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Engel

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30.01.2006
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Engel

Niemand kann, was Trauer ist erahnen,
der nicht zuvor einmal geliebt.
Denn lieben heißt nicht nur gefallen,
sondern verlieren, was man gibt.

Es ist noch nicht lange her, da erwachte ich in meinem Bett und starrte auf das Poster, das die kahle Wand meines Zimmers schmückte. Nur eines, denn mein Zimmer war klein und ich wollte mich nicht durch zu viele Bilder erdrückt fühlen. So blieb mir also nur, meinen Blick auf den einzelnen Farbtupfer an der Wand gegenüber zu lenken. „Mein Engel...“ Gleich als ich sie damals in der heruntergekommenen Kneipe gesehen hatte, wie sie da hinter dem Tresen an der schmutzigen Wand hing, mit Reiszwecken brutal dort gefangengehalten, da hatte ich gewusst: Sie gehört mir.
Sie war so blass, so zerbrechlich und ihr Blick schien mich förmlich anzuflehen. „Rette mich!“, so sprach sie in ihrer zarten Stimme zu mir, „Bring mich fort von hier und ich werde mit dir auch aus deinem Gefängnis fliehen...“
Sie war schlank, groß und ihre Haut schimmerte wie Alabaster. Mit ihren zierlichen Händen schien sie ihr Kleid davor bewahren zu wollen, noch mehr von ihrem perfekten Körper zu enthüllen. In mir stiegen Schamgefühle hoch, als ich mich bei dem Wunsch ertappte, sie würde dem Drang des Stoffes, zu Boden zu fallen, nachgeben. Dass sie ein Engel war erkannte ich natürlich sofort. Doch schien sie schon lange durch die schwere Kette, die an ihrem Hals befestigt war, vom Paradies ferngehalten worden zu sein. Ihre einstmals sicher prachtvollen Flügel hingen in Fetzen herab und die silbernen Spitzen, die an ihnen befestigt waren, hatten sich dunkel verfärbt. Ihre Augen waren unergründlich und von einem wundersamen Farbton, ein dunkles violett, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Um ihren Kopf wanden sich, vom Staub und der Qual der Gefangenschaft weiß gefärbt, die Haare meiner Göttin.
Und während ich sie noch betrachtete und sie von Sekunde zu Sekunde nur bewundernswerter schien, stieg in mir die Ahnung eines ungeheuren Verlustes, ein gewaltiger Schmerz bewältigte sich meines Herzens und bohrte spitze Nadeln in meinen Verstand. Unter Tränen begann ich mit dem widerlichen Kneipenbesitzer über das Lösegeld für meinen Engel zu verhandeln.
Und nun war sie hier, in Sicherheit. Behutsam hatte ich den Staub von ihr geblasen, denn sie berühren, das getraute ich mich nicht, sie hätte mich womöglich für schamlos oder schlimmeres gehalten, hätte ich ihren hilflosen Körper mit meinen viel zu groben Händen berührt. In einem Antiquariat kaufte ich den schönsten Bilderrahmen der Stadt für meinen Engel. Und so hing nun ihr Poster bei mir und ich harrte der Dinge, über die sie mit mir gesprochen hatte.

***​

Es ist noch nicht lange her, da lag ich in meinem Bett und konnte meinen Blick einfach nicht von ihr wenden. Ich war gefangen. So wie sie eine Kette um den Hals trug, so war ich an sie gekettet, war ihr treu ergebener Diener, ihr Sklave. Nackt lag ich vor ihrem Bildnis und wartete darauf, dass sie mich endlich von meinen Seelenqualen erlöse. Sie war meine dunkle Göttin, meine Gefährtin in der selbst erwählten Einsamkeit und ich hatte nur ein Verlangen: Ihre Stimme zu hören und zu erfahren, wie ich sie erlösen konnte, diesen Engel, den ein unbarmherziges Schicksal in dieses schreckliche Poster gesperrt haben musste.
Stunden verbrachte ich vor ihren Füßen, weder Nahrung noch Wasser wollte ich zu mir nehmen, bevor ich sie nicht gehört hatte.
Nach fast zwanzig Stunden kamen mir Zweifel. Was, wenn ich mir diese Stimme nur eingebildet hätte? Was tat ich hier überhaupt? Meine Güte, wie lächerlich ich doch aussehen musste. Ein erwachsener Mann, der sich vor einem Poster erniedrigte! Verrückt!
„Du bist nicht verrückt. Du liebst mich.“

***​

Es ist noch nicht lange her, da kniete ich vor ihrem Bild und lauschte ihrer herrlichen Stimme, die zu mir von neuen Wundern, der Liebe und dem Fluch sprach, der auf ihr lag. Immer mehr war ich fasziniert von dieser Schönheit, die sich meiner erbarmte. Ich spürte ein bis daher ungeahntes Sehnen nach ihrer Nähe. Und obwohl ich mir der Unmöglichkeit dessen, was ich mir von ihr erhoffte bewusst war, ich konnte nicht anders als meine Bitte an sie zu richten: „Küss mich...“ Noch ehe diese Worte meine Lippen verlassen hatten bedauerte ich sie auch schon. Wie konnte ich es wagen, dieses engelsgleiche Wesen durch eine solch verwegene Äußerung zu demütigen. Sie sah mich an von ihrem Poster, dass dort an meiner Wand so fehl am Platz wirkte, als wäre ein Kirchenaltar auf eine Müllkippe gestellt worden. Ihre Augen schienen mich zu durchleuchten und jeden meiner innersten Gedanken an die Oberfläche zu bringen. Ich spürte, wie mir die Schamesröte ins Gesicht schoss und ich am ganzen Körper zu zittern begann, als wäre es bitterster Winter und ich schutzlos dem Schneesturm ausgeliefert. Und ein Sturm war es auch, der den Saum ihres Kleides zuerst aus dem Bild heraus wehte. Das Glas im Rahmen zersplitterte und tausende winziger Scherben flogen mir entgegen, streiften meine blanke Haut und hinterließen schmerzhafte kleine Kratzer in ihr, so dass das Blut in feinen Rinnsalen meinen bebenden Körper hinabfloss. Heiß schlug mir ihr Atem aus dem sich ins Unendliche erstreckenden Poster entgegen und verbrannte meine zerschundene Haut. Es war mir egal. Meine Göttin war erwacht.

***​

Es ist noch nicht lange her, da lag ich halb wahnsinnig vor Schmerzen zu Füßen meiner Gebieterin und kannte doch nur einen Gedanken: Ich wollte ihre Lippen berühren und uns durch einen Kuss endgültig vereinigen. Und das Unglaubliche geschah: Sie beugte sich zu mir hinab, ihre weiß glänzenden Haare strichen langsam an meinen Schultern entlang. Sie bedachte mich mit einem geradezu gierigen Blick aus ihren herrlichen Augen und mit einem Lächeln führte sie ihre perfekten Lippen an meine. Dieser Kuss war für mich wie ein Blick in eine fremde Welt. Ich sah Bilder, von denen ich nie gedacht hatte, dass sie noch in mir existieren. Meine Familie, Freunde, alte liebgewonnene Gesichter blickten traurig auf mich hinab und wandten sich ab von mir. Ich wollte ihnen nachrufen, wollte sie nicht verlieren, doch mein Engel versiegelte mir durch den Kuss die Lippen und zwang mich ins Vergessen. Alles in mir wurde ausgelöscht, was nicht mit ihrer herrlichen Erscheinung, nicht mit ihrem Schicksal verknüpft war. Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, befand ich mich in einer steinernen Kammer. Vor mir lag mein nun so fernes Zimmer und hinter mir unendliche Dunkelheit. Sie lächelte mich an. „Denke immer daran,“ sprach sie ein letztes Mal zu mir, „Menschen sind dumm genug sich zu verlieben.“ Mit diesen Worten schloss sie die Kette, die sich vorher um sie gewunden hatte, um meinen Hals. Ein unbändiger Schmerz traf mich zwischen den Schulterblättern, als große Flügel mit silbernen Spitzen aus meinem Rücken hervorbrachen, während ihre zu schwinden begannen. Ein weißes Laken wickelte sich schlangenartig um meinen Körper. Ich wollte schreien, aber selbst meine Stimme hatte sie mir genommen. Mit einem letzten, schmerzhaft süßen Blick drehte sie sich um und verschwand in der Schwärze, an die ich von nun an gebunden war.

***​

Es ist noch nicht lange her, da blickte ich von meinem tristen Gefängnis aus durch eine dreckige Schaufensterscheibe auf die Straße hinaus. Wie lange ich dort schon hing? Nun, sagen wir es so: Mein schulterlanges Haar war bereits grau geworden. Ein Mädchen blieb vor mir stehen und starrte mich lange an. Da merkte ich, wie sich meine Sinne regten, die Erinnerung kehrte zurück. Ich fing ihren Blick mit meinen Augen ein, von denen ich wusste, dass sie geheimnisvoll violett funkelten. Ich lächelte. Menschen sind dumm genug, sich zu verlieben...

 

Hi,

für alle, die's interessiert (der Rest kann's ja ignorieren):

Die Geschichte basiert auf einem Gedicht, dass ich vor Jahren mal geschrieben habe. Hier komplett, vielleicht als Ergänzung zur Geschichte:

Niemand kann was Trauer ist erahnen
Der nicht vorher einmal geliebt
Denn lieben heißt nicht nur gefallen
Sondern verlieren was man gibt

Gibst du dein Lächeln ist’s verloren
Gibst du Freude – einerlei
Nur Tränen bleiben dir erhalten
Alle Freude zieht vorbei

Machst du dir Hoffnung – armes Kind
So bist du schon verloren
Denn wer liebt ist selten froh
Die Liebe ist aus Hass geboren

Falscher Freund tritt aus dem Schatten
Zeig dein garstiges Gesicht
And’re mögen vor dir fliehen
Mein Herz gebrochen fürchtet nichts


So, dann lass ich euch mal lesen...

Penny

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey Penny,
zuerst dachte ich mir: Oh Gott, was ein Kitsch. Der Titel und der erste Vers des Gedichts. Ich habe zum Glück weitergelesen, und mich mit deinem Protagonisten in seine Obsession gelesen.
Sprachlich finde ich, triffst du den Ton. Daran kann ich nichts bemängeln-
Wunderbar wie du diese Isolation und das Nur-Noch-Für-Eine-Sache-Leben darstellst.
Zuerst dachte ich jedoch, dass es sich um eine Frau handelt, die da anbetet. Erst als du von einem erwachsenen Mann als Ich sprichst, wurde mir die Heterosexualität deiner Geschichte klar, was aber letztendlich egal ist. Wenn du den Leser jedoch nicht fehlleiten willst, würde ich vielleicht gleich etwas von der Männlichkeit preisgeben. Kam mir nämlich nicht vor wie ein Mann. Ein Mann würde es wie Theo in „Die Träumer“ mit dem Marlene Dietrich Poster machen… Film gesehen? Wenn nein- na ja, was Jungs eben so mit oder ohne Bilder manchmal machen.
Am Ende, wenn ich das richtig verstanden habe, findet eine Art Transformation statt. So Vampir-like. Er wird zum Bild, und setzt den Kreislauf fort.
Einzige Frage meinerseits: Wie kam er denn dann in ein Schaufenster?
Ansonsten habe ich das wirklich gerne gelesen. Toll.
Timo

Ach so:

Der Glas im Rahmen zersplitterte
Das Glas, oder ist mir da was entgangen?

EDIT: was ich noch ergänzen muss: Horror finde ich die falsche Rubrik, denke da eher an Romantik/Erotik.
Hab vorher nicht auf die Rubrik geachtet, und einfach unter "Neue Beiträge" mich auf das Fresschen gestürzt.

 

Hallo TimoKatze,

habe auch schon lange darüber nachgedacht, wo ich das Ganze poste.

Die "Männersicht" realistischer rüberzubringen fällt mir als Frau leider einigermaßen schwer...

Und wie er ins Schaufenster kommt? Gute Frage... Ich glaube, das wäre dann Stoff für eine weitere, stinklangweilige Kurzgeschichte über Vermisstenanzeigen, Erbschaftsstreit und/oder Wohnungsräumungen, die ich der Welt besser erspare...

Viele Grüße,

Penny

 

Hallo Penny_lane

Niemand kann, was Trauer ist erahnen,
der nicht zuvor einmal geliebt.
Denn lieben heißt nicht nur gefallen,
sondern verlieren, was man gibt.

Schön das Zitat (aus deinem Gedicht) vorab, das mir vertraut vorkam, ohne dass ich sagen kann, es in dieser Form schon mal gelesen zu haben. Vielleicht habe ich Ähnliches schon Mal in einer Grabesinschrift gesehen …

Und so hing nun ihr Poster bei mir und ich harrte der Dinge, über die sie mit mir gesprochen hatte.

Der zweite Teil des Satzes beinhaltet einen Widerspruch. Er könnte sich zwar auflösen, doch tut er es nicht. So wirkt es auf mich eher wie ein Satz unausgegorener Mystik. Oder irre ich mich?

Es ist eine poetisch kleine Geschichte des Fantastischen oder aber einer Entrückung. Du erwähnst zwanzig Stunden ohne Nahrung und Wasser. Eine der Methoden, der religiös geprägte Menschen sich zuweilen bedienten, um ekstatische Zustände zu fördern, wobei dieser Zeitrahmen dafür aber zu knapp ist.

Ich fand es sehr angenehm zu lesen, abgehoben aber unterhaltsam. Doch ein Moment des Gruselns blieb mir völlig aus.

Gruss

Anakreon

 
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Moikka penny_lane,

und herzlich willkommen hier. :)

Mit Horror hat das nun wirklich ueberhaupt nix zu tun, es gibt aber verschiedene Möglichkeiten, wohin der Text verschoben wird, sag mir doch bitte hier im thread oder per PN Bescheid, fuer welche Rubrik Du Dich entschieden hast.
* Romantik/Erotik - wegen der verkitschten Sprache mehr als wegen des Inhalts allerdings ... weiss nicht. Von einem solchen fast reinen Zuckerguss-Metapherntext wäre ich dort schwer enttäuscht. Man erwartet ja schon ein bisschen, da.
* Sonstige - als Cross-Over-Rubrik, wenn Text schwer zuzuordnen ist
* Jugend - das wäre mein Vorschlag. Suesser Kitsch, Drama, Verzweiflung und so ein unreflektierter Ueberschwang der Gefuhle passt am besten zu Leserinnen unter zwanzig.

Ich wuerde zwei Dinge empfehlen:
- Mach einen Lesbentext draus. Da ist kein Mann rauszulesen, egal wie man es dreht und wendet. Das liegt an der Art, wie gesprochen wird, was auffällt, mit welchen Begriffen diese Frau belegt wird. Egal, ob Du selbst auf Frauen stehst oder nicht, und im Grunde auch egal, ob Du hier weiterhin einen Mann denkst - es wäre viel runder und stimmiger.
- Du hast eine, sori, grauenhafte Art, von diesem bodenlosen Kitsch in völlig banale Alltagssprache zu fallen. Das macht den Text unfreiwillig komisch.

Ich hab nur Zeit, Dir ein Bsp. zu geben, aber danach kannst du den Text nochmal selbst durchgehen (am besten am Ausdruck, da sieht man mehr als am Bildschirm):

Es war mir egal. Meine Göttin war erwacht.
Joar, egal ... ob ich mir jetzt nen Burger reinziehe oder Fritten. Urgh, und dann GÖTTIN.

Poster muss raus. Das hat mit Teenieschwärmereien fuer Tokio Hotel (oder was inzw in ist) zu tun, aber nicht mit irgendwelchen quasiuebernatuerlichen Wesen, die angebetet werden. Mach doch ein Bild draus oder wenigstens eine Kohleskizze oder sowas. Jedenfalls a) ein Original und b) etwas mit mehr Substanz.

Falls Du mal wieder unsicher bist, wo ein Text hingehört: Schau doch mal jeweils in die oben in den Rubrikthreads festgehaltenen Themen "Was passt in diese Rubrik?". Das hilft sehr gut.

So, ich wuensche weiterhin viel Spass hier! Danke fuer eine Rueckmeldung zur Rubrik. (Falls Du Dich nicht meldest, verschiebe ich morgen Abend nach Jugend.)
:) Katla

 

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