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Examen des Grauens
Die Atmosphäre war gespannt. Studenten strömten unentwegt in den großen Hörsaal herein und nahmen Platz. Die Reihen füllten sich langsam auf. Das Stimmengewirr wurde mit jedem neuen Studienkollegen, der hereinkam, intensiver. Ich spürte richtiggehend die Anspannung, die in der Luft lag. Es war Klausurzeit. Ich saß bereits seit zwanzig Minuten im Auditorium und habe es mir in der vierten Reihe bequem gemacht. Ich setze mich stets in die vierte Reihe. Mein Aberglaube zwingt mich dazu. Die vierte Reihe steht für einen Vierer als Note, meinem Minimalziel heute. Würde ich mich in die fünfte Reihe setzen, würde es mich nicht verwundern einen Fünfer zu schreiben. Alles was über die fünfte Reihe hinausgeht würde sich reziprok auf meine Klausurpunkte auswirken. Mit einem Vierer allerdings wäre ich hochzufrieden. Hauptsache positiv.
Der Professor kam mit seinem Troß an Assistenten, alle mit einer Schachtel Klausurbögen unterm Arm, bei der Türe herein. Man schloß sie und von nun an gab es kein Entkommen mehr.
"Kollegen und Kolleginnen, ich darf Sie recht herzlich zu unserem kleinen Quiz begrüßen, der über Ihre Zukunft an unserer Institution und somit auch über ihr Leben entscheidet, begrüßen. Die Klausur habe ich ganz nach meinem Geschmack vorbereitet. Hart und ungerecht." Ein entsetztes kollegiales Raunen setzte unter den Studenten ein; der Professor quittierte dies mit einem süffisantem Lächeln. Um dem noch eins draufzusetzen, fuhr er fort " Ich möchte sie nicht unnötig beunruhigen, aber als ich gestern die Klausur vorbereitet habe, verließ mich meine Frau in Begleitung der Kinder in Richtung ihrer Eltern. Sie werden das besonders bei den Multiple-Choice Fragen bemerken. Der Teil mit den offenen Fragen, entstammt aus der Zeit vor dem ehelichen Streit." Das kollegiale Raunen wiederholte sich.
"Werte Kollegen, für alle, die ich jetzt nicht vollkommen demoralisieren konnte und die noch immer den Zwang verspüren diese Klausur mitschreiben zu wollen, möchte ich darauf aufmerksam machen, daß Sie im Rahmen dieser Prüfung nun acht Blätter erhalten werden", an die Assistenten gewandt, "bitte, teilen sie jetzt die Bögen aus." Wieder an uns gerichtet "Auf den Seiten zwei und drei finden sie die offenen Fragen, die Ihnen keine allzu großen Problem bereiten sollten. Auf den darauffolgenden Blättern finden sie die berüchtigten Multiple-Choice Fragen. Auf das Anfangsblatt, das ihr Lösungblatt ist, bitte ich sie, in der Tabelle Ihre Kreuze mit den womöglich richtigen Antwortalternativen zu übertragen. Achja, bevor ich es vergesse, bedenken Sie, daß Schummeln zwecklos ist. Erstens gibt es verschiedene Klausurgruppen, Gruppe A,B,C und D, und zweitens dürfen Sie nicht vergessen.....ich sehe alles." Hämisch grinsend ließ er sich auf seinen Stuhl nieder, und überließ uns verzweifelten Studenten unserem Schicksal. Viele griffen gierig nach den Fragebögen, die die Assistenten austeilten, um dann, nach kurzem Überblicken der Fragen, resignierend vornüber zu kippen und mit dem Kopf auf dem Tisch aufzuschlagen. Ein Kollege stand, kaum waren die Klausurbögen ausgeteilt, zwei Reihen vor mir, mit käseweißem Gesicht auf, packte seine sieben Schummelzettel ein und gab dem verdutzten Assistenten, der dabei war, nach abgeschlossenem Austeilen, wieder zum Rednertisch hinunterzugehen, seine Klausur in die Hand, und verschwand laut fluchend aus dem Auditorium. Der Professor, dem diese Situation nicht entgangen ist, wollte dies nicht unkommentiert lassen, und rief laut aus: "Ihr werter Kollege hat sich wohl im Hörsaal geirrt." Müdes Gelächter unter meinen Leidesgenossen.
Wie auf Befehl setzten sich in etwa dreihundert Stifte gleichzeitig in Bewegung und vereinten sich zu einem homogenen Kratzgeräusch. Auch ich nahm meinen Glückskugelschreiber in die Hand, und schloß mich dem Chor an. Die Minuten vergingen wie im Fluge, und ich versuchte mein in den letzten beiden Tagen angestautes Wissen zu Blatt zu bringen. Die offenen Fragen stellten für mich keine allzu große Herausforderung dar, aber das war mir nach den Worten des Professors auch klar, daß der verzwickte Teil des Examen erst in Gestalt der Multiple-Choice-Fragen auf mich wartete.
Plötzlich vernahm ich von meiner rechten Seite ein kurzes "Ach, scheiß drauf.". Ich blickte rüber, und sah wie mein unmittelbarer Sitznachbar im Begriff war auf ganz paradoxe Mittel zurückzugreifen, denn nachdem er bereits seit 10 Minuten, immer wieder kopfschüttelnd, die Multiple-Choice Fragen durchforstet hat, wollte er wohl nicht länger auf eine göttliche Eingebung warten und zauberte kurzerhand einen Würfel aus seiner Hosentasche, und fing zu würfeln an. Nach dem ersten Wurf, eine Drei, sagte er leise zu sich :"Mmmmh, könnte sogar stimmen!", und kreuzte ohne viel Nachzudenken die dritte Antwortalternative an. Seine Nerven möchte ich haben, und wand mich wieder meinem Bogen zu. Da hörte ich eine weibliche Stimme hinter mir, die zu ihrem Nachbar sagte:
"Psst...was hast Du bei der zweiten Frage angekreuzt?"
Ein entnervtes "Psch!" war die Folge.
"Bitte...Frage zwei!."
"Ich weiß es nicht."
Kurze Stille. Dann wieder ihre Stimme.
"Hey, was hast Du bei Frage zwei?"
Diesmal vernahm ich eine andere Stimme. Mußte ihr anderer Sitznachbar sein.
"Nicht dasselbe wie Du. Wir haben verschiedene Gruppen."
"Scheiße."
Ich wußte schon, was jetzt kommen würde, und stellte mich bereits mental darauf ein. Schon spürte ich ihren Atem an mein Ohr dringen, und mit hauchender Stimme flüsterte sie mir zu: "Hey, was hast Du bei Frage zwei?" Ich anwortete rasch: "Kreuz B an!" Ein gehauchtes "Merci" war ihr Dankeschön. Ich bin doch gerne hilfsbereit, auch wenn ich nicht gar nicht wußte, ob wir dieselbe Gruppe waren, geschweige was die betreffende Frage überhaupt war. Dort war ich noch gar nicht angelangt.
Ich widmete mich nach meiner Gehässigkeit wieder meinem Bogen zu, und ging die erste Kreuzerl - Frage durch. Immer wieder ging ich die Frage durch und untersuchte die Antwortalternativen, welche am ehesten in Betracht zu ziehen ist. Erst nach circa fünf Minuten setzte ich mit zittriger Hand mein erstes Kreuz. Anscheinend war ich nicht der einzige mit Problemen, denn von meiner rechten Seite hörte ich ein "Hmm, warum nicht?". Mein Sitznachbar hat sich mittlerweile vollkommen aufgegeben und überließ sich dem Schicksal des Würfels und vertraute ihm bedingungslos.
Ganz vorne in der ersten Sitzreihe kam Bewegung in die Reihe sitzender Studenten. Ein Mittzwanziger, schön geschniegelt mit feinem Anzug und zurückgegelten Haaren, ist in der Zwischenzeit aufgestanden, und drängt sich an seinen Kollegen, die etwas widerwillig aufstanden, vorbei. Wohl denkend, wieso der Anzugmann ausgerechnend in der Mitte hinsetzen mußte, wohlwissend, daß er die Klausur als erster abgeben wird - das Käse-weiß-Gesicht, das ganz am Anfang bereits das Handtuch geworfen und abgegeben hat, zähle ich aus verständlichen Gründen nicht mit. Nach ein paar mürrischen Grunzlauten der anderen, trat der Streber mit seinem Dr.Best-Lächeln zum Professor vor und drückte ihm, bewußt, daß er wieder eine hervorragende Arbeit geschrieben hat, seine Arbeit in dessen Hand. Der Anzugtyp ist mir schon in den Vorlesungen negativ aufgefallen. Dauernd seine Wortmeldungen und Fragen an den Professor, deren einziger Zweck nur sein konnte, seine Überlegenheit gegenüber mir und den anderen Durchschnittsstudenten hervorzustreichen. Irgendwie beneidete ich ihn.
Aber jetzt mußte ich mich wieder auf meinen Klausurbogen konzentrieren, zu viel Zeit ist schon vergangen. Um mich von nichts mehr ablenken zu lassen, brachte ich das Mädchen mit der schön hauchenden stimme hinter mir, die mich seit der ersten Antwort, nun unentwegt nach den Lösungen fragte, zum Schweigen, indem ich auf ihre Frage, welche Alternative bei der achten Frage stimme, ihr lapidar antwortete "J!" Ihre Antwort ließ nicht lange auf sich warten:
"Was?"
"Antwort J!"
"J gibt es doch gar nicht!"
Ich konnte direkt hören, wie sie anfing sich an ihrem Kopf zu kratzen, nach einer Weile entkam ein gehauchtes "Scheiße" ihren Lippen; von da an ließ sie mich mit ihrer Fragerei in Ruhe.
Meinem Nachbarn setzte die Klausur mehr als erwartet zu. Jetzt fängt der Kerl nämlich schon an, seinem Würfel nach jedem Wurf beizupflichten "Ja, Du hast Recht." Verrückt.
Es hilft nichts, ich muß jetzt weitertun. Wie lange habe ich noch Zeit? Anscheinend habe ich laut gedacht, denn mit einem Ruck hat sich der Professor erhoben und ließ verlauten, daß wir nur noch 10 Minuten Zeit hätten und langsam ans Aufhören denken sollten. Augenblicklich geht mir durch den Kopf "Schluß machen? Ich habe doch erst gerade begonnen." Langsam kam Unruhe in den Hörsaal. Immer mehr Studenten standen auf und gaben ihre Arbeit ab. Die einzelnen Sitzreihen wurden desto lichter, je höher der Stoß mit den Klausurbögen am Tisch vom Herrn Professor. Ich mußte mich beeilen, noch hatte ich gut ein Drittel der Multiple-Choice-Fragen vor mir.
"Herr Kollege in der vierten Reihe und eine Reihe davor, Frau Kollegin und Herr Kollege, bitte geben sie jetzt ihre Blätter ab!"
Wie?Was?Wann?Wo? Ganz unbemerkt hat sich der Saal bis zur Gänze geleert - ich hatte mich schon gewundert, wieso ich meinen würfelnden Nachbarn nicht mehr gehört habe - übrig waren nur noch der sadistische Professor, eine Kollegin eine Reihe vor mir, die mit einem Heulkrampf zu kämpfen hatte, gleich daneben ein Bursche, der passend zur BWL-Klausur ein rotes T-Shirt mit dem Rückenaufdruck "Nieder mit dem Kapitalismus" trug, und natürlich meine Wenigkeit. Der Bursche sagte laut zu sich "Das Glück hilft dem Mutigen", und setzte auf seinem Antwortblatt wahllos die restlichen Kreuze hin. Und ich war noch immer nicht fertig, drei knifflige Fragen hatte ich noch vor mir. Der Pseudo-Kommunist ist mittlerweile aufgestanden und hat mit den Worten "Für mich zählt nur der olympische Gedanke!" dem lächelnden Professor seine Klausur gegeben.
Die Kollegin vor mir heulte noch immer, und nachdem der Lehrkörper verkündete, daß für uns die Galgenfrist verstrichen ist und er keine Klausuren mehr annehmen wird, löste sie sich vollkommen auf. Ich mußte, als ich nach vorne zum Professor sprintete und an meine Mitstreiterin vorbeikam, an ein zusammengebrochenen Staudamm, der nicht mehr länger das Wasser zurückhalten konnte, denken. Hatte aber jetzt keine Zeit mich mit diesem Gedanken weiter auseinanderzusetzen. Ich rief im Laufen noch dem Vorstand zu: "Warten Sie bitte. Sie haben meine Klausur noch nicht!" Er unterbrach das Zusammenschichten der abgesammelten Klausurbögen und schaute auf.
"Das tut mir sehr leid, Herr Kollege, aber ich nehme keine weiteren Klausuren an."
Ich beließ es nicht dabei, und versuchte es noch einmal:
"Kommen Sie, ausnahmsweise."
Aha, ich habe es anscheinend geschafft, er fing nämlich zum Überlegen an, aber Pustekuche, er antwortete bloß: "Nö, Herr Kollege, Zu spät ist zu spät."
Ich mußte jetzt alles auf eine Karte setzen, baute mich zur ganzer Größe auf, und fragte ihn selbstbewußt, ob er denn nicht wisse, wer ich sei. Gänzlich unbeeindruckt fixierte er mich mit seinen Augen, baute sich vor mir noch imposanter auf, und sagte lapidar: "Nein, weiß ich nicht, Herr Kollege."
Darauf habe ich nur gewartet, und schob, mit den Worten "Dann ist ja gut.", meine Klausur zwischen die anderen Klausuren und verschwand, so schnell wie nur möglich, aus dem Auditorium.