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Ernüchterung
Ernüchterung
"Ach verdammt!"
Sie saß in einem Klavierüberaum der Uni. Es gab zwei Überäume, genauer gesagt Rumpelkammern, in denen jeweils ein mehr oder weniger spielbares Klavier stand. Seit mehreren Wochen versuchte sie sich nun schon an diesem Stück von Mozart, und noch immer waren die Sechzehntel viel zu holprig, noch immer dieselben Fehler an denselben Stellen ...
"Ach scheiß drauf."
Resigniert nahm sie die Noten an sich und klappte das Instrument zu. Dann eben nicht. Es war sicher ohnehin Zeit. Sie sah auf die Uhr: Ja, gleich würde der Bus kommen, in etwa zehn Minuten.
Aber sie machte keine Anstalten aufzubrechen. Erschöpft saß sie da, die Noten auf ihrem Schoß, die Ellenbogen auf dem Klavierdeckel und den Kopf in die Hände gestützt. Nach dem Üben fühlte sie sich immer matt und ausgelaugt. Und wozu diese ewige Schinderei, wenn sie doch keine Fortschritte machte? Im Gegenteil, sie hatte das Gefühl, immer schlechter zu werden, je mehr sie übte. Einen Kommilitonen, der an der Musikhochschule studierte, hatte sie einmal gefragt, ob das sein könne. Aber der meinte nur verständnislos, das bilde sie sich wahrscheinlich ein.
Wie aus einer andern Welt drangen Klavierklänge herüber, die sie nicht diesen schäbigen Instrumenten und der Klientel zuordnete, die ansonsten hier dilettierte. Die meisten erkannte man schon an ihrem Spiel, an den Stücken, die sie übten, und an den Fehlern, die sie dabei an immer denselben Stellen machten. Nur manchmal verirrte sich ein Virtuose hier her, der irgendwelche etüdenhaft protzigen stücke zum Besten gab. Aber manchmal gab es auch den ein oder anderen Dilettanten, der auf seine Weise eine Ausnahmeerscheinung war: Einmal zum Beispiel belauschte sie jemanden, der sich durch den ersten Satz der A-Dur-Sonate von Mozart, den Variationssatz, kämpfte, dabei allerdings ein ungewöhnliches Maß an Unsensibilität und Gleichgültigkeit gegen die sämtlichen Fehler an den Tag legte.
Aber dieses Spiel klang anders, zumindest aus der Ferne - denn es klang nur sehr gedämpft herüber. Was wurde da gespielt?
Die Neugier trieb sie auf den Flur hinaus. Draußen war die Musik allerdings noch schlechter zu erkennen, die Töne (offenbar schnelle Läufe) verschwammen und liefen ineinander aufgrund des Halls. Sie entschied, an der Tür zu lauschen - nur kurz, um herauszufinden, welches Stück es war. Außerdem wäre es sowieso Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Sie ging zurück, zog ihre Jacke an, verstaute das Notenheft in ihrer mit Lehrbüchern, Notizblöcken und Schreibutensilien vollgestopften Studententasche, schloss die Tür hinter sich und ging auf den zweiten, benachbarten Überaum zu.
Was wurde da gespielt? Es perlte und brillierte. Jetzt erkannte sie das Stück: Es war Beethoven, die Klaviersonate in Es-Dur op. 31 Nr. 3, erster Satz.
Da ihre Neugier befriedigt war, konnte sie sich ja auf den Heimweg machen. Aber da war irgendwas, das sie fesselte: War es die Virtuosität, die einen Laien oder halben Laien niemals kalt lässt? War es die Tatsache, dass man ausgerechnet hier einem leibhaftigen Virtuosen lauschen durfte? - Aber vielleicht war es derselbe, der ab und an die protzig-etüdenhaften Stücke zum besten gegeben hatte. Das war bemerkenswert, hatte allerdings auch etwas von Scharlatanerie, von billiger Effektheischerei. Jeder Klavierspieler, der über den Flohwalzer hinausgekommen ist, kann solche protzige Virtuosität imitieren, und sei es durch den verschwenderischen Gebrauch des Haltepedals. Das ist in Mode, das beeindruckt die Ahnungslosen. Sie musste an einen Dozenten denken, an dessen Harmonielehrekurs sie als Musikwissenschaft-Nebenfächlerin teilgenommen hatte: Von Haus aus Musiktheoretiker, hatte der Dozent sich einmal - es war wohl um den verminderten Dreiklang gegangen - dazu hinreißen lassen, mit furiosen Arpeggi und Glissandi anzugeben. Eine Kommilitonin stieß tatsächlich ehrfürchtige Laute aus. Offensichtlich war es ihr entgangen, wie unsauber und geradezu schlampig es war. Überhaupt neigte dieser Dozent zum Hochstaplertum, zur übermäßigen Nutzung des Haltepedals ...
Aber dieser Klavierspieler benutzte überhaupt kein Haltepedal. Was für eine exakte Rhythmik, wie präzise doch die Sechzehntel gespielt wurden! War es möglich, dass hier ein Mensch spielte? Magie der Perfektion, die sie immer näher zur Tür drängte. Was würde weiter geschehen? Würde das Spiel ins Stocken geraten, würden sich hässliche falsche Noten hineinschmuggeln?
Inzwischen hatte sie die Tür erreicht. Es war nicht ungefährlich, hier zu stehen und zu lauschen. Wenn jemand vorbeikäme und sie bei diesem unerklärlichen Genuss erwischte - was dann? Diese Angst mischte sich unter die Erregung, die das uhrwerkartig präzise Spiel in ihr auslöste. Hektisch entschied sie, dass sie dann eben so tun würde, als warte sie darauf, dass der Raum frei werde.
Gab es nicht einmal eine menschliche Regung hinter dieser Tür? Ein Verspieler, ein unkontrollierter Laut, der dem Spieler vor Konzentration oder Anstrengung entfuhr... bange und sehnsüchtig fieberte sie einer solchen Regung entgegen. Was würde sie sein: Ein ekelhafter Schönheitsfehler inmitten dieser Perfektion? Eine Ernüchterung? - Aber nein. Gerade das nicht. Sie wäre ein desto reizvolleres Fragment von Alltäglichkeit, das die sehnsüchtige Erwartung erst anstacheln, der erhabenen Präzision erst ihre Erhabenheit verleihen würde.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals - O Gott, wenn nur keiner vorbeikam! Und überhaupt, sie wollte doch zum Bus... Aber der war sicher schon weg. Sie musste jedes Geräusch hinter dieser Tür erhaschen. Dazu lehnte sie fiebernd an der Ritze zwischen Tür und Rahmen, durch die ein etwas muffiger Lufthauch drang - der typische Geruch dieser Abstellkammern. Der Spieler war schon längst bei der Reprise angelangt und spielte gerade das zweite, lyrische Thema. Abgesehen von dem nach wie vor makellosen Spiel war nichts zu hören. Vielleicht - nein sicher war es Blödsinn, hier zu stehen und zu lauschen. Es war dumm und peinlich.
Sie nahm das Ohr von der Ritze und drehte sich von der Tür weg. Das war doch ein Wahnsinn, diese Lauscherei und diese törichte Aufregung. Der Typ - war es überhaupt ein Er oder eine Sie? - brauchte nur die Tür aufmachen und auf einmal vor ihr stehen! Es war besser, sich auf den Weg zu machen, bevor man ertappt wurde.
Aber da - war da nicht etwas? Mit erneut aufsteigender Erregung lehnte sie abermals das Ohr an die Tür. Und da war es wieder - ein leise verschwommener Laut, der sich nur schwer gegen die lauten Klavierklänge durchsetzen konnte; eine dünne, hohe Männerstimme, die auch schon wieder verstummt war - der Spieler hatte mitgesungen! In der Erwartung, dass es wiederkommen würde, presste sie das Ohr noch fester an die Türritze. Da bewegte sich die Tür ein wenig in den Angeln. Erschreckt richtete sie sich auf - was, wenn der Spieler es gehört und somit bemerkt hatte, dass jemand lauschte? - Ach was. Es konnte ja auch der Wind gewesen sein...
Was war das wohl für ein Mensch da hinter der Tür, wie mochte dieser Mann mit der hohen und im Übrigen nicht sehr klangvollen Stimme aussehen? Nicht, dass diese dünne Stimme und der wenig musikalische Gesang sie abgestoßen hätten, im Gegenteil. Ein schmales, längliches, nicht besonders schönes aber vergeistigtes Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf, das anziehender wäre als jedes Schönlings- oder Heroengesicht. Sie dachte sich einen schmächtigen Körper dazu, im Ganzen eine unscheinbare Gestalt, ein Mensch, der erst in seiner Kunst, in diesem Fall also vor dem Klavier, aufblüht.
Sie legte die Hand auf die Türklinke. Wie um das frühere Geräusch der sich unabsichtlich bewegenden Tür zu vertuschen, wollte sie wie aus Versehen die Tür öffnen. Aber schon zögerte sie. War das nicht dumm und vor allem allzu durchsichtig? Dass dieser Raum besetzt war, hörte man doch ganz deutlich. Außerdem ahnte sie dunkel, dass der fiebrige Genuss damit auf der Stelle futsch wäre - da drückte sie die Klinke herunter.
Sie stolperte fast in den Raum. Sie wollte etwas sagen, irgendeine Entschuldigung stammeln, aber das Klavier spielte unverdrossen weiter. Der Spieler hatte sie also gar nicht bemerkt, und da sie ja jetzt wusste, wer er war, schickte sie sich an, sich umzudrehen und unbemerkt davonzuschleichen. Aber da brach das Spiel ab.
"Willst du rein, Anne?", fragte der Spieler.
Anne schluckte. Das also war der geheimnisvolle Spieler. Es war einer ihrer Kommilitonen, Timo, der Lehramtsstudent, der ihr versichert hatte, sie bilde sich ihr Schlechterwerden nach dem Üben nur ein...
"Oh... du bist es. Äh, du spielst aber gut."
Das war eigentlich albern, sie hatte Timo schon spielen gehört. Aber nicht so und nicht dieses Stück...
"Danke...", meinte Timo erstaunt.
Eine kurze Pause.
"Hm, willst du nun hier rein?"
"Nee... ich geh nach nebenan."
Sie verabschiedeten sich kurz, und während Anne den Überaum verließ, fiel ihr ein, dass es Timo sicher bemerken würde, wenn nebenan niemand spielte. Aber schon hatte sie diesen Gedanken wieder vergessen.
Der nächste Bus würde erst in einer halben Stunde fahren...