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Ellis im Sprung
Als Kind hatte sich Ellis immer vorgestellt, ihr Bett könnte fliegen. Der Teppich mit den Blumen war ein Blumenfeld gewesen. Nachts richtete sie die Nachttischlampe auf die roten und weißen und gelben Blüten am Boden. Wände, Poster, Mädchenspielsachen und Poesiealben verschwanden in der Dunkelheit. Sie hatte sich das so sehr vorgestellt, dass ihr schwindelig wurde davon und sie niesen musste. Irgendwann hatte Rocco eine Zigarette fallen gelassen und weil der Teppich ohnehin zu kindlich für ihr Alter war, hatten sie ihn weggeschmissen. Dann war das Bett nur noch ein Bett, auf dem sich Ellis von Rocco ficken ließ. Jetzt beschien die Nachttischlampe Zigarettenstummel und zerknüllte Taschentücher.
An dem Tag, an dem Marek ihr begegnete, hatte Ellis nicht geweint. Aber sah man genau hin, konnte man die Spuren ihrer letzten Tränen sehen, und Marek sah genau hin. Sie standen an einer verschneiten Haltestelle und warteten auf die Straßenbahn. Marek studierte den Fahrplan und fluchte. Er sagte, dass es manchmal gut täte, die ganze Scheiße aus dem Leben auf einen Tag zu schieben. Der heutige Tag eigne sich besonders dafür. Das Warten störte sie nicht. Sie blickte auf die andere Straßenseite und auf die Schneeflocken, die zwischen ihr und dem gegenüberliegenden Haus schwebten. Es schien, als würde Ellis sie zählen oder unter ihnen nach einer suchen, die sie schon einmal gesehen hatte. Dann sagte sie: „Ja.“
Marek war schmutzig im Gesicht. Auf seiner blauen Arbeiterhose war Öl verschmiert. STREICH MOBILE stand darauf. Trotz der Kälte roch er nach Schweiß. Seine Hände konnte sie nicht sehen, weil er Handschuhe trug, aber sie war sich sicher, dass Arbeiterhände darin steckten. Sie mochte keine Arbeiter und als sie sich bei diesem Gedanken ertappte, schämte sie sich dafür.
„Ich mag deine Jacke“, sagte sie.
Marek schaute sie an.
„Machst du dich über mich lustig?“
„Nein. Ich meine das ernsthaft“, log sie, auch wenn es stimmte, dass sie sich nicht über ihn lustig machte. „Sieht warm aus.“
„Ist aber scheißkalt“, sagte Marek.
Der Schnee hatte die Schienen verdeckt und das Glashäuschen sah aus, als stünde es an der falschen Stelle.
„Eigentlich schade“, sagte Marek. „Damals habe ich mich gefreut, wenn es geschneit hat, hab Schneemänner gebaut oder eine Schneeballschlacht gemacht mit Freunden. Heute ist es ätzend, weil ich den Schnee in der Einfahrt räumen muss oder Reifen wechseln.“
„Du hast ein Auto?“
Marek schüttelte den Kopf.
„Denkst du, die Straßenbahn kommt heute noch?“, fragte er.
Ellis zuckte mit den Achseln.
Sie stapften durch den Schnee und obwohl Ellis‘ Schritte viel kleiner waren als seine, war sie schneller. Sie ging mit ihm, aber irgendwie wäre sie ihm auch gerne davon gelaufen. Die Luft tat weh beim Atmen und roch so, als würde man unter eine Motorhaube schnüffeln. Außerdem arbeitete er in einer Werkstatt. Der hatte bestimmt keine Ahnung von Fromm oder Dostojewski, von der scheinbaren Umlaufbahn des Mondes oder was es bedeutete, Retroviren in seinen Zellen zu tragen. Weil sie dachte, dass sie nicht mit ihm reden könne, redete sie nicht mit ihm, aber weil er mit ihr reden wollte, sagte er: „Du hast in letzter Zeit viel geweint, stimmt‘s?“
Sie blieb stehen und er ging die zwei, drei Schritte weiter, die sie ihm voraus war. Ellis schaute ihn an, ertappt und ängstlich und ein bisschen sauer. Dann bückte sie sich, griff in den Schnee, formte einen Ball und klatschte ihn Marek mitten ins Gesicht.
Die Straßenbahn fuhr vorbei und die beiden saßen lachend im Schnee.
„Es tut mir leid“, sagte Marek.
„Ist schon okay“, sagte Ellis.
Er stand auf, putzte sich den Schnee von der Hose bis die Ölflecken wieder zu sehen waren und half Ellis aufzustehen.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte er.
„Ellis.“
Marek wollte Ellis nach Hause begleiten, obwohl er in die entgegengesetzte Richtung musste.
„Ich will nicht, dass du weißt, wo ich wohne“, sagte sie.
„Denkst du, ich bin ein Triebtäter oder so?“
„Ja.“ Ellis nickte. „Genau das denke ich.“ Dass sie ihn mochte, sagte sie ihm nicht.
Nach dem ersten Kuss mit Rocco hatte sich Ellis hübsch und intelligent gefühlt, vor allem lebendig. Es war in einer Wiese gewesen und sie hatte den Geruch von frisch geschnittenem Gras noch immer in der Nase, wenn sie daran zurückdachte. Seit zwölf Tagen aber dachte sie ans Sterben und an den Tod. Sie fühlte sich nicht krank. Sie hustete nicht. Ihr tat nichts weh und das Gesicht im Spiegelschrank schien gesund, wenn sie heimlich ihre Medikamente schluckte. Rocco klopfte an der Tür. „Jetzt nicht“, sagte Ellis. Er probierte es trotzdem, aber es war abgeschlossen. Als sie damals Roccos beschnittenen Schwanz gesehen hatte und ihn nicht schön fand, tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass so weniger Krankheiten übertragen wurden. In den letzten Tagen hatte sie etwas Ähnliches in einer Wochenzeitung von ihrem Vater gefunden. Sie hoffte, dass es stimmte. Roccos Zigaretten konnte sie nicht ausstehen, aber sie mochte, wie er sich anzog; nicht, was er anhatte, sondern wie er es trug. Sogar in Boxershorts und T-Shirt sah er nicht albern aus. Sie mochte, wie er sich auszog, und das Gefühl an ihrer Fingerspitze, wenn sie das Relief seiner Bauchmuskulatur nachfuhr. Sie sammelte Gedichte, die er ihr schrieb, sich nicht ausdachte, sondern von berühmten Dichtern abschrieb und umschrieb, bis sie passten. Am liebsten bastelte er an den Zeilen von Rainer Maria Rilke.
Was hat mich unter dieses Mädchen gelegt,
Duftend wie ein Blumenteppich,
Hin und her bewegt,
Rufend zugleich und bange,
Dass einer den Ruf vernimmt,
Und zum Untergange,
In einem anderen bestimmt.
Wenn er aus NATURE vorlas, lauschte sie gern. Er krächzte, wenn er mit ihr oder jemand anderem sprach, aber wenn er vorlas, hatte er die Erzählstimme aus einer Fernsehdokumentation. Zuletzt zitierte er einen Artikel, der von Tränen handelte und davon, dass sich Freudentränen im Mikroskop von Tränen des Schmerzes unterschieden. Tränen beim Zwiebelschneiden sahen wieder anders aus. „Es ist, als würde jede einzelne Träne einen Mikrokosmos all unserer Gefühle in sich tragen.“ Gerne hätte Ellis ihm die Tür aufgeschlossen, aber sie traute sich nicht. Mit heißem Wasser duschte sie ihre Tränen weg. Danach legte sie sich zu ihm ins Bett. Wie eine aufblasbare Sexpuppe lag sie dort. Eine Puppe, die wie dreiunddreißig Millionen Menschen weltweit mit diesem Virus infiziert war. Sie hatte sich testen lassen. Kurz darauf bekam sie einen Brief, in dem stand, sie solle sich bei einem Arzt, namens Dr. Sternthal, vorstellen. Er tastete nach irgendwelchen Knoten, fand aber keine. Ob sie im letzten Jahr ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt hätte, wollte er wissen. Achso, aha. Ellis‘ Mund fühlte sich an, wie er sich anfühlte, wenn Rocco geraucht und sie dann geküsst hatte. Dr. Sternthal nahm ihr Blut ab, nur zwei kleine Röhrchen voll, und bestellte sie nach fünf Tagen erneut. Seine ruhige Stimme klang noch beruhigender, aber alles, was er sagte, war Lärm. Ein unerträglicher Lärm in ihren Ohren und allem, was dazwischen lag. Dann brach sie zusammen.
Und ihre Welt. Aber wenn sie ihrer Mutter dabei zusah, wie sie Heidelbeeren auf einem Teig verteilte und danach pfeifend den Kuchen in den Ofen schob, oder wenn sie ihrem Vater dabei zusah, wie er ein Modellflugzeug, das er gerade zusammenklebt hatte, mit einem Faden von der Decke baumeln ließ oder wenn sie vom Fenster aus die vorbeifahrenden Autos beobachtete und das Blinzeln der Leute am Steuer, weil die Sonne blendete, die trotz allem, jeden Tag auf- und unterging, erkannte Ellis, dass die Welt nicht gebrochen war, sondern einen Sprung hatte, und sie sich in diesem Sprung befand.
Als Rocco zu ihr kam und etwas sagte, sagte sie auch etwas. Als er sie küsste, ließ sie sich küssen, und als er an ihrer Hose zupfte, zog sie sich aus und dachte an den Teppich und an das Blumenfeld. Und ein bisschen an Marek. Das Lächeln war anstrengend.
In der Universität schauten ihre Freundinnen auf die Schminke und darunter, auf das geschrumpfte Lächeln. Ellis stopfte sich Kopfhörer in die Ohren und während der Vorlesungen sagte sie – wenn sich Jasmin oder Tina zu ihr beugten – sie wolle sich konzentrieren. Sie tuschelten hinter Ellis‘ Rücken. Das war okay. Wäre Ellis das Lächeln leichter gefallen, hätte ihre Mutter vermutlich nicht andauernd nachgefragt und sie hätte es niemandem erzählt. Als Ellis‘ Vater davon erfahren hatte, wollte er Rocco umbringen, riss dann aber die Modellflugzeuge von der Decke des Arbeitszimmers, zerstörte einige davon und weinte ununterbrochen. Vor der Arbeit klatschte er sich Wasser ins Gesicht und hielt die Luft an. Kam er nach Hause, atmete er aus. Ellis wollte nicht, dass ihre Eltern mit Rocco darüber sprachen und als Rocco ihren Vater fragte, warum er in letzter Zeit so betrübt sei, schlug er ihm ins hübsche Gesicht und hörte erst auf, als ihn seine Frau zurückzerrte. Ellis war daneben gestanden und hatte nichts unternommen. Das Blut musste sich Rocco selbst abwaschen und auf seine Empörung hin sagte sie bloß: „Das war nur folgerichtig.“
STREICH MOBILE lag zwei Straßen vom Campus entfernt. Nach der Universität erkundigte sich Ellis dort nach einem jungen Mann mit schwarzen Locken und grünen Augen.
„So genau schau‘ ich mir meine Leute nicht an, Kleines“, sagte ein dicker Mann in Nadelstreifenanzug, der sich seinen Namen, Fritz Streich, mit einem Schildchen auf die Brust geklemmt hatte. „Heißt du zufällig Ellis?“, fragte er dann.
„Ja.“
„Marek hat den ganzen Morgen von einer Ellis gesprochen. Er hat schwarze Haare. Ob seine Augen grün oder blau sind – weiß der Teufel.“
Ellis hinterließ ihre Nummer und sagte: „Es ist anders, als sie denken.“
Sie verabschiedete sich und stiefelte davon. An der Straßenbahnhaltestelle musste sie an das denken, was Marek über den Winter gesagt hatte. Ein Großteil vom Schnee war geschmolzen. Sie kniete sich auf den Asphalt, knetete den Matsch und baute einen schwarzen Schneemann, den sie auf die Bank im Glashäuschen setzte. Für den Mund nahm sie ein Stückchen einer durchweichten Tagesfahrkarte. Nase hatte der Schneemann keine. Ihre Kleidung roch nach Werkstatt und Autos, und das mochte sie.
Ellis‘ Eltern schauten zu Boden, wenn sie ihr zufällig im Flur begegneten oder wenn sich Ellis an den Tisch setzte und wenig aß. Während sie auf die Suppe im Löffel pustete, fragte ihre Mutter ständig, ob alles in Ordnung sei. Ihr Vater beteuerte, wie sehr man sie doch verstehe. Ellis schlug mit der flachen Hand in die Schüssel. Die Suppe spritzte durch das Zimmer, auf das Familienfoto an der Wand, auf ihre Eltern und auf sie selbst. Einige Tropfen blieben am Schirmleuchter hängen und seilten sich nacheinander auf den Tisch herab. „Könnt ihr mich bitte nicht behandeln wie eine Todkranke.“ Ellis wischte sich die Suppenreste aus dem Gesicht und leckte ihre Finger ab. Dann sagte sie ihren Eltern, wie sie sich das alles vorstellte, und sie waren erleichtert. Es gab keine Anleitung für diese Sache. Ihr Vater kümmerte sich von nun an um den Papierkram, stritt mit Versicherungen, wenn sie eine Therapieoption ablehnten, und verdoppelte die Summe, die er Ellis zu Monatsbeginn überwies. Ihre Mutter setzte sich intensiv mit der Erkrankung auseinander, konsultierte Ärzte, besorgte Medikamente aus der Apotheke und ordnete sie mit einer kurzen Anwendungsnotiz in den Spiegelschrank. Eine einzige Frage stellten sie ihr jedoch: „Warum sagst du nichts zu Rocco?“
hey schneetriebtäterin, sitz heut um drei im Bätt falls du mir nachstellen willst
Fünf Tage waren vergangen, seitdem sie in der Werkstatt gewesen war und sie hatte gedacht, der dicke Anzugmann hätte den Zettel mit der Nummer verlegt oder Marek hätte kein Interesse an ihr. Ihr Vater war mit dem Firmenwagen auf einer Konferenz in der Schweiz, ihre Mutter war mit Oma zum Friseur gefahren und Ellis hatte bis um halb drei Seminar. Das Bätt war mit Straßenbahn ungünstig zu erreichen. Dreimal hätte sie umsteigen müssen, die letzten achthundert Meter laufen und bestenfalls hätte sie es bis halb vier geschafft. Sie rief Rocco an. Er fuhr.
Marek grüßte zum BMW, aus dem Ellis stieg, und als sie sich zu ihm setzte und Marek wissen wollte, wer der Typ mit dem BMW sei, sagte sie: „Das ist mein Bruder.“
Rocco winkte und brauste davon.
„Ihr seht euch nicht ähnlich“, meinte Marek.
„Wir sind uns nicht ähnlich“, sagte Ellis.
Sie war etwas dünner geworden, aber bei weitem nicht dürr. Ihre Brüste spannten den weinroten Wollpulli. Sie bestellten Pizza und Marek aß die Ananasstückchen, die Ellis aus ihrer Pizza pflückte. Unter seinen Fingernägeln waren schwarze Halbmonde. Sie fand schade, dass er nicht nach Werkstatt, sondern einem billigen Herrenduft roch. Ihre Augen sahen in der Beleuchtung aus wie zwei tanzende Schneeflocken, und selbst wenn Marek sie stundenlang angestarrt hätte, hätte er niemals die Viren entdeckt, die zwischen ihr Erbgut kritzelten, sondern immer nur die junge Frau gesehen, die er liebend gern geküsst hätte, und die sich liebend gern von ihm hätte küssen lassen.
Er sagte, sehe er eine Frau, sei die Haarfarbe das erste, was ihm auffalle. Jede Blondine, die ihm in den letzten Tagen begegnet sei, sei Ellis gewesen. Die Mutter mit den beiden quengelnden Kindern, die in die Werkstatt kam und den Kleinen erklärte, was Auswuchten war. Die Eisverkäuferin, die den Winter über in einem Blumenladen arbeitete, Marek aber nicht erkannte, obwohl er im Sommer fast jeden Tag Eis bei ihr gekauft hatte. Irgendwelche Mädchen mit Schultaschen, die viel jünger waren als Ellis und ihm auf dem Rad entgegen kamen. Überall sei Ellis. Sogar wenn er die Augen schließe, in die Sonne schaue und das rosafarbene Blut in seinen Lidern sehe. Er fand das übertrieben. „Eigentlich hast du hellbraunes Haar“, sagte er. „Nur wenn das Licht in einem bestimmten Winkel fällt, wenn du den Kopf nach unten neigst, als würdest du etwas suchen, was dir gerade aus der Hand geglitten ist, und wenn das Licht über dir schwebt, ungefähr so.“ Mit dem Finger zeichnete er einen unsichtbaren Heiligenschein über seinen Kopf. „Nur dann bist du ein bisschen blond.“
„Warum hast du mir geschrieben?“, fragte Ellis.
„Damit ich mir dein Gesicht einprägen kann und dich nicht ständig mit allen Frauen auf der Straße verwechsel“, sagte Marek. Er nahm einen Schluck Bier, stieß auf und pustete die Luft leise zur Seite.
„Und warum hast du mir deine Nummer dagelassen?“, fragte er.
„Das weiß ich noch nicht.“
Die Hintergrundmusik gefiel Ellis. Gern hätte sie gewusst, von wem das war, damit sie es Zuhause hören konnte, klar und laut und ohne Gesprächsfetzen dazwischen. Vielleicht kannte Marek die Band. Sie fragte ihn nicht. Sie dachte darüber nach, dass man nicht bei der Sache war, wenn man auf die Musik achtete.
„Hast du von dem Jungen gehört, der es liebte, in dem Pool zu schwimmen, in dem seine Eltern ertrunken sind?“
Ellis schüttelte den Kopf.
„Ich finde das komisch“, sagte Marek. „Das ist, als würde man mit dem Mörder seiner Eltern ins Kino gehen und aus dem gleichen Strohhalm Cola trinken.“
„Ich finde das nicht komisch“, sagte Ellis. „Das Schwimmen im Pool und der Tod seiner Eltern haben nichts miteinander zu tun.“
„Studierst du Psychologie oder so?“
„Ja.“
„Echt?“ Marek lachte. „Dann muss ich total aufpassen, was ich sage, weil du sonst alles über meine Kindheit weißt und wie ich ticke.“
„Quatsch“, sagte Ellis. „Ich bin erst im zweiten Semester.“
„Ich passe trotzdem auf.“
Sie sprachen über das Leben, warum es manchmal glücklich machte und warum es manchmal beschissen war oder einfach da. Dabei tauschten sie nichts Persönliches aus. Sie bedienten sich an den Schicksalen anderer, und am Ende wussten sie nicht viel mehr voneinander, als an jenem Tag, an dem die Straßenbahn zu spät kam. Nachdem Marek Ellis‘ Essen und Ellis Mareks Essen bezahlt hatte, flüsterte er ihr zu, sie solle den Kellner ablenken; wozu, sagte er nicht, oder zu leise. Sie ging zum Kellner und fragte, ob er AIDS-Kranke anders behandeln würde. Der Kellner, der einem ehemaligen Lehrer von Ellis ähnelte, war völlig überfordert mit der Frage und sagte, dass er natürlich jeden gleich behandle, also, er sei sich nicht sicher, aber er denke schon, zum Glück sieht man das ja nicht, meinte er zuletzt. Als Ellis das Restaurant verließ, war Marek verschwunden.
Es tut mir leid aber ich musst weg, zeig dir nächstes mal warum. war schön lg
Sie ging durch die Nacht und betrachtete die Sterne. In der Stadt waren sie nicht so hell, aber sie waren da und das war schön.
Nachdem sie ihre Tabletten eingenommen hatte, schlüpfte sie zu Rocco unter die Bettdecke und weckte ihn. Er wollte etwas über das Referat wissen. Ellis erzählte ihm etwas. Danach saugte sie an seinem Schwanz. Sie hatte oft überlegt, was Rocco an ihr mochte. Rocco sagte Ich liebe dich wie andere Gesundheit! , wenn jemand geniest hatte, nur dass es kein Niesen war, sondern ein Moment, wenn sie nah aneinander lagen, sich nicht zu berühren und nichts anderes zu sagen wussten, meistens aber kurz bevor er sich verabschiedete und ging. Sie fühlte sich vollkommen austauschbar, aber am Ende schloss man vermutlich jenes Spielzeug in sein Herz, mit dem man ständig spielte, obwohl es Millionen andere davon gab.
Am Morgen frühstückte Rocco nicht bei Ellis. Ihre Mutter hatte ihm keinen Teller und keine Tasse hingestellt. Er schaute Ellis‘ Mutter an. Sie steckte in denselben knallbunten Kleidern, verwendete den gleichen erdbeerfarbenen Lippenstift, trug jene Stoffohrringe, die sie vor zwei Jahren von Ellis zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, aber sie war eine andere Frau. Nicht die Mutter seiner Freundin, die ihn mochte und ihm bei jeder Gelegenheit ein Küsschen auf die Wange drückte, sondern eine Frau, die nicht wollte, dass er da war. Rocco sagte zu Ellis, dass er morgen noch einmal kommen werde, aber wenn ihr Vater aus der Schweiz zurückkehre, werde er sie nicht mehr besuchen. Er zeigte auf eine kleine Narbe auf seiner Stirn. Und als sie dort im Türrahmen standen, nah aneinander und sich nicht zu berühren oder etwas anderes zu sagen wussten, und weil es ein Abschied war, flüsterte ihr Rocco ein Ich liebe dich ins Haar. Ihre Mutter sollte es nicht hören. Ellis nickte, winkte Rocco hinterher und wartete, bis das Geräusch des BMWs in der Ferne verklungen war.
Sie schrieb Rocco, dass ihr Vater früher nach Hause gekommen sei, und schickte Marek ihre Adresse. Er hatte ein dickes Buch dabei, das er auf Ellis‘ Bett legte.
„Du rauchst?“, fragte er.
Ellis schüttelte den Kopf. Er schaute auf den Aschenbecher, dann zu Ellis. „Ab und zu“, sagte sie leise. „Was hast du da?“
„Deswegen musste ich früher weg“, sagte er. „Ich habe es geklaut.“
„Ich kenne niemanden, der Bücher klaut.“
„Man kann die nicht kaufen“, sagte Marek.
Ellis schaute misstrauisch, setzte sich aufs Bett und blätterte durch die Seiten. Es war ein Gästebuch.
„Jetzt kennst du jemanden, der Bücher klaut“, sagte Marek.
„Wieso machst du das?“
Marek fuhr sich durchs Haar.
„Meine Eltern betreiben eine Gaststätte und ich hab als Kind immer in dem Gästebuch gelesen. Viele unterschiedliche Menschen haben an einem Buch geschrieben. Sie erzählen freilich keine Geschichte, aber man kann doch Gefühle lesen darin. Die meisten schreiben bloß, was sie gegessen haben und wie es ihnen geschmeckt hat oder wie scheußlich es war, aber allein das ist schön zu lesen.“
„Und warum liest du das Gästebuch nicht einfach, wenn du im Restaurant bist?“
„Manchmal muss man Blumen ausreißen, um sich daran zu erfreuen“, sagte Marek und Ellis konnte nicht glauben, dass seine Hände Motoren zerlegten und wieder zusammenschraubten, Zündkerzen wechselten, Radachsen einstellten und Räder wuchteten.
„Warum arbeitest du eigentlich in dieser Werkstatt?“
„Wieso fragst du?“, fragte Marek.
„Nur so.“
Ellis‘ Mutter klopfte und erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei. Marek rutschte ein Stückchen weg von Ellis. Sie sprang auf, öffnete die Tür, nahm ihrer Mutter den Blaubeerkuchen und den Kakao ab und schickte sie fort. Die Gabeln legte sie beiseite. Dann fütterte sie Marek.
„Ob lecker von lecken stammt?“, fragte sie.
Marek kaute seinen Bissen zu Ende.
Sie dachte darüber nach, es ihm zu sagen, oder einfach mit ihm zu schlafen, ihn anzustecken, ihn auf ihre Seite zu holen, aber dann nahm sie ihn in den Arm oder ließ sich von ihm in den Arm nehmen und küsste ihn vorsichtig, ohne Zunge, nicht einmal mit der Innenseite ihrer Lippen.
Nachdem sie wollte, dass er geht, und er ging, sagte er nichts Liebes, sondern nur, dass er ihr das Buch schenke. Ellis öffnete das Fenster und schaute Marek hinterher. Hinten am Kopf hatte er eine kahle Stelle, die sie noch nicht bemerkt hatte. Sie setzte sich zurück ins Bett. Das Fenster ließ sie offen. Zwar mochte sie Mareks Geruch, aber er gehörte nicht in ihr Zimmer. Sie schlug das Gästebuch auf. Nach einer kurzen Suche hatte sie die Stelle gefunden.
Wir teilen uns Strohhalm, Löffel und Serviette, aber eure Pizza, die teilen wir uns nicht.
E. & R.
Ellis rief Rocco an und presste das Ohr gegen seine krächzende Stimme.
„Ich denke ständig darüber nach, aber ich kapier nicht, warum mich dein Vater geschlagen hat. Mein Gesicht tut immer noch weh. Musste sogar meinen Chef anlügen. Er hat mich gefragt, ob ich einen Fight Club gegründet habe oder so.“
„Ich weiß nicht, was los war mit ihm. Papa hat im Moment viel Stress in der Arbeit. Der will auch nix sagen dazu.“
„Heute ist mir auch noch der BMW verreckt. War den ganzen Tag in dieser blöden Werkstatt.“
„Welche Werkstatt?“
„Ich weiß nicht, wie die heißt. In der Nähe von der Uni. Warte, ich schau auf die Rechnung. Irgendetwas mit Maler oder Pinsel. Ah, Streich. Genau. Haben mir das komplette Auto zerlegt.“
Dass Rocco von Marek oder Marek von Rocco nicht irgendwann, sondern sehr bald erfahren würde, war Ellis klar. Trotzdem tat sie so, als wären sich die beiden längst begegnet. Als wäre nichts komisch daran.
Marek hatte sich nicht mehr gemeldet bei ihr. Ihre SMS blieben unbeantwortet. Sie wollte den Geschmack seines Mundes in ihrem haben, aber wenn sie an den Kuss dachte, schmeckte sie nichts. Sich an etwas zu erinnern, was nie geschehen war, unterschied sich kaum von der Vorstellung an eine Zukunft, die nie eintreffen würde. Aber weil es nicht dasselbe war, suchte sie im Adressbuch, das jahrelang ungelesen in einer Schublade der Ankleide gelegen hatte, nach einem Marek und weil sie seinen Nachnamen nicht kannte, suchte sie lange. Sie fand fünf Mareks. Alle wohnten in ihrer Stadt, aber nur einer wohnte in der Nähe jener Stelle, an der sie sich nach dem Schneespiel getrennt hatten. Ellis ging in die Theo-Liebknecht-Straße. Hausnummer 47. Aus keinem der Fenster drang Licht. Sie klingelte, aber niemand öffnete. Sie setzte sich auf die Treppe und schaute zu, wie der Schnee in ihre Spuren fiel; sie verschwinden ließ.
Sie wartete und fror und stellte sich vor, dass der Schnee auch sie verschwinden lassen könnte, und sie fragte sich, ob sie sich das wünschen sollte. Rocco war ein fantastischer Liebhaber. Er sagte Ich liebe dich. Er sagte es beiläufig und auf eine eigenartige Weise, aber entscheidend war doch, dass er tat, was er sagte. Ihr Vater hatte kein Recht, ihn zu schlagen, und ihre Mutter hatte kein Recht, ihm keinen Teller und keine Tasse hinzustellen. Ellis hätte sich nicht von ihm ficken lassen dürfen, nachdem sie von ihrer Krankheit erfahren hatte. Sie hätte ihm von Svens Geburtstagsparty erzählen müssen. Als sie betrunken war, Rocco ihr das Glas nicht aus der Hand reißen konnte, weil er nicht da war, sondern für die Prüfung am nächsten Tag lernte. Und wie zwei Fremde sie mit Schokoladenkuchen beworfen, an ihr geleckt, sie ausgezogen, mit ihr geschlafen und sich geküsst hatten dabei. Es hatte sich angefühlt wie ein Traum, den man einmal zu Ende träumen sollte. Sie dachte darüber nach, dass sie Marek mochte. Ihn vielleicht liebte. Und dass die Welt nicht gebrochen war, sondern einen Sprung hatte und sie sich in diesem Sprung befand.
Sie starrte in die Dunkelheit. Sterne waren nicht zu sehen, aber Ellis wusste, dass sie da waren. Irgendwann – sie hatte nicht auf die Uhrzeit geachtet - glitt ein Schatten aus dem Schwarz und es war Marek. Gerne wäre sie aufgesprungen, zu ihm gerannt und mit ihrer Zunge in seinen Mund gefallen, aber sie stand auf und blieb stehen. Ihr Haar war grau.
Ständig muss ich an dich denken. Und an das Gesicht, das du mir hingehalten hast und ich bloß küssen konnte, wie ein Stückchen Wand. Ein Stückchen Wand, an das ich meine Lippen und Ohren presse; aber nur lauschen kann, was sich dahinter verbirgt. Ich glaube, ich weiß jetzt, was das sein könnte und mir bleibt nichts anderes übrig als meine Lippen und Ohren von dem Stückchen Wand zu nehmen. Leb wohl, Ellis!
Es klang, als würde er einen Brief vorlesen, aber er hatte keinen in der Hand. Hatte er überhaupt etwas gesagt? In der Dunkelheit konnte Ellis nicht erkennen, ob er seine Lippen bewegt hatte. Er ging an ihr vorbei, öffnete die Tür und verschwand im Haus. Einen Moment lang hatte sich ihre rechte Schulter warm angefühlt.
kannst du mich abholen?
Rocco hätte Ellis beinah umgefahren, weil sie auf der Straße stand, zwischen zwei weißen Streifen. Er bremste, stieß die Tür auf und wollte aussteigen, wurde aber vom Gurt zurückgerissen. Er schnallte sich ab und lief zu Ellis, packte sie mit beiden Händen an den Armen und erschrak, weil sie ausgekühlt war, eisig, fast tot vor Kälte. Rocco trug Ellis zum Auto, öffnete die Beifahrertür und setzte sie auf den Sitz. Im Wetterbericht für nächste Woche kündigte ein Sprecher Sonnenschein an. Rocco stellte das Radio aus. Er brachte Ellis nach Hause, klingelte. Niemand öffnete. Er klingelte wieder. Wieder öffnete niemand. Er klingelte noch einmal. Das Licht im Treppenhaus ging an. Dann öffnete Ellis‘ Vater die Tür. Er trug einen Bademantel und blinzelte, als würde ihn etwas blenden. „Du?“, brüllte er. Als er seine Tochter in Roccos Armen sah, verstummte er. Er nahm Ellis und schickte Rocco fort. Rocco wollte nicht fort. Ellis‘ Vater schlug die Tür zu. Rocco klingelte. Niemand öffnete. Das Licht im Treppenhaus erlosch.
Ellis‘ Vater badete seine Tochter in heißem Wasser. Er hatte sie nicht nackt gesehen, seitdem sie Brüste hatte, und weil ihn der Anblick erregte, flüchtete er aus dem Zimmer und bat seine Frau, sich um Ellis zu kümmern.
Am nächsten Morgen schauten ihre Eltern wieder auf den Boden, als sie den Stuhl, den sie ihr hervorgeschoben hatten, zurückschob und noch eine Tasse und noch einen Teller auf den Tisch stellte und dabei Rocco anrief. Seine Augen, sein Mund und seine Hände sahen aus, als wollte er etwas damit machen, als wollte er ihnen etwas antun, aber er setzte sich zu Ellis‘ Vater und zu Ellis‘ Mutter und zu Ellis an den Frühstückstisch und frühstückte still.
Danach gingen die beiden auf Ellis‘ Zimmer, wo sie sich aufs Bett setzten. Auf dem Nachtkästchen lag das aufgeschlagene Gästebuch von Marek. Rocco steckte sich eine Zigarette an und betrachtete den Eintrag. Er hatte ein blaues Hemd an und eine Baumwollhose, seine Haare hingen nachlässig gekämmt im Gesicht. Heute sah er nicht edel aus. Sie pflückte die Zigarette aus seinem Mund, zerquetschte sie auf dem Gästebuch und verrieb sie in seiner Schrift. In solch einem Moment hätte er Ich liebe dich gesagt, aber er sagte: „Ich kann nicht mehr.“ Sie küsste ihn nicht. Sie begann, ihn auszuziehen, und weil er sich sträubte, zerriss sie sein Hemd und fetzte die Knöpfe an seiner Hose auf. Ihr Top rollte sie nach oben, so dass er ihre Brüste sehen und anfassen konnte. Er spürte ihre warme, weiche Haut und bekam eine Erektion. „Ich will nicht. Wir müssen aufhören damit. Das alles muss enden. Jetzt.“ Den Slip schob sie zur Seite und setzte sich auf ihn. Rocco verstummte. Was hat mich unter dieses Mädchen gelegt, duftend wie ein Blumenteppich, hin und her bewegt? Sie schloss die Augen. Rufend zugleich und bange, dass einer den Ruf vernehme. Sie hatte den Duft von frisch geschnittenem Gras in der Nase und von Motoröl, vor allem von Motoröl. Sie dachte an Marek und dass er an sie dachte, obwohl er nicht an sie denken wollte.
Und zu einem Untergange in einem anderen bestimmt. Es tat weh. Ellis stellte sich vor, dass ihr Bett fliegen konnte. Jeder wollte fliegen können, vielleicht war sie die einzige, die fliegen können wollte, aber sie fragte sich, was sie tun würde, wenn sie fliegen könnte, und wahrscheinlich würde sie am Anfang das Gefühl genießen, aber schon sehr bald würde sie einfach in der Luft hängen und nichts tun. Trotzdem wünschte sie sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher.