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Falsches Gleichgewicht
– Seht wie die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwindet. Atmet ein und stellt euch vor, euer Körper würde sich mit all dem füllen, was euch heute aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Nun pustet all diese Dinge mit eurem Atem aus.
Mit ruhigem Blick schweift der Meditationslehrer über die Gesichter der elf Teilnehmer. Seit ein paar Wochen waren es immer mehr als fünf; so viele brauchte er mindestens in jedem Kurs, um die Miete für dieses ausgebaute Dachgeschoss zu bezahlen. Sein Bett stand hinter einem Vorhang. Yoga für Einsteiger, für Schwangere und für Kinder, Meditation für Fortgeschrittene und diesen Kurs hier für Meditationseinsteiger gab er. Fünf Kurse insgesamt zu jeweils zwei Terminen. Zweimalfünfsindzehnmalfünfteilnehmer – fünfzigmalzehn Euro in der Woche. Macht pimaldaumen zweitausenzweihundert Brutto minus Miete, Strom...
– Auch dieser neue Tag ist fast vorbei. Atmet noch einmal tief ein, schließt die Augen und versucht zu spüren, wie die letzten Momente des Tages vergehen, wie die Nacht kommt, um uns in den ruhigen Schoß ihres Schlafes zu wiegen. Atmet jetzt wieder aus! Macht die Augen auf! Wir haben schon wieder das Ende unserer Meditation erreicht. Ich danke euch, dass wir sie gemeinsam erleben konnten.
Während die Kursteilnehmer gemütlich ihre Sachen anzogen, setzte er sich auf das Fensterbrett eines Erkers und schaute hinaus auf den grünen Platz. Er spielte mit den Räucherkerzen, die auf den Schalen einer reich verzierten, silberne Waage lagen. Ihre Balken zeigten stur das zufriedenste Gleichgewicht an.
– Woher kommt diese schöne Waage, Fredrik?, fragte ihn in kindlicher Neugier ein kindsgesichtiger Mann, auf dem Weg zum Ausgang.
– Aus Indien. Die Mechanik hat vielleicht nie richtig funktioniert. Siehst du?
Er nahm alle Räucherkerzen von der einen Schale und nichts bewegte sich.
– Als ich bei meinem Meister lernte, schenkte sie mir ein Händler, den ich dabei erwischt hatte, wie er mich mit dieser Wage austricksen wollte. Als ich ihn auf darauf ansprach, schenkte er sie mir. Ich weigerte mich erst, aber er wollte mich nicht gehen lassen, bis ich sie mitnahm. Mein Meister erkannte die Wage und ich erzählte, was geschehen war. Dazu sagte er nur, wie schade er es fände, dass die Waage nicht mehr beim Händler wäre. Er glaube, dass es schwer sein würde eine neue Waage in der Stadt zu finden, die so gerecht messen könnte.
Auf Fredriks Gesicht mache sich eine Verwunderung über den märchenhaften Klang dieser Geschichte breit. Eine Vergangenheit, die in einem Moment so lebendig werden konnte, war vielleicht noch nah genug, um ihre Hoffnungen wiederzugewinnen – das versteckte Band zwischem dem, was ihn umgibt, wieder aufzunehmen und den Fluss des Seins wieder als gleichen und doch verschiedenen zu erfahren. Er schüttelte die Gedanken ab, als ihm wieder bewusst wurde, wo er war. Er sprang vom Fensterbrett auf und gab den Vorbeigehenden die Hand: Tina, der Bürokauffrau mit Dreadlocks, Markus dem Deutschlehrer … – er konnte sich schlecht an ihre Namen und Berufe erinnern, obwohl immer, wenn jemand zum Kurs hinzu stoß eine ganze Vorstellungsrunde gemacht wurde.
Von dem, was Tom der Manager ihm sagte, hörte er nur noch den letzten Teil.
– … Indien. Weg von dem ganzen Druck hier. Ich arbeite gerade sechzig Stunden die Woche, ich weiß gar nicht, wie ich das schaffe. Aber dein Kurs hilft mir sehr!
– Hm... Danke! Wie geht’s deiner Familie? Hast du eigentlich Kinder?
– Ja, zwei Mädchen. Dahlia ist jetzt sechs und Miriam sechzehn. Du kannst die sicher vorstellen wie sechzehnjährige sind. Wir lassen Miri ihren Freiraum. Natürlich darf sie auch nicht alles. Aber man kennt das ja: dann machen sie's eben heimlich. Letztes Wochenende kam sie um zehn Uhr am Morgen nach Haus, nach dem sie angeblich bei einer Freundin übernachtet hatte. Man hat aber gleich gesehen, dass sie keine Sekunde geschlafen hatte, sondern vor kurzem noch auf irgendeiner Tanzfläche stand. Naja, das gehört wahrscheinlich auch dazu. Jetzt sind ich und meine Frau ein wenig vorsichtiger.
Sie waren die beiden letzten im Raum.
– Ich glaube, du solltest dir keine Sorgen, um deine Tochter machen. Wir müssen alle unsere Erfahrungen machen, ob früher oder später...
– Klar, ich denke nur, sie ist zu neugierig um zu wissen, wo ihre Grenzen sind. Ich will einfach nicht, dass sie sich in dieser schillernden Welt aus Partys verliert.
Sich selbst an Partys verlieren? Welchen Teil des Ich meint er? Soll ich gerade die Verbindung zu mir selbst, meinen Wünschen und Leidenschaften im Exzess verlieren? Im besten Fall ist er eine Brücke auf Zeit – eine Brücke … zum Glück. Zum ganzen Glück, dem das mehr ist als das bloße einzelne, der kleinen Bürger, deren Errungenschaften man nur hinter tausend Mauern und Gräben genießen kann – die Plattensammlungen, die neuen Autos, all das. Eher als an sich selbst verliert man den Halt an den Fensterwänden der Bürotürme dieser Welt, die man sonst vielleicht zu putzen hätte. Wie sollte er das jemandem erklären, der sechzig Stunden in der Woche auf der anderen Seite der Büroturmmauer hockt, um am Abend nur noch hinter die Wände seines Hauses zu kriechen und zu schlafen? Wenn Fredrik Geld von ihm will, sollte er vielleicht damit warten. Langsam musste sein letzter Gast gehen, denn bald fing die zweite Schicht seines Abends an. Fredrik nickte Tom mit halb ernstem, halb aufmunterndem Gesicht zu.
– Genieß' deinen Abend und grüß deine Töchter von mir! ...und deine Frau!
– Gut! Bis nächste Woche, schönes Wochenende wünsch' ich dir noch.
Es klingelte schon nach einer halben Stunde das erste mal an der Tür. Er nahm noch einen Schluck Tee und wartete bis es noch einmal klingelte. Diesmal nahm er den Hörer der Gegensprechanlage ab. Eine junge Frauenstimme sagte fast fragend den Satz auf:
– Ich möchte eine individuelle Meditationsstunde nehmen.
Der Türöffner surrte und oben guckte Fredrik durch den Spion. An dem spärlichen Sommerkleid zeichneten sich die weiblichen Rundungen eines Körpers ab , dessen schlaksige, unsichere Bewegungen davon zeugte, dass sie sich noch nicht allzu lange an ihn gewöhnt hatte. Sie war keine Frau sondern eine Jugendliche.
– Komm herein und setz' dich.
Er deutete auf einen Sessel, der vor dem Schreibtisch stand und folgte ihr von der Tür.
– Möchtest du einen Tee? Hier... Mit Milch?
Sie nickte nur. Er wollte sie aus der Reserve locken und blieb ruhig. Nach einer Weile in der beide schweigend an ihren Teebechern saugten, fragte er:
– Wie geht es dir ... äh … , er blickte sie fragend an.
– Gut. Ich will Teile, Extacy. Hast du welche da?, schoss es aus ihr heraus, als wollte sie Fredrik mit ihrer plötzlichen Abgeklärtheit die vorhergehende Stille vergessen lassen.
– Ok?! Ich habe welche da. Hast du das schon mal probiert? Wie alt bist du eigentlich?
– Alt genug. Ich weiß nicht, ob ich das schon probiert habe. Steht ja nicht auf den Pillen drauf, aber ich denk schon.
Fredrik blickte ihr lange skeptisch in die Augen.
– Neunzehn wenn du's unbedingt wissen willst. Bist du ein Bulle oder was? Interessiert dich doch wohl nicht wirklich?!
Es klingelt wieder an der Tür. Dies schien ein geschäftiger Abend zu werden. Er zog einen Plastikbeutel aus dem Schreibtisch. – Wie viel?
Entgegen der Richtung die drei Zehneuroscheine aus einem Jutebeutel über den Schreibtisch wanderten, rollten drei weiße Kugeln zurück. Eine trügerische Symmetrie. Ungleiches gebrochen auf das, was sie gleich macht. Geld fließt letztlich auch irgendwie.
Plötzlich klopft es an der Tür zum Dachboden. Und eine bekannte Stimme ruft laut:
– Fredrik? Ich hab meine Laptoptasche vergessen, ich brauch die dringend. Fredrik bist du da?
Es klopfte noch zwei Mal und nach jedem Ruf wirkte das Mädchen nervöser.
– Frederik, hier ist Tom!
Als er antwortete, er komme, und die Tasche schließlich nahm, stieß sie einen leisen Schrei aus.
– Bitte lass ihn nicht herein, flüsterte sie.
– Keine Angst! Miri?!
Durch die einen Spalt weit geöffnete Tür überreichte Fredrik Tom die Tasche.
– Hast du so spät noch Kunden, die meditieren wollen?, fragte er. Fredrik lächelte verlegen wegen des holen Glanzes seiner Worte:
– Die Menschen suchen Tag und Nacht nach einer Art anders zu leben.