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Fernsehen bei Gewitter
Immer am Nachmittag lädt sich die Luft statisch auf. Wer mich dann betrachtet, sieht ein ängstliches Tier, das auf ein Gewitter wartet. Ganz ruhig, zumindest nach außen. Kein Ton, nur das Rauschen der Blätter, keine Bewegung, bis die Straße sich blau färbt, bis die Laternen anspringen und mit ihnen die Gedanken.
Ich denke an meinen Bruder. Ich denke an eine Szene aus meiner Kindheit, in der mein Bruder mich einen Psycho nennt und ich spüre, wie sich etwas in mir zusammenzieht, ich verschränke die Arme vor der Brust und senke mein Kinn, mache mich klein, obwohl ich schon lange erwachsen bin.
Vielleicht saß ich so ähnlich im Wartezimmer der Kinderpsychologin Frau Doktor Müller. Oder Maier, ich weiß nicht mehr, der erste Buchstabe war ein M, da bin ich mir sicher, denn seitdem verbinde ich das große M mit etwas Ungutem, einer Blockade. Einer Mauer, an der man nicht vorbeikommt.
An den Wänden hingen schwarzgerahmte Poster von Rizzi, Wolkenkratzer mit irren Gesichtern, der Himmel war ein Durcheinander aus Vögeln und Ufos, Wolken und Sternen, alles war Chaos und Frau M. war eine Sau mit einer schwarzen Perücke auf. Zumindest in meiner Erinnerung. Ihre Haut war bröckelig vom Puder, ihre Nase plattgewalzt, mehr Rüssel als Nase, und um den Hals trug sie eine Perlenkette, eine Bocciakugelkette, die mich an das Drahtgestell mit den aufgefädelten Holzringen im Wartezimmer denken ließ, die ich mit dem Mittelfinger weggeschnippt hatte, bis meine Mutter Lass das zischte.
Frau M. hatte ihre Meinung und ich hatte meine. Ihrer Meinung nach gab es eine Erklärung für das alles und eine Lösung namens Ritalin. Meine Meinung spielte keine Rolle, ich war ein Kind, und so setzte ich in den kommenden Wochen Morgen für Morgen meine beste Wolkenkratzergrimasse auf, während ich die Tabletten aus dem Blister drückte, in den Mund steckte, die Wohnung verließ, die Treppen hinabstieg, das Fahrrad aufschloss, meiner Mutter zuwinkte, die auf dem Balkon stand und erst in sicherer Entfernung spuckte ich die Tabletten an der immer gleichen Stelle wieder aus.
In der Schule malte ich mir aus, wie dort ein Baum wuchs. Ein Roboterbaum. Denn das eine Mal, als ich das Ritalin tatsächlich geschluckt hatte, wurde ich selbst zum Roboter, ich hörte die Lehrerin durch einen engen, metallischen Gang sprechen, sehr deutlich, sehr klar, aber alles andere war verschwunden – der Blick aus dem Fenster, das Kippeln mit dem Stuhl, Michaelas Witze, nichts machte mehr Spaß, alles war kalt. Ich war gerade mal elf und fand das Leben so unendlich traurig, ich war ein Roboter und jemand hatte den Schalter umgelegt, der für die Farben zuständig war.
Mein Bruder nannte mich einen Psycho, weil ich Tabletten schlucken musste, um zu funktionieren, vor allem aber wohl, weil ich es trotz der Tabletten nicht tat. Meine Mutter schwieg, wenn ich meine Fünfen nach Hause brachte, ihr meine Einträge im Hausaufgabenheft vorlegte. Kein Ton, keine Bewegung, nur das Rauschen des Fernsehers, der immer lief. Aber in ihr türmten sich die Wolken auf.
Meine Mutter schwieg, bis sie mir schrieb, und ich schaffte es nur, die ersten Zeilen ihres Briefes lesen. Denn da war es wieder, das wahre Monster meiner Jugend – die Enge, die zu kleine Wohnung, das mit meinem Bruder geteilte Zimmer, keine Tür, die sich abschließen ließ und kein Platz zum Denken, und so stopfte ich den Brief in die Hosentasche, stürmte die Treppen herab, schloss das Fahrrad auf, spuckte aus, immer wieder, ich trat in die Pedale und spuckte in den Fahrtwind, ich saß im Klassenraum und stank, wie wenn man seinen Handrücken ableckte und daran roch. Ich sah aus dem Fenster und kippelte auf meinem Stuhl, ich bekam nicht mit, wie der Brief mir aus der Tasche fiel, bemerkte nicht, wie die Pausenglocke schrillte, wie die anderen Kinder sich im Halbkreis aufstellen und auf mich zeigten und lachten. Sogar Michaela, meine beste Freundin, Michaela, bei der ich so oft übernachtet hatte, deren Eltern mich mit in den Urlaub genommen hatten, einfach so, weil ich dazugehörte, bis nach Österreich, weiter weg, als meine Eltern jemals gereist waren, sogar Michaela stand mit den anderen im Halbkreis und zeigte auf mich und las mit bescheuert verstellter Stimme die Worte meiner Mutter vor. Michaela mit dem großen M.
Psycho. Nicht mehr nur daheim, jetzt auch in der Schule, plötzlich war alles wie Fernsehen bei Gewitter in unserer kleinen Wohnung im zweiten Stock in der J.-M.-Straße – nicht erlaubt, keine Flucht möglich, gerade dann, wenn man sie am meisten brauchte, wenn das Chaos am größten war, jetzt hieß es, die Unruhe zu ertragen und das heißt es bis heute, jeden Nachmittag, bis die Straße sich blau färbt, jede Nacht, wenn die Gedanken sich im Kreis drehen, bis mir schwindlig wird. Aber irgendwann schlafe ich ein. Und irgendwann wache ich wieder auf und für ein paar Stunden herrscht dann Stille hinter meiner verschlossenen Tür und irgendwann ist die Stille für immer.