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Faster, Faster!! - oder: Die neue Generation
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Wir waren die Generation der verlorenen Seelen.
Das klingt so richtig romantisch oder pseudo-jugendlich-Vampirstory-gruselig. Das ist nicht unbedingt was ich beabsichtige, aber der Begriff trifft einfach verdammt gut zu. Diese Gedanken kommen mir während ich Carry ansehe und ihr zerfetztes T-Shirt. Sie sieht auf den Boden, ihre Augen heftig geschminkt und ihr Gesicht emotionslos bis gequält. Sie bittet Joe um eine Zigarette, der sich erstmal seine endslangen Haare aus dem Gesicht wischen muss, und dann langsam in seiner Tasche zu wühlen beginnt. Carry wirkt ungeduldig, aber zugleich extrem ruhig und so als würde sie ihr ganzes Leben lang auf irgend etwas warten. Sie weiß wahrscheinlich selbst nicht genau auf was, denn sie hat ja alles. Und das ist unser Problem. Wir haben alles, aber irgendwie hört unser Gehirn doch nicht auf uns glaubhaft zu machen wir hätten noch Probleme. Das ist unser Problem, wir glauben eines zu haben wo wir aber einfach keines finden können. Ich frage mich was ich eigentlich mal werden möchte als sich Carry langsam und schwermütig ihre Zigarette anzündet und genüsslich daran saugt. Die Zeit scheint nicht zu vergehen. Wir sind freier als je zuvor. Wir müssen nicht das machen was unsere Eltern gemacht haben, wir müssen keine Tischler und keine Bauern mehr sein, aber irgendwie wünscht man sich oft, man würde einfach wieder in etwas geschmisen werden wo man nicht auskommt. Der Vogel der freigelassen wird und nicht weiß wo er eigentlich hinfliegen soll und kann. Das sind wir.
Aus dem Radio schallt Joy Division, und während ich aufstehe um pissen zu gehen summe ich ganz leise mit. "Love will tear us apart".
Der Dreck am Klofenster ist schon Generationen alt und verkrustet dort gemeinsam mit Insekten die sich in der schleimigen Mischung verfangen haben.
Es riecht nach starkem Alkohol und Scheiße. Willkommen in unserem Leben.
Manche Menschen legen Wert auf Äußerlichkeiten und auf Sauberkeit. Ich sage; solange es dich nicht krank macht ist es sauber genug.
Ich pisse genüsslich in die verdreckte Kloschale und die Sonne scheint bedürftig durchs Fenster auf meinen Pullermann. Meine Hose ist eng und bevor ich ihn herausnehmen konnte musste ich sie mit Krafteinsatz herunterziehen. Wer seine Seele verloren hat trägt keine Baggies. Wer seine Seele verloren hat trägt keine Hüte, und so streiche ich mir meine eingelierten Haare zurück und warte bis der warme Strahl aufhört. Auf dem Fensterbrett steht ein kleiner Wecker, der einfach als Uhr funktionieren soll. In diesem Haus haben digitale Wecker keinen Platz. Nur zum Spaß stelle ich den Wecker auf 4:00 Uhr früh. In der Hoffnung, dass ich Nachbarn wecken werde und vielleicht auch meine Mitbewohner und mich selbst, obwohl wir uns wahrscheinlich in nebulösem komatösem Sabbern befinden werden. Kein Schlaf. Nur gesunde, ganze Menschen schlafen richtig. Wir schlucken Valium und Kodein und dösen. Joy Division auch in der Nacht, und David Lynch-Filme und vielleicht einen Quentin Tarantino. Der Fernseher läuft immer. Das seltsame Flimmern des Fernsehers stimuliert mich auf eine seltsame Art und Weise. Es hält mich gefesselt und ich muss nicht der Stimme in meinem Kopf lauschen. Als ich die Tür öffne um Joe zu fragen ob wir noch Kekse im Haus hätten, erkenne ich, dass er sich wohl irgendetwas eingeschmissen hat. Er liegt am Boden und zuckt. Aber vielleicht simuliert er auch einfach nur. Oder vielleicht ist er nur müde. Es ist egal. Wenn ich fern sehe dann fühle ich mich nicht einsam, denn dann sind fremden Stimmen in meinem Kopf und sie sagen mir was ich tun soll. Es ist wie der Vater der mir sagt ich soll Tischler werden. Aber den gibt es nicht. Ich habe meinen Vater nie kennen gelernt. Vielleicht war er ja irgend ein Truckerfahrer, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass mein Vater ein dicker alter Typ mit Mütze ist, der einen Laster fährt. Aber dann: was weiß ich schon.
Wir essen Cornflakes aus einer riesigen Schale und füllen nach und nach, bis unsere Wänster beinahe platzen und wir völlig überfressen in unseren Sessel flätzen. Die Luft im Raum ist warm und steht völlig still. Keine frische Luft und keine Bewegung kommt durch die verschmierten, mit Dreck perfekt isolierten Fenstern herein, und selbst die Türe ist so massiv, als dass wir in unseren eigenen Dämpfen suhlen. Ich sinke tiefer und tiefer in den gepolsterten Sessel, fühle wie die Weizenpops in meinem Darm rumoren. Das heißt man versucht sie verzweifelt zu verdauen, aber im Angesicht der Ingredienzien einer riesigen Schale an "Weizenpops und Schokoflocks" oder was auch immer scheint dies eher aussichtslos. Joe streicht sich erneut seine Haare aus dem Gesicht und ich kann meine Augen nicht von dem Leberfleck auf seiner Hand wenden. Hinter uns flüstert der Fernseher seine sanften Stimmen in unsere Köpfe und füllt die Stille. Es ist ein sanftes beinahe angenehmes Säuseln, ein Rauschen. Es tut gut immer wieder hinhören zu können und zu merken, dass man nie alleine ist mit der Stille, dass man nie selbst die Stille füllen muss, dass immer jemand da ist, der das für mich tut. Und ich werfe ein wenig Excasy ein, nur zum Spaß.
Als ich langsam wieder zu Bewusstsein komme wird die Luft unerträglich stickig, doch keiner scheint gewillt zu sein das Fenster zu öffnen oder das Haus zu verlassen. Diese Trägheit ist permanent und unauflösbar. Es ist zu tief eingestickt in unsere Leben und Persönlichkeitsmuster, und als Mensch tendieren wir generell das zu tun was wir kennen und was uns bekannt ist. Lieber hier in der stickigen Luft im warmen Sud der eigenen Ausdämpfungen braten und sich Sekunde für Sekunde weiter abtöten und ich lasse weiterhin den Fernseher die Stille füllen, und die Drogen die Leere im Magen, die selbst Weizenpops nicht füllen können. Ich esse und esse aber ich werde nie richtig satt, und ich töte das Gefühl in meinem Magen, den ich möchte vergessen welche BEDEUTUNG satt hat.
Sekunde für Sekunde verstreicht und eine seltsame Wärme durchströmt meinen Körper, begleitet von einer unangenehmen Welle der Paralyse. Kurz höre ich auf meinen Körper zu spüren und meine Aufmerksamkeit hält still. Völlig fokussiert auf die Stimme die spricht halte ich inne... und der Fernseher dröhnt sein Lied und hämmert es in unsere Schädel und irgendwo kann ich Joe in seinem Zimmer singen hören. "Love, love will tear us apart again" ... und ich höre nur "mit der neuen Frischeformel, hält die Kleider weiß und frisch"... weiß und frisch, Begriffe mit denen ich nichts anfangen kann.
Ich fühle eine leichte Panik. Warum kann ich meinen Körper nicht fühlen? Stirbt er ab? Bleibt nur mein Kopf erhalten? Werde ich in einem Wasserglas weiterleben, wird mein Gehirn alleine in einer Nervenzellen stimulierenden Lauge überleben, ohne meinen Körper? Ich versuche verzweifelt aufzustehen, doch ich kann ihn nur schwer bewegen. Ich möchte meinen Mund öffnen, doch ich schaffe nur einen Spalt und meine Stimmbänder sind blockiert. Nur ein leises Wispern verlässt meinen Mund und ich krächze in den leeren Raum während mich die Melodien der Werbung und des Weltuntergangs einlullen. Ich verlasse den Bereich der Wahrnehmung und gleite in einen Zustand der völligen Unbewusstheit, den ich nicht beschreiben kann, da ich nicht merke was passiert.
Ich wache auf und aus verschwommenem Augenwinkel erkenne ich Joe, wie er an mir rüttelt, doch alles wirkt so weit weg, so in einer anderen Welt, ich bin nur der stille Betrachter meiner Selbst und meines faulenden Körpers. "Wach auf die Idiot!!!! Verdammt wieviel von dem Zeug hast du eingeschmissen? HEY HEY! HEEEY!!" Und plötzlich erringe ich wieder ein leichtes Körpergefühl und spüre wie heftig Joe an mir reißt und zerrt und auf mich eindrischt. Seine Augen sind manisch und blutunterlaufen. Sein Atem stinkt nach Fäulnis und Salami und Kohlrabi. Carry liegt auf der Couch scheinbar versuchend zu schlafen. Ihr ist es egal was hier passiert, ihr ist egal ob ich sterbe, denn ihr ist egal ob sie stirbt. Wir suhlen uns hier in unserer eigenen Nutzlosigkeit und in unserem Verderben.
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Fast Forward: Wir sitzen am Küchentisch und Joe zählt Geld. Es ist nichtmehr viel da, unsere Vorräte gehen zur Neige und es wird nötig sein, dass man ein paar Webseiten kreiert. Der Job, dem ich mein Leben eigentlich widmen wollte, doch ich sträube mich, mich vor den flimmernden zuckenden Bildschirm zu sitzen. Es ist zuviel Stimulation. Meine Wahrnehmung ist dann lediglich die Reflektion dieses wahnsinnigen Geflimmers und Blitzens und ich hämmere auf die Tasten ein und versuche die Farben abzustimmen und HTML auf meine Seite zu bringen.
Stunden verrinnen, in denen ich völlig ohne Wahrnehmung der Außenwelt in den weißen Abgrund starre, mit Zahlen jongliere und Formate entwickle.
Ich bin gut in dem was ich tue, aber es ist nur ein Kontinuum der Sinnlosigkeit in die ich mich tagtäglich stürze. Koffein füllt meine Adern und ich poche vor dem Bildschirm und ich fühle mein Herz schlagen und Blut in meinen Körper pumpen und ich hacke und hacke und hacke in die Tasten. Takk Takk Takk Takk Takk Takk Takk Takk Takk Takk Takk.
Nein, ich möchte nichtmehr vor diesem lebenssaugendem Apparat sitzen, ich kann nichtmehr, es pumpt seinen Elektrowahnsinn in meine Augen und in mein Gehirn und ich möchte explodieren und zerspringen. Ich muss mich abtöten und betäuben. Ein Valium gleitet in meinen Rachen und füllt meinen leeren Magen mit Stille, die mit dem kontinuirlichen Geblabber aus dem Fernseher kämpft: "mit nur 3 Minuten AB-Trainer Flexmuscleentrainment kommen sie ihrem Traumkörper Schritt für Schritt näher, wir garantieren ihnen"... Takk Takk Takk Takk Takk Takk Takk Takk, und das nächste mal das ich wieder zu normalen Bewusstsein komme ist wenn um 4 Uhr morgens der Wecker im Klo läutet und der Nachbar unter uns mit dem Besen an die Decke hämmert. Der Sound des Weckers gleitet durch die Wasserleitung mitten in seine Dusche und das Echo vibriert in seinem Badezimmer und drillt in seine Ohren. Manisch schlägt er seinen Besen nach oben bis Putz in seine Augen bröckelt und er schmerzerfüllt schreit und uns verflucht. Aber was ist schon normales Bewusstsein. Schlafe ich? Bin ich wach? Wenn ja, wie wach bin ich? Schlafen wir nicht alle ein bisschen? Mein Kopf fängt an zu schmerzen und ich schalte den Fernseher lauter. So laut bis die Striche am rechten Rand angelangt sind und nur noch des Nachbars Besenstiehl über die Lautstärke hinausragt. Die Sonne steigt langsam über die Dächer und vertreibt das Dunkel in den Gassen. Der Bildschirm wird schwarz und ich schließe meine Augen.
Joe steht auf und schaut in den Schrank. Seine Augen bleiben kurz haften und er hält inne. "Was zur Hölle? Wir haben keine Weizenpops mehr". Ich zucke die Schultern und senke meinen Kopf wieder in die Zeitung die ich gerade lese.
Ich nehme eher weniger den Inhalt wahr als dass ich einfach wahllos über die Zeilen fliege und einfach nur die Oberfläche als solche betrachte. Ich lasse die Zeit verstreichen und höre Joes Stimme hallen. Wie ich es so geübt hatte nehme ich nicht wahr was er sagt, sondern höre einfach dem Rhythmus zu, doch meine Aufmerksamkeit wird unterbrochen und ich höre die Wörter "scheiße" "verfickt" und "leer" und ich muss darüber nachdenken wie leer ich mich fühle, innerlich, magenintern. Ich habe seit Tagen nichts gegessen, und das einzige das ich getrunken habe war Vodka in riesigen Mengen und ein wenig Wasser um dem höllischen Brand zu entkommen. Naja, technisch, also definitionsmäßig habe ich gegessen, aber eben nur 2-3 Valium und ein paar Tabletten die ich im Schrank gefunden habe. Mir wird schwummrig, und ich hoffe nicht schon wieder auszusetzen, doch es stellt sich heraus, dass ich einfach nur völlig dehydriert bin. Ich vergesse manchmal wie sich Grundbedürfnisse wie Durst oder Hunger anfühlen, denn ich habe meinen Körper und meinen Geist mit derart vielen Stimulanten versetzt, dass er nichtmehr zwischen externen und internen Signalen unterscheiden kann und sich Hunger anfühlt wie der Wind der meine Haut kitzelt. Er ist verlagert und ich nehme ihn nur als fernes Licht am dunklen Sternenhimmel war. Und wer wird schon von einem fernen Licht am dunklen Sternenhimmel verstört? Was kümmert mich mein Hunger, ich nehme ihn doch sowieso kaum wahr.
Ich höre der Uhr zu wie sie tickt und höre in mich hinein. In mir vibriert das Ticken wieder, in völliger Synchronisation schwingt mein Puls hin und her im Rhythmus des Uhrtickens. Ich habe meine innere Uhr verloren.
Ich atme aus, sehe eine Zeit lang leer in die Luft und nehme ein paar Valium. Betäubung, ich möchte keine Uhren hören und keine Pulse und keine Besenstiehle die an Wände ballern und keinen Fernseher mehr, doch er läuft einfach weiter. Niemand wird ihn ausschalten. Ich fummle langsam und benommen nach einer großen Packung auf der mit schwarzem Filstift "Anästhetikum" geschrieben steht. Ich fühle über die Packung, reisse sie auf. Die Aluverpackung knistert und ich schütte die Hälfte der Packung in mich hinein. Ich muss ein wenig würgen, doch ich schaffe es zu schlucken. Kurz, nur ganz kurz schlägt mein Herz wie wild, wie um sich noch ein letztes mal zu wehren, wie ein Hund der ausreißt bevor er eingeschläfert wird, und dann dämmere ich weg und die Welt verliert ihre Farbe und alles dröhnt immer leiser und alles wird weniger... Ich vergesse mich. In völliger Dunkelheit bin ich ein Fötus: ohne Gedanken und ohne Werte, ohne Liebe und ohne Hass. In völliger Dunkelheit modere ich in meiner Fäulnis und verzehre mich selbst. Wieder und wieder.
Ein Fötus wird eventuell aus der Mutterscheide gerissen, und wenn er sich wehrt, schneidet man den Wanst auf und zerrt in mit aller Kraft heraus aus dem warmen Mutterleib. Ich fühle wie mich die Wirkung des Anästhetikums langsam verlässt. Ich komme langsam zu Verstand. Derjenige, der mein größter Feind ist kehrt zurück. Mein Ich. Ich erinnere mich und höre meine Stimme im Kopf schreien und zucken und fiebern. Rotglühend kommen die inneren Bilder der mentalen Vorhölle zurück. Carry läuft vor mir vorbei. "Ist was los Herb?" Ich gaffe sie an, mein Mund offen und sabbernd und ich geifere ihr entgegen.
Ihre zerfetzten zerlumpten Kleider, ihr tiefschwarzes Makeup. Ihre toten Augen, ihre wahnsinnig prallen Brüste erleuchten in mir ein Pochen, ein Feuer, einen Wahnsinn. Ich stehe auf, Speichel tropft aus meiner Mundhöhle auf den Teppich. Er ist es gewohnt. Leblos bleibt Carry stehen und gafft mich an. Sie ist nicht nüchtern, sie hat irgendetwas genommen, sie schläft, sie ist nicht ganz sie selbst. Ich nehme sie in meine Arme und presse meine Lippen auf ihre, heißer fauliger Atem strömt mir entgegen. Ich reisse ihre schon zerfetzten Kleider von ihr und begaffe die weißen prallen Brüste. Der Fötus der die Wärme des Mutterleibes sucht. Der Vogel der wieder in seinen Käfig möchte, weil er nichts anders kennt. Der Kleptomane der wieder und wieder stiehlt, weil er subbewusst wieder ins Gefängnis möchte, dort, wo die Welt in sich geschlossen ist.
Wärme, und ich vergesse mich, ich verliere den Verstand. Universum fickt durch mich, und ich werde Gott, nur für diesen einen Moment.
Doch ich ahne schon und fühle schon: die Hände die nach mir greifen und reißen, die innere Stimme die schreit und jammert und wispert und zittert und geifert und röhrt und vibriert und zuckt. Die kalten Hände die nach mir greifen und mich zerren und reissen und wieder in den Wahnsinn führen. Ich kann nicht flüchten.
Herr Ripper, genießen sie ihre Freiheit, wir entlassen sie. Die Welt erwartet sie.
Ich schlafe neben Carry ein, während sie unruhig vor sich hin zuckt und sich wälzt. Mein Körper ist erschöpft und ausgelaugt. Ich werfe 3 Valium ein bevor ich einschlafen kann. Ich habe die Fähigkeit verloren friedlich einzuschlafen. Schlaf als Zeitvertreib. Ich warte nicht darauf, dass es morgen wird.
Joe und Carry sind auch arbeitslos. Bisher war ich der einzige der Geld in die Kassa einbringt. Sie haben auf meine Kosten gelebt, aber haben dafür die Drogen besorgt. Ich musste mich nicht darum kümmern, ich musste lediglich vor dem Bildschirm sitzen und vor mich hinhacken. Takk Takk Takk Takk Takk Takk Takk.
Als ich in die Küche gehe und in den Kühlschrank sehe muss ich erkennen, dass er leer ist. Niemand war einkaufen. Wer sollte auch. Wir faulen hier in unserer eigenen Dekadenz. Wie der Rest der Menschheit.
Etwas muss sich ändern. Der Schlafende wälzt sich hin und her und sabbert in das Kissen. Es saugt sich voll mit seinem Sabber und seinen Tränen und dem fiebrigen Schaum aus seinem Mund. Irgendwann hustet und verschluckt er sich und er würgt und würgt und kämpft um sein Leben. Etwas muss sich ändern. Und vielleicht merkt er es noch nicht, doch jetzt beginnt die Transformation, der Schlafende wird langsam wach, er weiß noch nicht, was das bedeutet, er weiß noch nicht damit umzugehen, doch er hat genug gelitten und gefiebert, genug gegeifert im schlaftrunkenen Wahnsinn.
Während ich die verdreckten Scheiben betrachte wandelt Joe in der Küche. Er geht hin und her und denkt. Während er denkt, redet er, mit mir und sich selbst. Er brabbelt und murmelt vor sich hin. "Wir müssen etwas zu essen holen, etwas Nahrung, wir brauchen Drogen, aber du musst etwas arbeiten, wir haben kein Geld MANN! Und er fängt an zu schreien: "Verdammt, warum kannst du nicht für uns sorgen? Warum bist du etwa... bist du etwa zu blöd dafür oder .. ich VERSTEHE DICH NICHT?!" Er sieht mich an und erwartet eine Antwort, doch ich weiß nicht worauf er hinaus will. Er könnte doch selbst arbeiten, selbst Drogen holen, selbst Essen kaufen, doch er scheint nicht zu begreifen, dass er schon Erwachsen ist, dass es keine Eltern mehr gibt, die das für ihn machen, dass es keine Nabelschnur mehr gibt, die ihn füttert und in Sicherheit wähnt, keine nährende Fruchstäfte im Mutterwanst. Nein, er ist jetzt frei, aber das weiß er nicht, er greift und greift an seinen Bauchnabel doch da ist nichts. Und immer wieder greift er, und das tuen wir alle, so lange bis wir aufgeben oder erkennen, dass da einfach keine Nabelschnur mehr ist, dass wir jetzt an der frischen Luft sind, in der Wirklichkeit.
"Joe, komm, du musst dir dein Essen selbst holen, ich habe auch Hunger, aber ich kann nicht mehr vor diesen Computer, ich habe Angst was aus mir wird wenn ich zu lange davor sitze." "WAS? WILLST DU ETWA DAS WIR VERHUNGERN?" Seine vormals geblähten Nüstern fallen wieder in sich, und seine weit aufgerissenen Augen gehen wieder zu. Seine Stimme wird leiser. "Willst du etwa dass wir sterben?" Bis seine Stimme fast kaum mehr hörbar ist. Ich blicke hoch an die Decke, in der Hoffnung dort oben irgend eine Lösung zu finden, doch dort oben ist nur der selbe Ventilator und der selbe Dreck wie immer.
Joe steht jetzt ganz nah vor mir, er rüttelt an mir, wie damals als ich nichtmehr bei Bewusstsein war. "Was sollen wir tun?" "Was sollen wir bloß tun?"
Ich stehe auf und schubse ihn weg. "Ich weiß es nicht, verdammt nochmal"
Die Tür öffnet sich und Carry kommt aus dem dunklen Zimmer. Ihr Makeup ist verronnen und zerlaufen und ihr Haar ist zerzaust. Ihre Stimme ist heißer, ihre Augen zugekniffen. Schläfrig meint sie nur: "was ist denn los? Ich habe Hunger"
Joe wendet sich ihr zu. "Das ist es ja, wir haben HUNGER!?" Er sieht mich wieder an, hilfesuchend starrt er mich an, wartet auf meine Antwort. "Siehst du nicht, wir LEIDEN wegen dir!" "Ich bin nicht der Staat den du anhauen kannst Joe, vergiss es. Ich werde dich nicht für NICHTS belohnen? Was zur Hölle hast du getan, schieb dir deine Drogen doch in den Arsch!" Carry öffnet zunehmend ihre Augen und sieht rätselnd aus dem Fenster. "Wisst ihr was.." fängt sie an. "gehen wir doch einfach raus und nehmen uns was wir brauchen" .. Joe sieht sie an. Sein Kopf ist geneigt und ein Auge ist leicht zugekniffen, so wie er es öfter macht wenn er ernsthaft über etwas nachdenkt.
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Wir stehen vor einem Supermarkt und gaffen in die Auslage. Zuckergebäck, Obst, Fleisch, Gemüse, Kartoffeln. Alles ist da und ich merke plötzlich wie sich dieses Gefühl in mir ausbreitet, erst ganz langsam und dann immer schneller. Es ist wie ein Wirbelsturm in deinem Körper. Erst nur ein zarter Wind und während du garnicht merkst wie schnell es eigentlich geht bist du plötzlich zerrissen im Wind. Es beisst durch mich hindurch wie ein wütender Wolfshund der seine scharfen Fangzähne in das frische blutende Fleisch bohrt. Ich krümme meinen Rücken um es besser zu vertragen. Ich fühle es. Ich habe Hunger! Es ist Hunger!!!!! Es ist ein echtes Gefühl das ich verspüre! Ich sehe die saftigen Tomaten, die glänzenden Zuckerschnecken, und ich lechze nach diesem Genuss. Ich bin wirklich motiviert. Und plötzlich, ohne dass ich es erst realisiere zerschlägt Joe mit voller Wucht die Scheibe.
Euphorie befängt den Schlafenden. Die Augen erst geöffnet erblickt er eine neue Welt. Eine farbenfrohe Welt. Die Sonne brennt durch die weit geöffneten Fenster und der leichte Duft von frischgebackenem Brot umtänzelt die Nase des eben erwachten. Doch der eben noch Schlafende weiß nichts von dem Tag. Er hatte eben erst begonnen, er weiß nichts von den Wolken und dem Regen.
Und wild und stürmisch reisst er seinen Körper hoch und tanzt in wildem Reigen. Tollwütig tanzt er und stürmt er aus dem Zimmer in das große Haus. Die Welt erwartet ihn!
Wir ergreifen die Früchte und das Gebäck und stopfen uns die Mäuler voll. Ich fresse und fresse so schnell ich kann. Ich kaue erst garnichtmehr so sehr möchte ich mich erfüllen mit diesen wundervollen Geschmäckern. Wo waren wir in den letzten Tagen und Jahren? Wo war diese Euphorie. Doch auf einmal geht die Alarmanlage los. Sie schallt im ganzen Gebäude und erfüllt die Straßen mit ungehörigem Lärm. Wir sehen uns an und packen so schnell wir können alles in unsere Taschen. Mein Herz pumpt schneller als je zuvor. Ich merke es in diesem Moment nicht, denn ich bin so fokussiert und so alarmiert, dass mein Verstand ausgesetzt hat. In diesem Moment hat keine Stimme in meinem Kopf gesagt ich solle besser aufpassen und wo das hinführt und über das Leben und die Moral. Nein, es war eine Adrenalinpumpe mit Lachgaseinspritzung. Und schneller und schneller und schneller. Wir lachen, denn wir können nicht beschreiben, noch begreifen was hier vor sich geht. Wie toll wüten wir inmitten des Essens und dann laufen wir um unser Leben. Wir lachen dabei und laufen so schnell wir können und schneller. Immer schneller dreht sich die Welt, und wir mitten in ihr! Wir laufen und fallen über unsere Füße. Wir schallen durch die Straßen. Niemand kann uns stoppen
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Mit strahlendem Gesicht sieht mich Joe an. Ich lächle ihn an und er meint nur: "was war das eben?" Ich lache: "ha, ich weiß es nicht!!" Ein letzter Rest von Schokocreme klebt noch an meiner Backe. Ich kratze sie ab und lecke mir gierig die Finger. Das müssen wir noch öfter machen sage ich, noch auf seltsame Art außer Atem.
Carry lacht und lacht.. eher ein Kichern, sie kichert vor sich hin, ohne ersichtlichen Grund, aber so fühlen wir uns alle. Das ist besser als eine Droge, das Adrenalin, das Feuer in der Brust. Aber die Anspannung ist nicht das wovon man abhängig wird. Die Leere nach dem Sturm ist es wonach man sich sehnt. Wenn man nahe am Abgrund steht, weiß man den festen Boden unter den Füßen erst richtig wieder zu schätzen. Nachdem man sich in immer extremere Situationen begiebt, leert sich der Kopf, man wird ruhig. Friede breitet sich aus, der Körper entspannt sich.
Und die Tage vergehen während wir es immer und immer wieder tun. Es ist ein Sog und man möchte sich in ihn fallen lassen. Man möchte mitten hineinspringen und schreien. Wir laufen immer schneller und stehlen immer mehr, immer teurere Dinge. Nicht weil wir sie brauchen, nein, die Spannung ist einfach größer. Und wenn der Kopf leer wird, weiß man man ist am Ziel. Doch immer wieder kehrt der Lärm zurück und man glaubt der Kopf wird einem explodieren. All diese Dinge die man machen muss und sollte und all das was man erreichen möchte und wer man ist und sein sollte und warum man einzigartig ist und warum.. doch alles was man sich wünscht ist Ruhe.
Nach wochenlangen Raubzügen durch die Stadt haben wir ein Inferno ausgelöst. Menschen haben sich uns angeschlossen, erst Freunde, dann Bekannte und dann alles mögliche. Die Lage gerät außer Kontrolle, auf uns ist ein Kopfgeld ausgesetzt. Ich wusste nicht einmal dass es sowas außerhalb von klischeehaften Western gibt, aber der Staat scheint es wirklich auf uns abgesehen zu haben. Natürlich hausen wir nicht mehr in unserem Appartement, wir leben jetzt in einer Höhle abseits der Stadt, in die wir immer wieder zurückkehren und unser Leben feiern, im wilden Taumel des Adrenalinrausches zurücktanzen und singen.
Es ist dieses Gefühl am Leben zu sein. Das Feuer in der Brust zu spüren, kein Tropfen im Ozean zu sein, sondern der Blitz, der in den Ozean einschlägt und ihn elektrisiert und auflädt und zucken lässt. Und ich lade immer mehr Menschen ein an diesem wunderbaren Fest teilzunehmen.
Doch die Menschen rüsten auf. Es ist Standard eine Waffe zu besitzen, wenn wir so weitermachen landen wir in Anarchie. Doch wir wüten und toben, ohne Sinn und Verstand, denn den wollen wir loswerden und abtöten.
Kunar steht vor unserer Höhle. Er ist aus Indien und spricht nur gebrochen unsere Sprache. Seine Augen sind so braun wie seine Haut, und nur das weiß sticht aus seinen Höhlen hervor. Er hat einen leeren Blick und wirkt leidenschaftslos, kühl und berechnend. Wenn er eintritt sieht er sich nicht um, sondern geht mit den Augen nach vorn gerichtet auf mich zu. "Ich habe gehört was ihr veranstaltet.. ich möchte mitmachen.. ich habe gehört es ist besser als Drogen!!" Ich lache: "Ja, das ist es!" Ich fühle mich plötzlich stark. Alle diese Maden die angekrochen kommen und Erlösung suchen, und sie flehen mich an ihnen den Weg zu zeigen. Unseren Weg. Der kalte Steinboden lässt meine Füße durch die Schuhe hindurch frieren und ich gehe auf und ab um mich zu wärmen. Ein Gefühl der Macht, das ich früher nie kannte übermannt mich. "WIESO sollten wir AUSGERECHNET DICH in unsere Kreise aufnehmen? Wie kannst du dich als würdig erweisen?!" Kunar stottert und versucht Wörter aus seinem Gehirn zu fischen, doch er versagt kläglich. Sein Mund zittert und geht auf und ab, doch nur krächzende Laute verlassen ihn. "Ich bin ein schneller Läufer" meint er letztendlich. Ich lache ihn aus und verhöhne ihn. "Das ist alles? Glaubst du es geht nur darum das wir WEGLAUFEN? Nein! Die anarchischen Raubzüge - so nannten wir unsere nächtlichen Touren, wir genossen das Chaos das unsere Berauschung verursachte, wir fühlten uns als Helden, als Vorhersager eines neuen Zeitalters - sind mehr als nur weglaufen. Sie sind ein Lebensinhalt, sie sind ein Weg die Gesellschaft zu verändern und höheres Bewusstsein zu erlangen!" Kunar steht vor mir und zittert. Seine Augen schnellen immer wieder nach unten, wie um nach einer Lösung, nach Hilfe zu suchen, doch da war nichts das ihm helfen konnte. Seine Hände glitten um seinen Kopf, er fuhr sich durch die Haare und zerzauste seine mittellange Mähne. "Nein, bevor du uns beitreten kannst, musst du dich erst beweisen!" Ich fühlte das Blut in mir wallen, ich genoss es Anführer zu spielen. Wo kommt dieser Drang zur Macht her? War er schon immer da?
Kunar blickt plötzlich hoch zu mir, die Augen weit aufgerissen, als ob er wartete was ich noch sagen werde. Ich warte extra ein paar Augenblicke, bevor ich ganz ganz langsam anfange zu sprechen. "Bevor du an einem anarchischen Raubzug teilnehmen kannst, musst du dich erst beweisen. Und zwar wirst du mir die Dienstwaffe eines Polizitsten besorgen. Es ist mir egal WIE du es anstellst, doch wenn du dies schaffst, weiß ich, dass du genug Mut und Willen hast mit uns auf die Jagd zu gehen. Er blickt mich eine Zeit verstört an, und dann rennt er hastig aus der Höhle, hinaus in die Dunkelheit. Der Wind umpfeift die Höhle. Draußen sieht man in der Dunkelheit lediglich die Bäume taumeln, garstige Schatten tanzen.
Wir sind nicht nurmehr zu 3. Hunderte folgen uns, doch einige wissen nicht einmal wer wir sind, sie haben nur von uns gehört von unserem Wahn und von der Erlösung die wir suchen, und sie waren eingenommen von der Idee. Wir mussten niemanden überzeugen. Die Leute leiden genug, jede Versprechung von Erlösung wirkt von ganz alleine. Das ist der Grund warum wir soviele Produkte kaufen die wir nicht brauchen. Wir glauben wir könnten dadurch glücklicher werden, doch wir haben letztendlich nur ein Produkt mehr im Regal, wir bleiben aber doch der gleiche Mensch. Im heutigen Marketing ist es nichtmehr die Nachfrage die das Angebot bildet, nein, denn wir haben alles was wir brauchen. Heute kann man nurmehr Produkte verkaufen, indem man den Menschen glauben macht sie bräuchten so etwas um GANZ zu werden. Doch diesen Mythos haben wir mit den anarchischen Raubzügen zerstört. Nachdem wir ein Geschäft ausgeraubt haben, einen Bankomat gesprengt haben oder ein Auto angezündet, brauchen wir keine Produkte mehr. Wenn das Blut in den Adern schwellt, das Herz in den Halsraum pocht und Feuer in der Brust lodert, ist das letzte was man braucht ein Zahnbleichmittel. Nein, wir wissen, dass wir ganz sein können, auch ohne fremde Hilfe. Wir müssen es nur richtig anstellen.
Marius steht vor unserer Höhle. Er ist ein 19jähriger Junge. Kein Mann steht hier vor uns. Er ist hager und bleich, und ich frage mich was die Gesellschaft aus diesem Menschen gemacht hat. Aus dem wilden Tier als das er geboren wurde ist eine zitternde Made geworden. Die Angst tritt ihm aus den Poren, sein Gesicht ist angespannt und er tritt nur ganz langsam näher. Ich muss ihm befehlen schneller herzukommen, da er einfach nicht vorwärts kommt. Seine fahle Stimme ist in der riesigen Höhle kaum zu hören, während meine Kommandos durch die ganze Höhle hallen und bis in die Berge getragen werden. Seine Augen sind rot und blutunterlaufen. Ich frage ihn ob er geraucht hat, doch er meint, dass das nur vom vielen in-den-Bildschirm-starren kommt. Plötzlich weiß ich woher mir dieser hagere Typ bekannt vorkommt. Ich erkenne mich selbst in ihm wieder. Die Nächte vor dem Bildschirm, die fahle zittrige Stimme, die dürren Arme und die blasse, fast gräuliche Haut. In einer Gesellschaft in der wir von Frauen großgezogen werden haben wir verlernt was es heißt ein Mann zu sein. Wir haben Angst vor unserer Dominanz und vor unserer Sexualität. Wir fürchten uns, kein Gentleman zu sein, und wir werden getrimmt auf Liebe und Emotionalität. Doch wir sind gemacht um zu jagen und zu kämpfen und dieser innere Konflikt zehrt an unseren Seelen. Marius ist nur ein Prototyp, ein vollendeter Ausdruck der feminisierten Kultur. Was soll er darstellen? Er ist nur ein Grashalm im Sturm, kein Fels in der Brandung.
Ich schreie ihn an: "Was hast du hier verloren!!!???" "Was zur Höller stellst du dar?"
Entweder brechen sie den Bann, oder du zerbrichst sie. Aber sie können einfach nicht so weitermachen wie bisher. Wir durchlaufen die selbe Prozedur .. die Dienstwaffe des Polizisten, der Mut und der Wille, doch ich sehe in seinen Augen das er es nicht schaffen wird. Ich möchte ihn zu gerne erleuchten, zum Mann machen, doch ich weiß insgeheim, dass er hier zerbrechen und zersplittern wird.
Das ist nicht seine Welt, er ist zu weit abgedriftet. Er ist am offenen Meer und wird umhergerissen von Wellen die zu groß sind, als dass ich ihm mit einem Seil herausreissen kann.
Seine Augen sind wässrig und sein Gesicht spannt sich immer mehr und mehr an.
Ich starre ihn ununterbrochen an, doch er bricht den Augenkontakt ständig und wirft den Blick gen Boden. Mit ruhiger, völlig sanfter Stimme rede ich nun: "Bring mir die Waffe und du bist dabei"
Plötzlich sieht er auf, mit einem Schimmer Hoffnung in den Augen, in den gläsernen blutunterlaufenen traurigen Augen. Doch ich habe wenig Hoffnung für ihn, ich glaube nicht, dass er den Wahnsinn und die Tollwut schmecken kann, das veränderte Bewusstsein des Grenzenüberschreitens. Ich glaube nicht, dass er eine neue Welt kreiren kann, eine starke, brennende Welt, eine kräfitge Welt in der Menschen mit Leidenschaft brennen und ihre Herzen nach außen tragen.
Langsam und ohne einen Ton von sich zu geben verlässt er die Höhle.
Ich richte mich auf und mache mich bereit.
Der Abend ist noch nicht vorbei, das heutige Erlebnis steht noch vor uns.
Ich streife mir eine schwarze Lederjacke über und verlasse die Höhle. Mir folgen 5-6 Leute. Carry und Joe direkt hinter mir. Was machen wir hier? Wo zur Hölle steuern wir hin? Ich mache mir kein Bild davon, worauf wir zusteuern, denn ich weiß einfach, dass die extreme Präsenz die ich in mir spüren kann nur richtig sein kann. Ich gehe über Leichen.
Die Fenster brechen und Autos brennen. Glas splittert lautstark und Reifen knallen. Ein Inferno an glühenden Stahlteilen und explodierenden Tanks ergießt sich über den schwarzen Nachthimmel. Es riecht nach Benzin und verbranntem Plastik. Das TNT ist noch nicht gezündet, doch von fernher hören wir Sirenen und Hubschrauber. Jetzt haben sie Hubschrauber? Wir scheinen auf ihr zentrales Nervensystem zuzugreifen, auf ihre pochende Ader einzuhämmern. Wir korrumpieren ihr Wertesystem. Wir zerstören die Illusion der Sicherheit. Die Menschheit hat sich riesige Nester gebaut, um sich von der Natur zu isolieren, von ihren gewaltigen, willkürlichen Kräften. Wir zerstören diese Illusion.
Langsam schreite ich durch die Straßen, ohne Eile, doch ich habe soviel Macht gehortet, die ganze Stadt verehrt mich. Selbst Polizisten sind teilweise auf unserer Seite, denn insgeheim ist die Frustration der Menschen eine riesige offene Wunde. Ich spucke lediglich hinein und sage ihnen, dass sie nicht ganz so gesund sind wie sie glauben.
Doch der Grund warum ich es tue ist kein moralischer. Ich möchte die Präsenz in mir spüren, den Wahnsinn, die Tollwut im Moment zu sein, den Reigen der Euphorie. Tötet den Verstand, vernichtet die Vernunft! Lebe, lebe lebe, lebe!!!!!
Höher, intensiver, dreckiger, Weiter, schneller, schneller. Lebe, lebe! Geifer! Gier! RASEREI!
Hinter mir explodiert ein Auto, ich sehe rund um mich Menschen die Chaos anstiften, doch die Sirenen kommen näher und langsam kommt es. Das Adrenalin.
Ich fühle es Stück für Stück meinen Körper kurzzeitig lähmen, kurzzeitig paralysieren, doch dann durchströmt mich mehr Energie als zuvor. Mein Herz rast und pocht und schlägt mir bis in den Kopf, es schlägt durch mich hindurch, hinaus in die Welt, ich transzendiere meinen Körper und verbrenne ins Universum. Und das Rennen beginnt. Ich sprinte los und beschleunige so schnell ich kann.
Häuser preschen an mir vorbei, ich berausche mich an meiner Angst und den Urkräften die in mir aufblühen. Ich fühle die Welt so pulsierend und stark wie sie wirklich ist, so lange bis ich wieder in meiner Höhle bin, und das konstante Tropfen des kühlen Wassers auf kalten Steinboden mich beruhigt. Mein Körper kühlt sich ab, wird langsamer, mein Atem beruhigt sich und wird normal. Ein Rhythmus klingt sich ein, und mein Brustkorb hebt und senkt sich. Ein Lächeln ziert mein Gesicht. Leere. Dafür leben wir.
Tage vergehen. Das selbe Spiel. Die selbe Raserei, die selbe Leere.
Es ist unmöglich dass sie uns erwischen, wir sind zu gut, wir sind zu genial. Wir kreieren unsere Anarchie, wir lassen die Welt in ihrem Wahnsinn erkeimen und wir brechen die tief vermoderte Fäulnis auf, um Platz zu schaffen für allumfassende Leere und Schönheit.
4
Der ehmals Schlafende erkennt nun langsam Umrisse der Welt. Er versteht ihre Regeln, ihre Rhythmen und er schwingt mit ihnen. Mit voller Energie und wild zuckend rennt er los in die Welt, in die Arbeit, motiviert, doch nun erkennt er noch nicht, dass Energie nicht statisch ist, und er nicht ewig mit dieser donnernden Leidenschaft gesegnet sein wird. Die Sonne steigt höher und höher, doch der Erwachte weiß nicht, dass sie irgendwann wieder sinken wird. Doch bevor er erkennen kann muss er wie Ikarus gen das Licht fliegen und in ihr schmelzen und verbrennen.
5.
Ein junger Mann steht vor unserer Höhle. Auf den ersten Blick erkenne ich ihn nicht. Eine riesige Narbe thront über seinem rechten Auge. Sein T-Shirt ist zerrissen und sein Blick ist ernst.
Doch plötzlich erknenne ich wer es ist. Marius ist widergekehrt. Er hält eine schwarze Pistole in seiner Hand. Ich nicke ihm zu. Er ist jetzt bereit.
6.
Wir rennen und schreien und Marius hält in seiner Hand noch immer die schwarze Dienstwaffe. Plötzlich feuert er auf eine alte Frau die am anderen Ende der Straße entlangläuft. Ich schreie auf, wie als ob ich aus diesem Traum aufwachen möchte. WAS HABE ICH GESCHAFFEN? Autos brennen rund um uns herum, Tanks brennen und explodieren. Es riecht nach verbranntem Gummi und nach Benzin.
Was habe ich geschaffen? Marius lacht und schreit: "ANARCHIE!"
Nachdem ich Marius eine Weile gemustert hatte und seine Narbe betrachtete frage ich ihn: "Was hast du gemacht?". Er schweigt. Neben uns stehen an die 15 Mitstreiter. Die Luft scheint still zu stehen. So die Zeit.
"Was hast du gemacht?"
"Ich habe die Mission erfüllt" Sein Blick ist ernst und nichts ist mehr übrig von dem Gezittere, dem fahlen kleinen Jungen im Körper eines Erwachsenen. Er steht da, und genügt sich selbst. Wir haben einen Mann aus ihm gemacht. Doch zu welchem Preis? Er macht winzige Bewegungen mit seinen Lippen, als ob er mit sich selbst reden würde.
Nachdem die Autos brannten und Scherben splitterten und Menschen starben. Die Sache läuft aus dem Ruder sagte ich immer. Doch sie wollten nicht hören, sie wollte nicht hören. Sie wurden immer aggressiver und vergaßen den Sinn der Sache. Sie vergaßen warum wir das ganze machten. Wir wollten nicht die Gesellschaft verändern oder Menschen verändern oder gar töten. Wir taten es doch nur wegen diesem geilen Gefühl, wegen dem Rausch. Die Ideale kamen erst später. Und alle diese Jungen, die aus ihrer Schale gerissen wurde, hinaus in die Welt getragen wurden und hoch in die Luft gehalten wurden, in den kalten Sturm. Sie lernten die Gefahr, die Brutalität und den Kick zu lieben. Sie begruben ihre alte Identitä als Loser und fanden sich wieder, doch was sie sich aufbauten hatte nichts mehr mit der Leere zu tun was wir suchten. Sie suchten sich nur ein neues Gefäß das sie befüllen konnten.
Doch nun brennen die Städte, und ich kann mich nur verstecken, denn ich bin der Gründer dieser Anarchie. Mir verdankt man diese Bewegung, diese Ideologie. Und dabei wollte ich doch nur glücklich sein ... für einen Moment.
Der Wachende erkennt nun langsam Muster im Leben. Er versteht tiefere Zusammenhänge, er erkennt und begreift. Er wird immer wacher und lebt intensiver und intensiver. Er spürt die Farben und hört die Formen auf neue Arten und Weisen. Dinge bekommen mehr Tiefe, und man lernt jene zu schätzen, anstatt immer nur nach mehr Breite zu suchen.
Es ist nurmehr eine kurze Zeit, bevor die Sonne sich senkt, und der Wachende sich erneut schlafen legt. Doch diesmal wird er sich nicht in Tiefschlaf versenken, sondern er wird eins mit dem Schlaf und allen Schlafenden sowie allen Wachenden werden. Der tiefste Schlaf den er je erlebt und zugleich höchste Aufmerksamkeit. Die Fähigkeit beides scheinbar konträre im Kopf zu bewahren und nicht zu urteilen. Bis sich die Sonne wieder hebt... und senkt, in alle Ewigkeit.