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Erdbeeren
Eigentlich wollte ich Erdbeeren. Und ich hab sie bekommen, und darum bin ich jetzt tot.
Heute Nacht war ich neugierig und hab nachgesehen, ob sie einem wirklich das beste Kleid anziehen, und sie haben mich richtig rausgeputzt. Die Ringe haben sie mir gelassen, auch die roten Ohrstecker von Tante Moretti sind noch drin. Sogar meinen Bauch haben sie hinbekommen und die Beine liegen auch wieder nebeneinander. Der Arm blutet natürlich nicht mehr, aber ich weiß nicht, womit sie die Brust ausgestopft haben. Die war ja richtig eingedrückt. Vielleicht mit Zeitungen.
Dabei schien vorgestern die Sonne, das erste Mal seit fast einer Woche. Und wir wollten raus und was unternehmen, Lena und ich. Schwimmen oder so. Lena mochte ich schon im Kindergarten, als sie mir in der Pause ihre Milchschnitte gegeben hat. Dafür wollte sie dann meine Spangen haben, die mit den Schmetterlingen. Ich glaub, sie hat sie verloren.
Wegen vorgestern bin ich ihr nicht einmal sauer. Sie kann ja nichts dafür. Eigentlich. Ich meine, sie wusste ja nichts von dem Lastwagen. Nur von den Erdbeeren wusste sie.
Ob sie mich sehen? Tante Moretti schaut manchmal so komisch her, wenn sie ihr Glas abstellt. All die Leute - viele kenne ich nicht. Oma sehe ich da und Opa, Mama, Papa. Sie sind traurig, dass ich nicht dabei sein kann. Dabei bin ich hier, schaut doch mal, vielleicht seht ihr mich. Ich muss eh bald weiter, die Frau in dem weißen Kleid hat es gesagt.
Lena wollte Eis und ich wollte keins. Aber ich wollte auch keinen Streit, und so sind wir zum Sancho, der hat das beste, auch wenn er kein Italiener ist, sondern Spanier, aber den Leuten ist das egal, und uns auch. Lena hat gefragt, warum ich keins wollte, und ich sagte ihr, mir wäre nicht danach, ich hätte lieber Erdbeeren. Mit Sahne und Zucker, der so schön zwischen den Zähnen knistert.
Leider gibt's beim Sancho keine Erdbeeren, die gibt's nur drüben beim San Marco. Der ist Italiener, aber sein Eis schmeckt nach Pampe, nur die Erdbeeren sind gut; in einem großen Becher aus Glas und mit einem langen Löffel, mit dem man auch an die rankommt, die unten in der Sahne ertrinken.
Gläser klirren, der Braten sei gut, höre ich, aber Mama freut sich nicht. Opa sticht die Gabel in das Fleisch und sägt wie an einem Stück Holz. Opa war Schreiner, er kann wohl nicht anders. Oma sagt, wie fassungslos sie sei. Das sind sie alle: Fassungslos. Ich würde ihnen ja gerne sagen, dass es nicht schlimm ist, aber ich glaub, sie können mich nicht hören.
Irgendwie haben wir dann gestritten, Lena und ich. Weil ich Erdbeeren wollte. Richtig angezickt haben wir uns, bis sie davongestürmt ist, zum Sancho. Ich war so sauer! Immer bekam sie, was sie wollte. Nur ich nicht. Da hab ich irgendwas geschrien und bin los, wollte über die Straße und zum San Marco, wollte meine Erdbeeren. Und dann hat's gequietscht, gescheppert, und ich denke, ich hab auch gekreischt. Jedenfalls am Anfang, dann konnte ich nimmer, weil der über mich drübergefahren ist, der Lastwagen. Glaub, es hat auch weh getan. Und dann bin ich aufgestanden und hab schrecklich ausgesehen, so auf dem Boden. Alles rot.
Aber ich hab lachen müssen, so lachen, nur niemand hat's gehört. Der Lastwagen ist voll in ein Auto rein, als er ausweichen wollte, darum hat's so gescheppert. Und von hinten ist viel runtergefallen, von seiner Ladung, und direkt auf mich drauf. Lauter kleine Obstkisten waren das, mit Erdbeeren. Erdbeeren!
Da hab ich dann die Frau in dem weißen Kleid gesehen, und auch sie hat lachen müssen, als sie die Sauerei gesehen hat und ich bin ernst geworden und wollte nicht, dass sie lacht. Immerhin lag ich ja unter dem Berg aus Beeren und war tot. Aber sie hat nur gesagt, jeder bekäme immer, was er wollte.
Da hätte ich ihr am liebsten etwas gesagt, wofür Mama mich schimpfen würde.