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Erwartungen
Wie jeden Morgen saß Josef schlecht gelaunt in dem kleinen Strandcafé mit dem Palmblattdach. Seit sechs Wochen war er jetzt in Goa, und nichts war zu seiner Zufriedenheit gelaufen. Die Nachbarn zu laut, das Wasser zu dreckig, er hatte keine Ahnung, warum er nach all den Jahren wieder zurückgekommen war.
Ein leichter Wind kam auf, die Meeresoberfläche kräuselte sich. Josef überlegte, ob er in die Hütte zurückgehen und sich einen Pullover holen sollte, als ein junger Typ mit langen blonden Dreadlocks und freiem Oberkörper das Lokal betrat.
»Namaste«, begrüßte er Josef in Hindi, legte die Handflächen vor der Brust aneinander und deutete eine leichte Verbeugung an. »Shantam mein Name.«
Josef verdrehte innerlich die Augen.
»Guten Morgen«, sagte er auf Deutsch und merkte, wie sich sein Körper anspannte. Er hatte gewusst, dass er irgendwann jemandem wie ihm begegnen würde, obwohl er sich fragte, was ihn ausgerechnet an diesen Strand verschlagen hatte. Hier waren sonst nur gutsituierte Touristen.
Shantam latschte in die Küche und unterhielt sich mit dem Koch. An seinem Englisch hörte Josef, dass er auch Deutscher war. Kurz darauf saß er aufrecht im Schneidersitz neben Josefs Tisch, im Chill out - einer Matratze mit einem Tuch darüber und bunten Kissen. Er schaute über die Sonnenliegen aufs Meer hinaus.
Josef drehte sich ruckartig nach dem Kellner um, aber der war nirgends zu sehen. Dann sah er zu Shantam hinüber.
»Falls du Hunger hast, kannst du hier lange warten«, begann er. »Die Kellner sind hier stinkefaul.«
Shantam warf seine Haare über die Schulter auf das riesige Shiva-Tattoo, das seinen Rücken zierte.
»Gewöhnt man sich dran«, sagte er, ohne den Blick vom Meer abzuwenden. »Die haben hier einfach eine andere Arbeitsmoral. Das ist nichts Persönliches.«
Josef schwieg. Warum hab ich überhaupt was gesagt, dachte er. Es war doch klar, dass der mir mit sowas kommt. Aber er hatte sich vorgenommen, ruhig zu bleiben. Menschen wie Shantam konnten ihn nicht mehr aus dem Konzept bringen. Jetzt nicht mehr.
»Der Mensch gewöhnt sich ja bekanntlich an alles«, sagte er und lachte. »Aber man will sich ja nun auch nicht unbedingt verarschen lassen.« Er klappte sein silbernes Zigarettenetui auf, fischte eine Zigarette heraus und ließ sie zweimal durch Mittel- und Zeigefinger gleiten, sodass sie mit dem Filter auf dem Tisch landete. Dann lehnte er sich auf seinem Plastikstuhl zurück, zündete die Zigarette an und sah einer Bikinischönheit hinterher, die langsam an seinem Tisch vorbeiging. Er genoss das Kribbeln beim Anblick ihres Hinterns und ignorierte das Ziehen im linken Bein, als er den Fuß seitlich auf den rechten Oberschenkel legte. In der Ferne hörte er Bongotrommeln.
»Ein bisschen drauf einlassen solltest du dich aber schon, wenn du hierherkommst.« Diesmal sah Shantam Josef direkt an, bevor er der Schönheit langsam zunickte und ein Lächeln andeutete. Josef nahm den Fuß vom Oberschenkel.
»Da bist du aber ein bisschen weltfremd, mein Freund«, sagte er. »Wenn man immer nur rumsitzt und gar nichts macht, verhungert man. Und Geld verdient man auch nicht.«
Shantam grinste, schüttelte leicht den Kopf und sah dann dem Kellner dabei zu, wie er mit der Schönheit ein Gespräch anfing. Wenige Minuten später hatte sie eine Schüssel Müsli vor sich stehen. Josef warf Shantam einen vielsagenden Blick zu.
»Siehst du, das meine ich. Ich war zuerst hier. Und danach kamst du.«
Shantam zuckte die Achseln. »Müsli geht halt schnell.«
»Na ja, das ist ja nun kein Argument. Bis jetzt wurde deine Bestellung ja nicht mal aufgenommen. Oder willst du damit sagen, dass die erst warten, bis der Laden voll ist, dann alle Bestellungen aufnehmen und der Letzte kriegt zuerst, weil er nur ein Müsli bestellt hat?« Er warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. »Das hab ich ja noch nie gehört.«
»Das hab ich auch nicht gesagt«, begann Shantam. »Aber ich sag den Jungs immer, dass sie sich zwar Mühe geben, aber auch nicht stressen lassen sollen von den Westlern. Die arbeiten hier sieben Tage die Woche von frühmorgens bis Mitternacht.«
Du sagst den Jungs, dachte Josef. Das ist ja nicht zu fassen, mit welcher Arroganz mir dieser selbst ernannte Guru erklären will, wie Indien funktioniert. Ausgerechnet mir.
»Ja, ich weiß schon«, winkte er ab und setzte sein mildestes Lächeln auf. »Du denkst, du tust denen damit was Gutes, indem du dich verarschen lässt. Aber so läuft das nicht.« Abermals klappte er das Zigarettenetui auf. Während er mit dem Filter auf den Tisch klopfte, ließ er Shantam nicht aus den Augen. »Wenn die nicht lernen, wie guter Service funktioniert, werden sie nie auf den grünen Zweig kommen. Seit sechs Wochen erzähl ich denen hier, dass ich als Stammgast morgens unaufgefordert meinen frisch gepressten Orangensaft, meinen Kaffee und meine Pfannkuchen will. Seit sechs Wochen! Aber die sind zu doof, um sich das zu merken.«
»Was ist eigentlich dein Problem?« Shantam streckte sich. »Hast du Angst, du kommst zu spät ins Büro?«
Josef schnappte nach Luft. Die Bongotrommeln kamen ihm plötzlich viel lauter vor.
»Das ist hier ein Restaurant, mein Freund«, sagte er. »Glaubst du etwa im Ernst, das interessiert die nicht, wie viel Geld sie hier verdienen? Glaubst du das im Ernst?« Er nahm den Strohhut vom Kopf und fuhr sich mit der Hand über die schwitzende Halbglatze. Aus der Küche drang ihm Masaladuft in die Nase. Am Tisch hinter ihm kicherte die Schönheit. Als er sich umdrehte, sah er, dass sie ihr Müsli fast aufgegessen hatte und nach wie vor mit dem Kellner flirtete.
»Jetzt reicht's mir aber«, murmelte Josef. »Boy!«
»Ey, bleib cool.« Shantam hob abwehrend die Hand. »Überleg mal, wo du hier bist, Alter. Hier gibt's 'ne ganze Menge Leute, die tagelang nichts zu fressen haben. Wenn die hier alle so'n Aufriss machen würden wie du - planen is hier nich. Die leben im Jetzt. Jeder Tag is'n neuer Tag. So sehen die das hier.«
Josef sog die Luft durch die Nase ein und stieß sie gleich darauf hörbar aus. Der Tabak knisterte, als er an der Zigarette zog.
»Aber das wird zu philosophisch für dich«, setzte Shantam nach. »Das seh ich schon an deinem Blick.«
Herrgott, verschon mich mit deinen Plattitüden, schoss es Josef durch den Kopf. Das ist ja nicht zum Aushalten! Er wandte sich ab und holte einmal tief Luft. Sein Atem zitterte. Dann lehnte er sich auf dem Stuhl nach vorne und taxierte Shantam.
»Soll ich dir mal was sagen, mein Freund? Ich sag dir jetzt mal was, und schreib dir das hinter die Löffel. Armut ist kein Spaß, mein Freund, weiß Gott nicht. Du läufst hier im Bettleraufzug rum und tust so, als wärst du einer von denen hier.« Er stopfte die Kippe in den Sand. »Dann bettelst du hier noch die Einheimischen an und findest das knorke, weil du noch ein Rückflugticket irgendwo im Safe hast. Ich kenn euch Typen doch. Das hat nichts, aber auch überhaupt nichts mit der Realität zu tun. Die Leute hier müssen um ihr Überleben kämpfen.« Seine Mundwinkel zuckten. Ich muss mich zusammenreißen, hämmerte es in seinem Kopf. Der Typ ist es doch nicht wert. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Eine Weile sahen die beiden sich schweigend an. Josef bemerkte den Schatten, der durch Shantams Augen zog. Er wandte den Blick ab und fuhr herum.
»Wo bleibt mein Kaffee!«
Der Kellner nickte und ging in die Küche.
»Du kennst mich überhaupt nicht. Kein Stück kennst du mich.« Shantams Stimme war genauso fest wie sein Blick. »Du meinst, du musst hier alles und jeden verurteilen, weil dein Ego mit irgendwelchen Erwartungen kommt, wie ... «
Ruhig bleiben, ermahnte sich Josef, aber seine Stimme kam ihm zuvor.
»Du denkst, du erzählst mir hier was Neues, oder? Das denkst du doch.« Er merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Aber ich kenn die Sprüche, mein Freund. Die ganze Palette. Keine Erwartungen, nichts beurteilen, geh mir los!«
»Alles gut. Kein Grund, hier rumzuschreien, Alter. Hör doch einfach mal zu, ich ...«
»Nein, du hörst jetzt mal zu! Diesen Esomist haben mir meine Eltern eingebläut, bis ich sieben Jahre alt war. Die sind hier mit mir quer durch Indien gezogen, ohne Geld, und haben Wasser aus Pfützen gesoffen. Meine Mutter ist elendig an Typhus verreckt und ...« Er blickte zur Seite. Der Kellner stand neben ihm. »Ah«, begann Josef. »Da kommt ja endlich mein Kaffee. Endlich. Wo war ich? Ach ja. Und ich bin bei Pflegeeltern aufgewachsen, die mir richtige Werte beigebracht haben, mit denen man weiterkommt im Leben.«
Shantam legte den Kopf schief und forschte in Josefs Gesicht.
Aha, endlich eine Regung, dachte Josef. Damit hat er nicht gerechnet. Eins zu null für mich.
»Kann ich da was für?«, fragte Shantam.
»Ja! Da weiß ich nämlich von vornherein, was mich bei Typen wie dir erwartet.«
»Du weißt gar nichts.«
»Natürlich nicht. Jeder Tag ist ja ein neuer Tag. Ha! Ich - was ist das denn? Wieso stellt dir der Faulpelz von Kellner denn jetzt unaufgefordert was zu essen hin, während ich ...«
»Weil mir das Restaurant hier gehört, mein Freund.« Shantam lehnte sich zurück. »Das hast du nicht erwartet, oder? Komm, gib's zu.«