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Erinnerung an einen Foxtrott
Sein Gesicht spiegelte sich vage im Glas der Fensterscheibe.
Dort, wo sich das Land mit dem Meer traf, trieben Kumuluswolken wie Luftschiffe mit vom Wind geblähter Takelage und der Himmel saß dem Ganzen auf wie einem Falschspieler. Sein Blick suchte die Linie des Horizonts, fand sie nicht. Die Stadt, seine Stadt, lag vor der Fensterfront der Büroetage. Darunter kreuzten einander Strassen, in denen er aufgewachsen war in einer Zeit, in der sich der Glaube an die Anständigkeit und die Hoffnung, dass es diese immerfort geben würde, in den Augen der Menschen, in deren unerschütterlichem Lachen, in der Art wie sie sich an den Händen hielten, wiedergespiegelt hatte. Jetzt stand er da und wollte nicht wahrhaben, dass auch er sich hatte blenden lassen. Dass auch er sich hatte überreden lassen und die Einsätze für dieses Spiel von mal zu mal erhöhen ließ.
Hier in dieser Stadt hatte er die Frau getroffen, die herzugeben er später nicht mehr imstande gewesen war, mit der er Kinder großzog, Söhne, ihr beider Stolz allemal. Freunde hatte er hier gefunden über die Jahre und bei anderen den Freundschaftsbegriff neu überdenken müssen. Es waren Jahre, die er willensstark durchgestanden hatte. Jahre des Arbeitens, Jahre die von klaren Entscheidungen aber auch Kompromissen geprägt waren. Jahre auch, in denen er die Toleranz und den Respekt gegenüber anderen zur obersten Prämisse seines Handelns und Denkens gemacht hatte.
Worte, die bei seinen Gegnern für nicht ernstgemeinte Slogans herhalten mussten. Er nahm diese Leute anfangs nicht wahr. Deren Ziele und die Weise, wie sie diese erreichen wollten, waren ihm absurd vorgekommen, rücksichtslos und die Würde Einzelner verachtend. Er dachte damals keinen Augenblick daran, dass es denen jemals gelingen könnte, denkende Menschen von ihren Ideen zu überzeugen. Auch als die Zeichen eindeutiger wurden, die Richtung der Anderen klarer, ließ er sich nicht von seinem Glauben und seiner Hoffnung abbringen. Seine Strategie war die der Kommunikation, die des Dialoges mit dem kleinen Mann von der Strasse. Daran glaubte er und er spürte, damit recht zu behalten. Er scheute keine Fragen, kein Händeschütteln, keine Besuche in Fabriken, in Bergwerken, in Spitälern, keine Kritik und keine Antworten. Es waren gute Jahre für dieses Land gewesen.
Auch deshalb.
Ein Schwarm Seevögel trieb an der Hochhausfassade vorbei, ein lautloser Film, vergänglich wie alles.
Der alte Mann stand inmitten des Himmels, auf der Suche nach dem alten Horizont, nach dem Ausweg, so wie er dort an der hohen Fensterfront lehnte. Sein weißes Haar gescheitelt und noch dicht wie früher, sein Blick schon in unendlicher Ferne, schon aufgebrochen, schon weiter als der Horizont. Sein Herz kam nicht mit, war gebrochen, schlug nur noch, weil es die Natur weiterpochen ließ, weil diesmal die Natur nicht wusste, was alle hier seit Tagen geahnt hatten, das nun endgültig war und nicht mehr aufzuhalten. Sie alle hatten es auf die Spitze getrieben, hatten Lügen zugelassen und mit falscher Diplomatie den Nährboden bereitet für den Hass, der langsam wuchs, getrieben auch von der Hysterie und der Hetze, die plötzlich ausbrachen und nicht mehr einzudämmen waren.
Gott, was haben wir da heraufbeschworen.
Vergib uns, Gott, wenn es dich gibt, irgendwo da oben in dieser Bläue, in der wir ein Schwarz hineinmalen werden wie es die Welt noch nicht gesehen hat, wir größenwahnsinnigen Idioten, wir, die selbsternannten Heiligen unseres Jahrhunderts, dachte der alte Mann.
Und an seine Söhne dachte er, die auch da draußen waren und die er nicht mehr würde sehen können.
Seine Frau wollte nicht mit den anderen weggebracht werden, wollte bei ihm bleiben wie all die Jahre, drängte sich in seine Arme, als sie den Helikopter besteigen sollte. Sie blieb bei ihm und als der Helikopter über ihnen senkrecht in den Himmel stieß als letzte Brücke zu einer zu Grabe getragenen Welt, wusste er nicht wohin mit seinen Tränen. Er schloss die Augen und seine Wangen brannten dabei und die Haare seiner Frau waren nass und es schüttelte ihn vor Gram und seine Frau flüsterte ihm ihre Liebe ins Ohr.
Wir beide haben alles richtig gemacht miteinander, sagte sie und er spürte ihre Lippen als die der jungen Frau, die sie war, als er sie das erste Mal sah bei dieser Tanzveranstaltung, hilflos und mit großen Augen und wunderschön inmitten all der anderen. Ihr erster gemeinsamer Foxtrott, von ihm tolpatschig und nervös geführt. Das Leuchten in ihren Augen, von Beginn an nur für ihn da, wie für ihn geschaffen, ihre Taille schmal wie die einer Ballerina.
An das dachte der alte Mann und die Zeit stand ganz kurz still.
Ein zaghaftes Räuspern im Hintergrund ließ ihn den Blick wenden, von einem Horizont, den es so nie mehr geben würde. Da stehen sie und warten auf mein letztes Wort, dachte er.
Gott, wenn es dich gibt, vergib auch ihnen. Sie waren Kinder und wollten nur spielen. Jetzt müssen sie zu Ende spielen. Es waren unsere Spielregeln, wir benutzten sie nur verkehrt herum und erhöhten den Einsatz. Wir wollten das so nicht. Niemals.
Hörst du mich, lieber Gott?
Kannst du mein Denken erahnen so kurz vor der absoluten Endgültigkeit?
,Mister Präsident?'
Die Frage, trocken, fast unhörbar.
,Der rote Knopf, General.'
Gott, bitte vergib uns, dachte der alte Mann als die ersten Nuklearwaffen des Gegners einschlugen und die Vögel brennend vom Himmel fielen und dieser explodierte und sich das Land darunter auflöste und Seen und Flüsse verdampften und das Meer würgte und spie und die erste Geige spielte in dieser aufbrechenden Hölle.