Erklär mir zwei
Die kleinen Füße tapsten barfuß über den kalten Steinboden.
Der kleine Körper war in eine hellblaue Plüschdecke gehüllt, die mit weißen Punkten übersäht war.
Es war definitiv zu viel Plüsch für zu wenig kleine Arme und kleiner Körper, deshalb schleifte ein Großteil des Plüsches hinter ihr her.
Unter ihren linken Arm hatte sie außerdem ihre kleine schon leicht schmuddelige Stoffente Paula geklemmt.
Tap. Tap. Tap.
Plüsch schleifte über den Boden und Paula begann zu rutschen.
Vorsichtig lugte sie um die Ecke.
Tap. Tap. Tap.
Paula rutsche weiter, doch endlich hatte sie ihr Ziel erreicht.
„Mama?“
Die Person auf dem sonnengelben Sofa zuckte erschrocken zusammen und drehte sich ruckartig zu der kleinen Gestalt hinter ihr um.
„Oh mein Gott! Hast du mich erschreckt…was ist los? Warum bist du nicht mehr im Bett?“
„weil…ich kann nicht schlafen…weil ich hab Angst und Mama? Darf ich nicht bitte bei dir bleiben? Noch ein ganz kleines bisschen?“
„Ja…nein…aber wirklich nur ein ganz kleines bisschen.“
Die Kleine strahlte.
Sie kletterte mitsamt ihrem Plüschumhang aufs Sofa und kuschelte sich neben ihre Mama.
Eine Weile war es still und die beiden saßen dort, eng aneinander gekuschelt und beobachteten die Flammen im Kamin vor ihnen. Dann stand ihre Mama auf, lief in die Küche und kam mit einem Schokoriegel zurück.
„Willst du auch was?“, fragte sie die Kleine als sie deren hungrigen Blick bemerkte.
„Aber….es ist nur einer.“
Ihre Mama lächelte und brach ihn in der Mitte durch.
„Nein. Zwei.“
Fasziniert schaute die Kleine auf ihr Stück Schokoriegel.
„Mama? Erklär mir zwei.“
„Zwei?“
„Ja!“
Die Kleine hatte sich ruckartig aufgesetzt und schaute ihre Mama mit erwartungsvollen Augen an.
Sie dachte einen Moment lang nach und griff schließlich nach einer Muschel, die mit anderen Muscheln, Schneckenhäusern und Glitzersteinen um eine weiße Kerze mit Vanillegeruch herum, in einer Glasschale auf dem Couchtisch lag.
Sie drückte sie der Kleinen in die Hand.
„Hier. Zwei. Eine Muschel. Zwei Seiten, zwei Schalen.“
„Warum?“
„Naja sie brauch doch zwei Schalen um ihre Perle zu bewachen, sonst kann ja jeder Fisch ankommen und ihre Perle mitnehmen…deshalb zwei.“
Ihre kleinen Finger fuhren den geriffelten Rand der Muschel langsam und bedächtig auf und ab.
Aber ihre Mutter hatte schon das nächste gefunden. Sie ging zu der ebenfalls sonnengelben Wand, nahm ein Bild von der Wand und legte es der Kleinen in den Schoß.
Es war ein Strand wunderschön mit weißem Sand und Palmen und Meer. Viel Meer.
„Hier. Zwei. Ebbe und Flut. Und Strand und Meer. Sogar zweimal zwei.“
Dann drehte sie sich von der Wand wieder zu dem Kamin, nahm ein Foto, was auf dessen Sims stand und gab es ebenfalls der Kleinen.
Es zeigte ein kleines Lachendes Mädchen mit blonden geflochtenen Zöpfen und einem rosa Sommerkleid, was mit Schmetterlingen bedruckt war.
An jedem ihrer Ohren hing ein Paar Kirschen und auch von jedem ihrer Finger baumelte ein Kirschenpaar.
„Hier. Zwei. Ein Kirschenpaar, zwei Kirschen.“
Unwillkürlich fasste sich die Kleine an ihr rechtes Ohr, doch natürlich war das Kirschenpaar schon lange verschwunden.
Dann setzte sich die Mama wieder zu ihrer Tochter.
Sie nahm Paule und tippte mit ihrer linken Flügelspitze auf die Ohren der kleinen.
Tipp. Tipp.
„Auch zwei.“
Tipp. Tipp. Arme. Hände. Beine. Füße.
„Auch zwei. Zweimal zwei.“
Tipp. Tipp. Augen.
„Wieder zwei.“
Paulas Flügelspitze strich über die Lippen der kleinen.
Oben und unten.
„Und noch einmal zwei.“
Erstaunt betrachtete die Kleine sich selbst. So viel zwei…
Auch Paulas zweite Flügelspitze bewegte sich nun…sie flog.
„Zwei Flügel.“
Paulas rechter Flügel stoppte plötzlich und sie fiel in den Schoß der kleinen.
„Einer reicht nicht.“
„Schmetterling…“, flüsterte die Kleine und deutete auf das Kleid in dem Kirschenbild „der braucht auch zwei.“
Lächelnd stand ihre Mutter wieder auf und ging zu dem Klavier was an der Wand stand.
„Das hier auch. Klavier und Klavierspieler…zwei. Sonst gibt’s keine Musik.“
Lächelnd setzte sie sich wieder zu ihrer Tochter aufs Sofa.
„Mama? Was noch?“
Sie stand wieder auf und nahm die Uhr von der Wand. Sie sah aus, wie der Kopf einer Sonnenblume mit Zeigern und passte perfekt zur gelben Wand.
„Hier. Zwei Zeiger.“
Dann trat sie auf die Schwelle zum Balkon.
„Und hier! Komm her.“
Vorsichtig rutschte die Kleine vom Sofa, die Arme voll zwei. Sie stellte sich zu ihrer Mama.
Die machte einen Schritt hinaus auf den Balkon.
„Du bist drinnen. Ich draußen. Zwei.“
Sie schaute über das metallene Geländer hinab auf die Straße. Auch die Kleine kam zu ihr und versuchte vergeblich über die höchsten Gitterstäbe des Geländers zu schauen.
Sie zeigte auf die verlassene Straße unter ihnen.
„Eine Straße. Zwei Spuren. Hin und zurück. Zwei Wege…hin und zurück….wie überall.“
Während die Kleine noch versuchte Mamas zwei Wege zu verstehen hatte diese schon ein neues zwei entdeckt, welches sie nun ihrer Tochter zu dem ganzen anderen zwei in die Arme drückte. Es war Kreide.
„Aber…das ist kein zwei…nur wenn manns kaputtmacht…halt…genau wie der Schokoriegel“, sagte die Kleine traurig, scheinbar hatte sie sich mehr erwartet.
Da nahm ihre Mama ein zweites Stück Kreide und machte einen Punkt auf den Balkonboden. Und noch einen.
„Aber jetzt sind es zwei.“
Sie verband die beiden Punkte.
„Ein Punkt ist nur ein Punkt, aber sobald du zwei Punkte hast…ist es eigentlich schon wieder eine Linie.“
Vorsichtig, um das ganze zwei in ihrem Armen nicht herunterfallen zu lassen, kniete sich die Kleine auf den Boden und fuhr über die Linie. Ein bisschen hellblaue Kreide hing an ihren Fingern. Ein bisschen zwei.
Auf dem Fensterbrett standen einige bunt bemalte Blumentöpfe. Einer mit punkten, einer mit Blumen, einer mit Paula und einer mit einem Regenbogen. Sie nahm den mit dem Regenbogen und gab ihn der Kleinen. In ihm wuchsen kleine, blaue Vergiss-mein-nicht.
„Hab ich gemacht!“, strahlte die Kleine.
„Und es sind auch zwei. Ohne Erde mit Topf kein Platz für Vergiss-mein-nicht, ohne Vergiss-mein-nicht brauchst du erst gar nicht nach einem Platz zu suchen.“
Mit dem Topf wurde es langsam eng mit dem ganzen zwei in den Armen der Kleinen.
Ein Flugzeug störte die Stille um sie herum und flog dicht über ihren Köpfen hinweg.
„Schon wieder zwei. Entweder fliegen sie weg oder sie kommen bald an, kommen Heim. Hin oder zurück… wie die Straße. Halt nur in der Luft. Aber trotzdem zwei.“
Lange schauten sie in den Himmel, dem Flugzeug hinterher, auch wenn man das Flugzeug schon lange nicht mehr von den Sternen unterscheiden konnte.
„Aber hier…nicht.“, stelle die Kleine traurig fest.
„Was nicht?“
„Nicht zwei. Es sind mehr…nicht zwei Sterne. Viel mehr…“
„Fast… vielleicht sind es eben zwei und unendlich viel mehr Sterne…aber deshalb gibt es doch trotzdem zwei Sterne…und unendlich viel mehr davon.“
Da löste die Kleine endlich ihren Blick von den zwei und unendlich viel mehr Sternen. Sie schaute zurück ins Wohnzimmer. Nach drinnen. Wie viel zwei dort war. Dann schaute sie wieder auf den Balkon und durch das Geländer hinaus. Nach draußen. Wie viel mehr zwei auch hier war. Dann auf das ganze Zeug, das ganze zwei, was langsam zu viel und zu schwer für ihre kleinen Arme wurde. Schließlich wanderte ihr Blick wieder in den Himmel zu den zwei und unendlich viel mehr Sternen.
„Also…ist zwei alles.“