Herz lassen. Auch Luzia und Anton«, hatte Gerti gesagt, »nur wenn du uns alle hineinlässt, bleibe ich bei dir.« Gerti meinte stets, was sie sagte. Er hatte sich Mühe gegeben, hatte sich geändert, weil er wusste, dass es kein besseres Mittel geben konnte gegen die Ödnis, die er spürte, als Gerti. Und jetzt, wo sie gegangen war, wünschte er sich, er könnte den Teil seines Herzens, den er damals geöffnet hatte, wieder über das Loch klappen, um es zu schließen.
Der Wald, durch den sie liefen, war alt. Uralt. Nachtwald nannte Branko ihn und er hieß auch am Tag so. Er war voller Baumriesen, die seit Hunderten von Jahren dort standen. Ihre Äste verschränkten sich ineinander wie die Arme von Brüdern, die sich an den Schultern fassten und die Köpfe zusammensteckten. Sie ließen keine Mondstrahlen hindurch, sie fingen sie ab und verteilten sie als glitzerndes Kleid auf den verschneiten Blättern.
Zu ihren Füßen lief Branko, als könne er im Dunkeln sehen. Traumwandlerisch sicher stieg er über knollige Wurzeln und vorbei an Dachsbauten, in die Luzia ohne den brennenden Stock hineingestolpert wäre.
Vor dem Nachtwald hatte Großvater sie gewarnt. Es sagte, merkwürdige Dinge gingen dort vor und einige Leute aus dem Dorf im Tal wären darin verschwunden.
»Wohin gehen wir?«, fragte Luzia.
Branko blieb stehen. »Dahin, wo es warm ist und sicher, wenn's recht ist, die Dame.«
»Wenn's nicht mehr weit ist …«
»Sind gleich da, Allerwerteste.«
In den Schnee hatten sich frische Fährten von Rotwild eingedrückt, aber auch Abdrücke von größeren Pfoten, die diesen folgten.
Branko schenkte ihnen keine Beachtung. Immer wieder drehte er sich um, lächelte aufmunternd und bedeutete ihr zu folgen. Luzia gab sich Mühe, genauso geräuschlos zu laufen wie Branko. Sie sorgte dafür, dass der Stock hell genug loderte und spitzte die Ohren. Nichts. Und doch war da etwas! Auch wenn es nicht zu hören war, Luzia spürte, sie waren nicht allein.
»Die tun nichts«, sagte Branko, »solange du nicht stehenbleibst.«
»Von wem redest du?«, sagte Luzia.
»Na, von den Wurzelgnoggs natürlich«, sagte Branko. »Wenn du stehenbleibst, lassen sie Wurzeln über deine Füße wachsen und wenn du die nicht schnell genug abschneidest, schlägst du selbst Wurzeln und wirst einer von denen da.«
Branko zeigte nach oben auf die Baumriesen.
»Und dann kannst du dich hübsch einreihen, Luzia … Flämmchen.«
Er lachte keck und trat gegen den Stamm einer Tanne. Von den Ästen rieselte Schnee auf Luzia herunter und löschte den Stock. Schnell dachte Luzia an Gerti und klatschte in die Hände, doch das Bild blieb verschwommen und ihre Finger waren kalt. Die kleinen Funken, die aus den Handflächen schlugen, reichten nicht aus, um den Stock wieder anzufachen.
Zacharias setzte die silberne Flasche an und drehte sie enttäuscht auf den Kopf. Ein letzter Tropfen biss sich in den Schnee. Er warf die Flasche so weit er konnte. Dumpf landete sie auf der weißen Weide.
Luzia, der Feuerteufel. Zacharias schaute zur neuen Scheune. Er spürte, dass er das Feuer in ihr niemals würde zähmen können. Es war zu stark und es wollte an die Luft, wie der Geist aus der Flasche, deren Korken jemand gezogen hatte. Flämmchen hatten Gerti und Anton sie genannt. Er hatte versucht, es ihr auszutreiben. Es war sinnlos und jetzt hatte sie den Brief gelesen und war fort.
Ihre Spuren zeigten Richtung Wald. Niemand ging in den Nachtwald, schon gar nicht nachts. Aus gutem Grund. Und niemanden konnte man im Nachtwald alleine lassen.
Zacharias ging ins Haus. Im offenen Fenster stand der Leimtopf. Er nahm ihn von der Fensterbank, stellte ihn weg und schloss das Fenster. Einmal drehte er an der Weihnachtspyramide und sah den Hirten wandern.
Die Petroleumlampe stand auf dem Schrank, er nahm die Kanne und füllte sie bis zum Rand auf. Neben der Tür lehnte der lange Hirtenstab. Er setzte den gefilzten Hut auf und ging los.
Unter ihren Stiefeln wühlte etwas durch den Schnee und krabbelte höher. Luzia spürte die Furcht, wie sie an ihr hochkroch und Schauer über den Rücken jagte. Kleine Glutsterne tropften von ihren Fingerspitzen und zischten in den Schnee.
Im fahlen Schein der Sterne sah sie fußlange Wurzeln, die wie Würmer über die Stiefelspitzen krochen und hart wurden. Sie zog die Stiefel darunter weg und trat auf der Stelle. Weglaufen konnte sie im Dunkeln nicht, sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte.
Branko, wenn er denn so hieß, hatte sie reingelegt. Luzia sah ihn nicht mehr. Das konnte nicht sein, dass er sie hier mitten im Nachtwald alleine ließ. Ein neues Gefühl ergriff sie, so neu, dass sie nicht wusste, wie sie es benennen sollte. Gerti hatte sie vor dem Zorn gewarnt, vermutlich war es das, was sie fühlte.
Aus Luzias Handflächen quollen bläuliche Flammen, groß und heiß. Sie hielt die Handflächen Richtung Boden und drehte sich. Die Wurzelgnoggs quiekten auf, als die Flammen sie trafen und krochen zurück in die Schwärze. Luzia umgab ein Kreis brennenden Feuers, der verbrannte Boden hob sich leicht.
»Ha, haha. Mist verdorri.« Brankos Lachen kam aus der Dunkelheit. »Kannst es also doch, das war eins a.«
Luzia spürte den Zorn, er war noch da. Sie wandte sich in die Richtung, aus der das Lachen gekommen war, klatschte in die Hände und zielte in die Luft. Ein blauer Feuerball schoss aus ihren Händen, schlug in eine Tanne ein, knickte ihre Spitze ab und begrub Branko unter einer Schneelawine. Ein tiefes Grummeln zog durch den Wald.
Auf allen Vieren kroch Branko aus dem Haufen, hustete und spuckte Schnee. Dann schlug er seine Mütze aus.
»Sag mal spinnst du?«, keuchte er, »Mist verdorri!«
»Geschieht dir recht«, sagte Luzia. Sie ließ sich die Überraschung nicht anmerken. Nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches versucht und es war beim ersten Mal geglückt.
»'Geschieht dir recht', schnak schnak«, sagte Branko, »fies bist du, echt fies. Dabei habe ich nur ein wenig Schnee von den Bäumen geholt.«
Mit dem Rest von dem Zorn entfachte Luzia den Stock erneut. Sie hielt ihn über den Kopf. Brankos Augen wurden noch größer.
»Wirst du mich jetzt dahin bringen, wo es trocken ist und warm? Ohne weitere Mätzchen?«, sagte Luzia. Sie hielt den blau brennenden Stock vor seine Nase.
Branko duckte sich, hielt die Hand vor die Augen und nickte.
Zacharias folgte den Spuren mit großen Schritten. Sein Herz wurde schwer, sie führten tief in den Nachtwald. Bald schon kam er an die Stelle, wo Luzia ein Feuer entzündet hatte. Ein dickerer Zweig glomm fahl.
Er schaute sich den Boden an und sah erstaunlich viele Spuren rund um die Feuerstelle. Einige waren breiter und länger als Luzias Stiefelabdrücke. Die Spuren schlugen Bögen, überkreuzten sich und führten tiefer hinein in den Nachtwald. Luzia hatte jemand getroffen und gemeinsam waren sie weitergegangen.
Was nur suchten sie mitten im Nachtwald, wo doch jedermann froh war, über Tag wieder hinauszufinden? Bald kam er an ein kreisrundes Brandmal im Boden. Fußlange Wurzelstücke lagen verkohlt darin. Wurzelgnoggs, er hatte davon gehört. Er sah den Schneehaufen, sah die Spuren davor. Ein schmales Lächeln zog durch sein Gesicht.
Der Wald wurde feuchter und lichter. Pilze wuchsen am Fuß der Bäume, Flechten hingen wie Zwergenbärte aus den Zweigen herab. Kreuz und quer lagen gefallene Stämme, ihre kahlen Äste reckten sich Richtung Himmel. Dazwischen wechselten moosige Inseln mit glitschigen Steinen und zugefrorenen Pfützen. Der ganze Wald roch nach Moder und Traurigkeit.
»Hier also wird es gleich trocken und warm?«, sagte Luzia. Sie war vorsichtig, ließ Branko keine Sekunde aus den Augen.
»Gleich sind wir da«, sagte Branko. Er wollte den Morast schnell hinter sich lassen.
Die Bäume traten zurück und öffneten den Wald für eine verschneite Lichtung, die im Mondlicht schillerte. Durch die Mitte der Lichtung lief ein mannshoher Erdwall. Branko zeigte in die Richtung. »Da müssen wir rauf.«
»Vergiss es«, sagte Luzia, »da geh ich nicht rauf, nicht im Dunkeln bei dem Schnee.«
Luzia spürte, wie etwas an ihrer Seele zerrte, wenn sie stehenblieb, wie es sie nach unten zog in Traurigkeit und Vergängnis.
»'Vergiss es', schnak schnak«, sagte Branko, »'da geh ich nicht rauf', schnak schnak. Versteh doch, wir müssen da rauf. Und jetzt komm.« Branko ging los, von Insel zu Insel, quer über die verschneite Freifläche. Luzia folgte ihm zögerlich.
»Wie lange soll ich dir noch vertrauen, Branko?«, murmelte sie.
»Bis wir da sind, Mist verdorri. Solange, bis du siehst, dass ich dich nicht angelogen habe«, sagte Branko.
»Du gehst vor«, sagte Luzia.
Branko trampelte Stufen in den Schnee und stützte sich mit den Händen an der schrägen Wand ab. Luzia folgte auf gleiche Art und trat in seine Spuren. Oben angekommen, stolperte sie über etwas unter dem Schnee und fiel auf die Knie.
»Bleib genau in der Mitte«, sagte Branko.
Er stapfte seitlich durch den Schnee, drückte seinen Fuß über den Boden, bis sein Schuh gegen etwas Festes stieß. Dann drehte er sich um, ging drei Schritte in die andere Richtung und stieß wieder auf einen Widerstand. Er trat noch mehrmals davor wie zur Bestätigung. Bei jedem Tritt ertönte ein hartes Klacken.
»Schienen«, sagte Branko.
Luzia schob den Schnee beiseite, bis das Eisen oben herausschaute.
»Schienen … hier?«, sagte sie.
»Das ist noch nicht alles«, sagte Branko, »wir müssen in diese Richtung.« Er zeigte Richtung Mond.
Der Wall, auf dem sie gingen, zog sich wie das Band einer weißen Schleife durch den dunklen Wald. Nach wenigen Minuten kam ein riesiges, dunkles Ungetüm in Sicht, das den weißen Wall einnahm. Ein Koloss aus Eisen, der vom Himmel gefallen sein musste.
Luzia erkannte einen trichterförmigen Schornstein vorne, der den Mond beinahe verdeckte, und das riesige rote Kuhgitter unten, das mit der Spitze in den Schnee stach.
»Eine Lokomotive, mitten im Nachtwald ...«, flüsterte sie, »wie kommt die hierhin?«.
Branko war weitergegangen, an der Lok vorbei bis zum Führerstand, stieg die Eisenleiter hoch und winkte wieder mit dem Arm.
»Wie ich es dir versprochen habe, da drinnen ist es trocken und warm – falls du die Kohlen anbekommst«, sagte Branko.
Luzia schaute an der Dampflok entlang, oben auf dem schwarzen Eisenwurm lag eine dicke Schneehaube. Eiszapfen hingen von überstehenden Kanten herunter wie Drachenzähne.
Hinter dem Kohlentender verloren sich die Waggons in der Nachtschwärze. Sie kletterte nach oben und sah, wie Branko mit großer Anstrengung eine eiserne Klappe aufzog.
»Da sind noch alte Kohlen drin, wenn wir Glück haben, brennen die noch und …«, er deutete mit dem Daumen nach hinten, »da gibt es reichlich Nachschub.«
Luzia war sehr kalt. Die Aussicht auf ein Ofenfeuer weckte ihre Lebensgeister.
»Na los, dann hol gleich mehr davon«, rief sie.
»Aye aye, Madame«, sagte Branko, salutierte mit zwei Fingern an der Mütze, nahm die große Kohleschaufel und stieg auf den Tender. Schnee flog links und rechts von dem Anhänger.
»Weg da, verdorri«, rief er. Luzia sprang auf Seite. Feuchte, schwere Kohlestücke prasselten auf den Boden vor der offenen Klappe.
»Wie soll ich die jemals zum Brennen kriegen? «, sagte sie.
Branko nahm die große Kohlenschippe und schaufelte die Kohle auf den Rost der Feuerbüchse.
»Ich denke, du heißt Flämmchen, dann zeig mal, was du kannst …«
Luzia zögerte einen Moment. »Warum möchtest du, dass ich das tue?«, fragte sie.
Branko wurde ganz ernst. »Weil nur du es kannst.«
Gerti stand zwischen Ofen und Tisch, aus der Röhre drang der Duft von Bratäpfeln. Anton stand am Fleischwolf, lachte und drehte die Kurbel. Luzia nahm die Streifen vom Sternaufsatz ab und legte sie auf das Blech. Als es voll war, stellte sie es zu den anderen Blechen.
Gerti nahm die Bratäpfel aus dem Schacht, legte sie auf ein Metalltablett, streute Zucker darüber und sagte: »Flämmchen, einmal verknuspern bitte.«
Luzia hielt die Hände darüber, dachte an Weihnachten, an Kerzen, Glaskugeln und Punsch. Aus ihren Händen züngelten heiße Flammen, die den Zucker zu einer Kruste verschmolzen.
»Jetzt aber nicht mehr die Plätzchen anfassen, Flämmchen«, sagte Anton.
Gerti lächelte nur und sagte das, was sie oft sagte, wenn sie Luzia ums Feuermachen bat: »Du weißt, im Leben eines jeden Menschen gibt es Dinge, die nur dieser eine Mensch tun kann, und wenn es nur das ist, was er tut.«
Luzia dachte an Gerti, an verknusperte Bratäpfel und Spritzgebäck, dachte an Anton, wie er auf die Späne zeigte und sagte: 'Zünd sie an, Flämmchen.' Sie schloss die Augen und klatschte in die Hände. Eine Feuerfontäne erhellte die Nacht. Die Kohlen in der Feuerbüchse zischten, dampften, kochten weißglühend und brannten lichterloh. Augenblicklich stieg die Temperatur und es wurde wohlig warm. Luzia beeilte sich und legte Kohlen nach. Das Feuer war bereits so heiß, dass die neuen Kohlen nach kurzer Zeit ebenfalls brannten. Wo blieb nur Branko?
»He, Luzia, kannst du dich mal hier oben um den Verschluss von dem Wassertank kümmern? Der ist zugefroren.«
Sie kletterte auf die Dampflok, nahm den Deckel in beide Hände und wartete, bis er warm wurde.
»Eins a Feuer übrigens, Flämmchen«, sagte Branko. Er schaufelte Schnee durch das große Loch in den Tank.
»Verdorri, wäre doch gelacht, wenn wir die alte Dame nicht ans Laufen kriegen.«
Er schlug den Deckel zu und schwang sich in den Führerstand. Kurz wärmte er sich die Finger, dann kratzte er das Eis vom Manometer und schaute auf den Wasserstand im Schauglas. Mit einem kurzen Ruck an einem Seil betätigte er die Dampfpfeife.
»Alles in Butter, es wird, es wird.« Aus einer tiefen Tasche der viel zu großen Jacke zauberte er einen Apfel und hielt ihn strahlend Luzia hin. Das 'Danke' hörte er schon nicht mehr. Wieder war er mit Kohlenschaufel auf dem Tender und wieder regnete es Kohlen.
»Sag mal, woher kennst du dich eigentlich so gut aus mit der Lok?«, fragte Luzia zwischen zwei Apfelbissen.
Branko hielt inne, kämpfte darum, die Worte zurückzuhalten, die nach draußen wollten. Dann schaufelte er weiter und sagte: »Bin doch nur der Kohlenjunge … nur der Kohlenjunge.«
Immer tiefer in den Nachtwald hinein führten die Spuren. Das war beunruhigend, doch gingen sie noch zusammen, das wiederum war ein gutes Zeichen. Zacharias folgte den Abdrücken mit Mühe. Der Boden wurde morastig, das Gehen strengte ihn an. Bald lichtete sich der Wald, die Bäume wurden kleiner und kränker. Durch die Stämmchen schimmerte ein weißes Schneebrett, etwas dahinter erhob sich ein Wall. Ein Bauwerk von Menschenhand mitten im Nachtwald? Noch nie hatte er davon gehört. Sie waren die Flanke hochgestiegen, das sah er an den Stufen, die in den Schnee getreten waren. Zacharias biss auf die Zähne, stützte sich auf den Stab und stieg ebenfalls hoch. Oben auf dem Wall setzten sich die Fußspuren fort, sie liefen Richtung Mond. Ein Stück Metall lag im Schnee. Zacharias bückte sich, es war kalt, lang und oben flach.
Ein ohrenbetäubendes Pfeifen ertönte. Zacharias schrak zusammen. War das etwa, das war doch nicht … eine Lokomotive im Nachtwald? So schnell er konnte, machte er sich auf den Weg und folgte dem Laut.
Branko schaute auf das Manometer. Der rote Pfeil zeigte nach oben. Hinter dem Schornstein war der erste rötliche Schimmer der Morgendämmerung zu sehen.
»Gleich ist es so weit, gleich musst du die Bremse lösen. Mach dich bereit«, sagte Branko.
»Welcher Hebel ist es?«, fragte Luzia. Im Führerstand war es angenehm warm, so warm, dass sie hätte einschlafen können, wenn nur der Magen nicht weiter knurren würde.
»'Welcher Hebel ist es', schnak, schnak ..., na der da«, sagte Branko und verdrehte die Augen, als er auf den großen Hebel zeigte, neben dem Luzia stand.
Branko drehte an Kurbeln, zog Seile und kleine Knöpfe und hüpfte mit dem Ölkännchen durch die Kabine.
»Und los!« Luzia drückte den Hebel nach vorne, die Lok ruckelte – nichts weiter geschah.
»Mist verdorri, die Lok ist festgefroren«, sagte Branko und raufte sich unter der Mütze die Haare. Er wischte sich über die Stirn und hinterließ einen öligen Streifen. Zweifelnd schaute er Luzia an.
»Kannst du bitte, kannst du versuchen …«, sagte er.
»Was, die Schienen aufzutauen?«, sagte Luzia. »Das ist ein bisschen viel verlangt, oder?«
»Wer, wenn nicht du?«, sagte Branko leise.
Gerti, die ihr über das Haar streicht. »Du weißt, im Leben eines jeden Menschen gibt es Dinge, die nur dieser eine Mensch tun kann, und wenn es nur das ist, was er tut.«
Luzia zischte leise, zog die Bremse und stieg die Eisenleiter hinunter. Dabei rempelte sie absichtlich Branko an, dem die viel zu große Schiebermütze vom Kopf rutschte. Er zischte nur ein leises 'Mist verdorri'.
Sie ging die dampfende Lok entlang, kniete sich in den Schnee vor dem roten Kuhfänger und hielt die Hände griffbereit.
Diesmal dachte sie an Zacharias, der meinte, er hätte genug, an den schlimmen Brief, der in ihrer Hand zerbröselte und an die Wurzelgnoggs, die über ihre Stiefel liefen. Gerti hatte sie vor Zorn gewarnt, Zorn sei kein guter Ratgeber, sagte sie – jetzt half nichts anderes. Sie sammelte alles an blauem Feuer, das in ihr war, nahm beide Gleisschienen in die Hände, drückte fest zu und dachte: »Feuerhexe.«
Zwei Blitze fuhren in die Schienen und brachten den Schnee zum Dampfen. Mit einem Klirren fielen die Eiszapfen von den Rädern und zerbrachen in tausend Stücke. Von den kranken Bäumen drang ein Stöhnen und Rauschen herüber, als müssten sie die Äste vor die Augen nehmen, damit das gleißende Licht sie nicht blendete. Die Dampfwolke verzog sich und ließ die Schienen als zwei schwarze Striche im Schnee zurück.
»Sapperlot verdorri eins, wenn du keine Feuerhexe bist …« Danach bekam Branko den Mund nicht mehr zu.
Luzia drückte die Hände in den Schnee, um sie abzukühlen. Dann stand sie auf, ließ den verdatterten Branko stehen und meinte beiläufig: »Die Feuerhexe will jetzt die alte Dame fahren. Hilfst du mir oder hältst du weiter Maulaffen feil?«
Zacharias sah eine große Wolke vor dem Mond aufsteigen. Die Schienen glühten für einen Moment auf. Als die Dampfwolke sich verzog, lag das Gleis schwarz vor ihm im Schnee. Er ging weiter, doch kurze Zeit später begannen die Schienen zu brummen. Dem Brummen folgten ein monströses Gerumpel und Gezische. Die Dampfpfeife ertönte erneut, diesmal näher, ein rhythmisches Stampfen begann.
Abermals wurde der Mond verdunkelt. Das schwarze Ungetüm wuchs aus der Nacht und mit ihm seine Ausdünstungen. Die Spitze des roten Kuhfängers zielte auf Zacharias. Mit einem Sprung zur Seite brachte er sich in Sicherheit.
Die finstere Maschine drückte sich an ihm vorbei, Bolzen und Stangen schoben sich durch gefettete Lager, Räder quietschten. Wer immer im Führerhaus war, sah ihn nicht, dazu war er zu hoch und Zacharias zu tief unten. Er hörte eine jungenhafte Stimme lachen, dann war die Zugmaschine vorbei. Sieben Waggons mit Fenstern folgten. Noch hatte der Zug keine Fahrt aufgenommen.
Als der letzte Waggon vorbei war, sprang Zacharias auf das Gleis und lief hinterher. Mit letzter Kraft bekam er das Geländer der Leiter zu fassen und schwang sich hoch auf das Trittbrett. Hinter ihm zog die erste Morgenröte herauf. Als er die Türe öffnete und sah, was im Halbdunkel des Waggons schlummerte, traute er seinen Augen nicht.
Branko strahlte über das grau verschmierte Gesicht. Als Luzia die Bremse löste und die Lok mit einem gewaltigen Ruckler losfuhr, sprang Branko wieder auf den Tender und schaufelte, was das Zeug hielt. Er war erst zufrieden, als er die Feuerbüchse bis zum Rand gefüllt und die Klappe zugeschlagen hatte. Mit dem Fingerknöchel klopfte er an die Anzeigen und lachte auf. Seine Augen und Ohren wirkten im Widerschein der ersten Sonnenstrahlen nicht mehr so riesig wie zuvor. Beinahe sah er wie ein ganz normaler Junge aus.
»Na, dann wollen wir mal sehen, wie schnell die alte Dame noch fahren kann«, sagte Branko.
Luzia konnte es kaum erwarten, den Nachtwald zu verlassen, doch Branko hatte es noch eiliger. Er schaufelte wie ein Wilder Nachschub vor die Feuerklappe.
»Wohin führen die Gleise, Branko?«
»Wirst schon sehen«, sagte Branko. Er legte die Kohlenschaufel weg und schaute ihr direkt in die Augen. »Sie führen in den Sonnenaufgang.«
Die Schwungräder fanden einen Rhythmus, den sie tief unten aus dem Schnee hoben, ihn auf die Reifen zogen und langsam steigerten, bis er zu einem schnellen Stampfen wurde. Der Sonnenaufgang färbte den Himmel dunkelrot, 'wie ein Blutstropfen, der in ein Glas Wasser fällt', dachte Luzia.
Sie dachte an Zacharias, an die neue Scheune aus frischem, rotem Holz und an seine letzten Worte, wegen denen sie weggelaufen war. Sie hatte ihn nie davon überzeugen können, dass sie den Brand der alten Scheune nicht verursacht hatte. Deshalb war er zu ihr so, wie er war.
Gerti und Anton hatten die Viecher ins Freie getrieben und als das letzte durch das Tor lief, war der brennende Balken herabgestürzt, hatte beide unter sich begraben. Sie hatte den Balken zusammen mit Zacharias zur Seite gehoben, doch es war zu spät. Sie zogen beide Körper durch das Tor nach draußen. Zacharias sah nicht, wie die Scheune ausbrannte und in sich zusammenfiel, er schaute nur auf Gerti.
Nie würde sie diesen Blick vergessen und nie die leeren Augen, mit denen er sie danach ansah.
»He, Flämmchen, alles in Ordnung bei dir?« Branko schaute sie besorgt unter seiner Mütze hinweg an.
Luzia wischte eine Träne mit dem Handrücken fort und nickte.
»Gleich ist es soweit.« Branko schaute auf die Instrumente.
»Was denn?«, fragte Luzia.
»Na dann hat der Zug volle Fahrt und dann wird es passieren.«
»Was wird passieren?«, fragte Luzia und schaute besorgt.
»Wirst schon sehen«, sagte Branko, schaute aus dem Seitenfenster und grinste.
Das Wasser im Schauglas brodelte, der rote Zeiger der Druckanzeige stand auf 'Max'.
»Festhalten«, rief Branko und kurbelte ein großes Stellrad heraus bis zum Anschlag.
Der Kessel sprotzte und spuckte, die Lok machte einen Satz wie ein bockender Esel und erhob sich von den Schienen. Sie stieg in einer langgezogenen Kurve in den Morgenhimmel auf und zog weiße Dampfkringel hinter sich her.
Der rote Kuhfänger berührte die ersten Wolken, bevor die Spitze abkippte und der ganze Zug wieder hinabsauste. Dabei drehte sich der Zug um die eigene Achse, Sterne, Nachtwald und Morgenröte flackerten in einem wilden Farbrausch an den Fenstern vorbei, bis alles zu bunten Streifen verschwamm. Knapp über den Bäumen fuhr die Lok wieder stabil, schien von Wipfel zu Wipfel zu springen, der Schnee wurde von den Spitzen gefegt.
Branko lachte und hielt den Kopf aus dem Seitenfenster. Eine Hand hielt er auf die viel zu große Mütze. Luzia schrie, doch im brausenden Gegenwind war es nicht lauter als ein Mäusefiepen.
Sie verließen den Nachtwald, flogen über blühende Wiesen und grüne Bäume, bis die Lok mit einem ohrenbetäubenden Kreischen abbremste. Sie bogen in den Hohlweg, der zu Zacharias' Hof führte. Dort hielt der Zug, Branko drückte den Riegel der Eisentür und klappte sie auf.
»Endstation, Flämmchen, hier endet die Reise für dich.«
Der Waggon, in den Zacharias trat, war leer und war es nicht. An den Seiten standen Bankreihen, doch niemand saß darauf. Der Zug nahm an Fahrt auf, er musste sich an einer Rückenlehne festhalten, um nicht auf den Boden zu fallen. Als er sich setzte, spürte er es wieder. Irgendetwas von Gerti und Anton war da und war es nicht. Er sah helle Schleier, die durch den Waggon schwebten und sich neben ihn setzten. Er roch Gerti, ihren unvergleichlichen Duft und Anton, der immer ein wenig nach Holz roch. Dann machte der Zug einen Satz und vor den Fenstern zog der Himmel vorbei.
Zacharias krallte seine Hände an den Sitz vor ihm. Gerti saß linker Hand, Anton auf der andern Seite und schon stieg der Waggon so schnell, dass er in den Sitz gedrückt wurde. Sein Magen drehte sich um, er biss auf die Zähne und schloss die Augen. Die Reise in den Himmel schien nicht aufzuhören, er spürte wie es immer höher hinaufging. Dann blieben sie kurz in der Luft stehen, er riss die Augen auf und sah Wolken. Bald neigte die Spitze des Zuges sich nach unten. Mit einem gewaltigen Anlauf schoss der Zug Richtung Wald zurück, gleich würden sie zerschellen. Die Lok zog nach oben, tanzte über Baumspitzen und bremste schließlich so hart, dass sein Kopf nach hinten schlug. Dann standen sie.
Benommen stand Zacharias auf, er war allein. Frühes Morgenlicht stach durch die Fenster. Er schwankte zur Hintertür, riss sie auf und stolperte die Trittleiter hinab. Einen Moment lang schloss er die Augen und schnaufte durch. Er lag auf allen Vieren, sein altes Herz pochte in seiner Brust, außerdem taten ihm von der Schaukelei alle Knochen weh.
Gerade als er aufstand, fuhr die Bahn wieder los, stieg auf Richtung Himmel, drehte sich und verschwand mit einem Knall. Wo waren die Geister von Gerti und Anton? Wo war Luzia?
Luzia konnte nicht reden, sie taumelte die Stufen hinab, kniete sich ins Gras und erbrach sich. Ihr Bauch hatte das Auf und Ab und die vielen Drehungen nicht gut vertragen. Als sie aufstand, war die Tür der Lok bereits geschlossen. Heraus schaute ein alter Mann mit Schiebermütze. Die Ähnlichkeit zu Branko war nicht zu leugnen.
»Wo ist Branko?«, fragte Luzia.
»Sapperlot, ich bin und war immer schon Branko«, sagte Branko. »Ich hab verdorri lange auf dich gewartet, Flämmchen. Denn du weißt ja: Im Leben eines jeden Menschen gibt es Dinge, die nur dieser eine Mensch tun kann, und wenn es nur das ist, was er tut.«
Das hatte Gerti gesagt, dachte die verblüffte Luzia. Woher wusste Branko davon?
Der alte Branko legte zwei Finger an die Mütze, die nun nicht mehr viel zu groß ausschaute. Bevor er losfuhr, sagte er noch:
»Geh nach Hause, Flämmchen. Vielen Dank für alles, das war Eins a.«
»Aber … Großvater …, ich kann nicht nach Hause.«
»Mist verdorri, Flämmchen, du kannst.«
Er ließ die Dampfpfeife gellen, die Lok hoppelte als bräuchte sie einen Anlauf, dann sauste sie steil nach oben, drehte sich um die Längsachse und verschwand mit einem Knall, der Luzia auf den Boden warf.
Als sie sich aufsetzte, brummte ihr Schädel. Noch vor einer Stunde hatte sie in einer gefrorenen Lokomotive mitten im traurigen Nachtwald gestanden und jetzt roch sie den Spätfrühling. Da war kein Schnee auf der Wiese hinter den Bäumen, das Gras stand hoch und wogte im Wind. Aus dem Nachtwald klang das Klopfen eines Spechtes herüber.
Das war alles zu viel, was da in ihren kleinen Kopf wollte, fand Luzia und doch dämmerte ihr etwas. War das möglich, sollte es der eine Tag sein. Der Tag, an dem …?
Sie nahm die Beine unter die Arme und rannte, was das Zeug hielt. Als sie beim Hof ankam, sah sie Anton im Unterstand an der alten, grauen Scheune sitzen, wo er immer schnitzte. Er hielt beide Hände über einen Haufen Späne und klatschte in die Hände. Funken schossen aus seinen Händen. Erschrocken zog er sie weg und verteilte die Funken überall.
»Anton, nicht!«, rief Luzia. Es war zu spät, einzelne Strohhalme brannten bereits. Schnell wie ein Lauffeuer züngelten die Flammen Richtung Stall.
»Gerti!«, schrie Anton. Er versuchte die Flammen auszutreten, doch er wurde ihrer nicht Herr.
Luzia lief in den Stall, nahm den großen Eimer, lief zum Trog, schleppte mit all ihrer Kraft den schweren Eimer zum Unterstand und kippte das Wasser auf die Flammen. Abermals lief sie zum Trog, füllte den Eimer ein zweites Mal, obwohl schon lange nichts mehr brannte. Erst dann hörte sie auf zu zittern.
»Du Dummerchen«, sagte Luzia, dann zog sie Anton in ihre Arme. Seine Haare rochen nach Rauch und nach Kirschholz. Sie war so froh, diesen Geruch wieder riechen zu dürfen.
»Anton, ich muss dich das fragen: Ist übermorgen Weihnachten?« sagte Luzia leise.
»Flämmchen, was ist los mit dir? Wir haben bald Pfingsten!«, sagte Anton. Und dann schaute er sie mit diesem Blick an, in dem eine Ahnung von Verstehen lag.
»Kinder, was macht ihr denn ... Flämmchen, du siehst ja aus wie eine Kaminfegerin!«
Gerti kam aus dem Haus und schaute auf den Rauch, dann auf den Eimer, der neben Luzia stand.
»Ihr dürft damit nicht spielen, das ist zu gefährlich.«
»Ja, das ist es«, sagte Luzia. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie lief auf Gerti zu, versenkte ihr Gesicht im Duft nach Zimtsternen und Sahnequark.
»Flämmchen, so schlimm war es nun auch wieder nicht. Es ist doch nichts passiert.«
Luzia sagte nichts und weinte lautlos in Gertis Schürze. Als sie aufschaute, sah sie Zacharias dort stehen, gestützt auf seinen Hirtenstock. Er sah müde aus und doch waren seine Haare weniger grau.
»Ich hab eine lange Reise hinter mir, einmal in die Hölle und zurück«, sagte Zacharias.
Unter seinen Augenbrauen, die auch im Frühling ausschauten wie eine Schneewechte, zwinkerte er Luzia zu, lächelte und nickte in ihre Richtung. Dann streckte er die Hände aus und nahm sie in die Arme.