- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Erkenntnis
Ohne sich umzudrehen lief sie fort. Sie mußte diesem verletzten Blick entfliehen, konnte nicht ertragen, was sie selbst angerichtet hatte.
"bin das wirklich ich? was tue ich da?"
Der Schmerz in ihrer Brust war fast unerträglich, ihm war nur mit Kälte zu begegnen, Kälte nach außen, Kälte im Herz. Seele einfrieren.
Das funktionierte bisher auch immer, doch diese plötzliche Erkenntnis, das Erkennen der eigenen Schuld, war sehr neu. Und noch viel schmerzhafter als alles, was sie vorher als Enttäuschung durch Andere erfahren hatte. Mußte sie doch nun noch mehr enttäuscht von sich sein, von ihrer Art, mit Anderen umzugehen, um ihren eigenen Schmerz zu verdecken.
Nun, von diesem Wissen überrollt, fand sie den Weg zurück in ihr schützendes Revier nicht mehr. Wozu auch? Konnte ihre innere Schutzmauer sie denn vor sich selbst bewahren? Was nun?
Schon wieder Flucht? Wohin? Und vor allem, vor wem? War sie sich doch nun stets dicht auf den Fersen und war doch ihre eigene Kälte hinter der dicken Mauer deutlich spürbar, hinter der Mauer, die zuvor Schutz und gleichzeitig Gefängnis war.
Panisch hetzten ihre Gedanken die Seele auf und ab, mit wilden Augen nach einem Schlupfwinkel suchend, wohl wissend, das nun keiner mehr da war. Alle Türen waren plötzlich mit lautem Knall zugefallen, fast gleichzeitig.
Eine Einzige war noch offen. Die Dunkelheit hinter der Tür war bedrohlich und anziehend zugleich. Sie spürte einen leisen Sog, ein unmerkliches Ziehen. Fast wie ein Nylonfaden, der zwar nicht stark genug war sie fortzubewegen, der sie jedoch immer wieder mit leisem Zug an diese Tür erinnerte, ihre Aufmerksamkeit fesselte.
Hatte sie denn etwas anderes verdient? Gehörte sie nicht in die dunkle Kälte, vereint mit Ihresgleichen, die man nicht mehr verletzen konnte, hier, angekommen an ihrer letzten Station? Hörte sie nicht auch kaltes Lachen durch die Tür?
Sie war neugierig geworden, ging vorsichtig darauf zu. Eine einzelne Träne fror auf dem Weg über ihre Wange zu einer kristallenen, kleinen Kugel. Sie merkte es nicht.
Sie hatte den Fuß schon in der Luft, war bereit, den letzten, entscheidenden Schritt zu gehen, wußte genau, von hier würde sie nicht zurückkehren können, als die Tür direkt nebenan aufflog.
Ein warmer Luftstrom erreichte sie und sie zog irritiert den Fuß zurück.
Eine weitere Tür? Für sie? Suchend blickte sie sich um, ob da noch Jemand wäre. Jemand, der diese Tür verdient hatte. Aber es war niemand da. Wie denn auch, hier in ihrer eigenen Seele.
Ein kleines Mädchen, etwa 8 Jahre alt, streckte den Kopf zur Tür heraus.
"Kommst Du endlich? Es wird kalt hier drin!!" rief die Kleine ungeduldig und war auch schon wieder in der Wärme dahinter verschwunden.
Noch immer durcheinander folgte sie dem Mädchen in den warmen, hellen Raum, den letzten Schritt konnte sie auch später noch tun.
"Hallo" sagte das Kind lächelnd " ich bin die Einsicht, ich freu mich, daß Du den Weg zu mir gefunden hast."
Sie merkte, wie langsam die Wärme in ihre Knochen zurückkehrte und sich auch ein wenig an ihr Herz heranschlich.
Als sie die Tür hinter sich schloß kam das kleine Mädchen auf sie zu. Es lachte, sprang ihr um den Hals und küßte die, mittlerweile aufgetaute, Träne von ihrer Wange. Die Worte der Einsicht und die freundliche, einladende Umgebung erlaubten ihr sogar ein kleines, echtes, eigenes Lächeln.
Sie verbrachte eine lange Zeit in dem hellen Raum, lernte sich selbst zu verzeihen und zu mögen.
Bevor sie ging, fragte sie die kleine Einsicht, warum die Tür denn zuerst für sie verschlossen geblieben war.
Die Antwort verblüffte sie so sehr, daß sie wortlos den Raum verließ und draußen noch eine Weile grübelnd verweilen mußte, bevor sie ihren Weg zurück ins Leben fortsetzen konnte.
"Die Tür war niemals verschlossen, es gibt keinen Schlüssel. Du hättest jederzeit hereinkommen können. Doch bist Du es gewohnt, den einfachen Weg zu gehen, so sehr, daß Du die anderen Wege, die schwieriger zu erklimmen sind, gar nicht erkennst."
Als sie nach langer Zeit den Blick hob, schaute sie direkt auf das Türschild des dunklen Zimmers.
"Verzweiflung, Resignation" war darauf zu lesen.