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Für einen Moment ...
Langsam fährt der Wagen die Straße hinunter. Das kleine Mädchen winkt noch einmal durch die Heckscheibe, bevor sie abbiegen. Ein süßes Kind, lebhaft. Die blonden Locken verschwitzt vom Toben im Garten.
Ich gehe zurück ins Haus. Die untere Etage ist bereits leergeräumt. In der Küche lasse ich den Rollladen herunter. Im Wohnzimmer steht die Terrassentür noch offen. Der Garten ein wenig verwildert. Mein Baumhaus, hoch oben im Kirschbaum, überwuchert vom Blattwerk. Auf der Terrasse stehen einige alte Stühle, verlassen, wie stumme Zeitzeugen. Ich sehe Papa dort sitzen, den Kopf hinter der Zeitung verborgen.
"Papi, baust du mir ein Baumhaus?"
"Ein Baumhaus? Brauchen Mädchen ein Baumhaus, Tami?" Doch ich bemerke gleich das lustige Zucken um seine Augen, als er mich über die Zeitung hinweg ansieht.
"Mädchen können alles, was Jungs auch können, siehst du ..." Ich spucke auf den Boden.
"Tami! Sowas machen die Jungs?" Er nahm mich auf den Schoß.
"Ja, Papi, und noch viel mehr. Bekomme ich ein Baumhaus? Bitte." Meine Hände streicheln über seine stoppeligen Wangen. Lachend legt er die Zeitung zur Seite.
"Ein wenig Geduld wirst du brauchen. Dein Papa kann diese Jungssachen nämlich nicht ganz so gut."
Ich schließe die Tür. Lasse meinen Blick über die kahlen Wände schweifen, bleibe an einem der vielen, hellen Flecken hängen, die verraten, wo einst Bilder waren.
Papa und ich, im Garten. Kurz nach der Beerdigung.
Die Treppe nach oben liegt im Halbdunkeln. Ganz bewusst trete ich auf die vorletzte Stufe, höre das laute Knarren durch die Stille der Räume hallen.
"Ich kümmere mich darum", versicherte Papa immer wieder einmal.
Als Kind machte ich meist einen großen Schritt über sie hinweg, um den anstehenden Standpauken zu entkommen. Später wurde es zum Ritual, wenn ich erst nachts nach Hause kam. Ich wusste, Papa lag noch wach, wartete auf das Knarren. Da war Mama schon lange fort.
Nach meinem Auszug verlegte er sein Schlafzimmer nach unten, in einen kleineren Raum.
"Ich bin allein, Tami. Was brauche ich da so viel Platz."
Oben wirkt alles ein wenig gespenstisch. Möbelstücke mit Tüchern bedeckt, voller Staub, wie Geister. Die letzten zwei Jahre ist hier kaum jemand hochgekommen. Die Tür zu Mamas ehemaligem Arbeitszimmer steht offen. Ich ziehe den schweren Rollladen des großen Fensters nach oben. Sonnenlicht flutet den Raum. Staubflusen wirbeln im Licht. Ein heller Fleck im Parkett verrät, wo ihr Schreibtisch stand. Dort saß sie mit gesenktem Kopf und schrieb ihre Kolumnen.
Der riesige Kronleuchter hängt noch an der Decke. Das Klavier in der Ecke, schwer in die Jahre gekommen. Mamas Notenbuch steht auf der Ablage über den Tasten. Ich schlage es auf, betrachte ihre Notizen. Zwischen den Seiten finde ich etwas Bräunliches, Verschrumpeltes. Mit dem Finger versuche ich, es aufzunehmen, doch nur Krümel kleben an meiner Haut.
Eine Woge der Zuneigung ergreift mich, lässt meine Hände wie von selbst zu spielen beginnen. River flows in you ... du hättest es gemocht, Mama. Ich spiele das Lied bis zum Ende, beginne von vorn, fühle die Melodie, jeden einzelnen Ton. Plötzlich ist die Luft erfüllt vom Duft ihres Parfüms, eilige Schritte kommen die Treppe herauf.
"Mama, sieh nur, was ich gefunden habe! Ein vierblättriges Kleeblatt. Es soll dir Glück bringen, für immer und immer."
Sie drückt mich kurz an sich.
"Danke, mein Schatz", sagt sie lächelnd, legt es an den Rand des Klaviers und setzt ihr Spiel fort. Ich tanze durch den Raum. Strecke die Arme aus, drehe mich im Kreis. Mein blaues Sommerkleid hebt sich, die blonden Locken fliegen. Das Licht der Sonnenstrahlen bricht sich in den Kristallen des Kronleuchters, wirft bunte Lichtflecken an Wände und Decke. Wenn ich die Augen zusammenkneife, bis sie nur noch schmale Schlitze sind, verschwimmt die Kontur des Raumes. Dann ist es wie im Märchen, verzaubert.
Ich hatte schon einige Häuser ..., aber dieses ... Doch Papa hatte recht. Er mochte seine neue Wohnung, war nicht länger Geisel des Gartens.
Bald werden andere kommen. Fremdes Lachen wird durch die Räume klingen. Vielleicht erzählen diese Wände ihnen von uns und den Dingen, die sich ereigneten.
Ich verlasse das Haus, halte an der Tür kurz inne, ziehe sie ganz langsam ins Schloss, warte auf das leise Klicken, wenn sie schließt.