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Eiskalt und glasklar
„Apfelbäume sind kahl zu dieser Jahreszeit.“ Mehr sagte er nicht, als er die schier endlose Apfelplantage begutachtete. Allgemein war er nicht sehr gesprächig, doch schien das,was er sagte, mit einer für andere nicht erklärbaren Weisheit behaftet. Das glatte, schwarze Haar tief im Gesicht hängend, stand er so da. Kein Muskel regte sich in seinem scheinbar makellosen Gesicht, das in all seiner Regungslosigkeit eine kalte Herzlichkeit ausstrahlte. Sie hatte ihn schon immer bewundert, und auch jetzt stand sie ehrfürchtig hinter ihm. Die Tage wurden langsam kürzer, und auch die Temperaturen sanken stetig. Sie umklammerte mit ihren blassblauen Händen,ihren jeweils gegenüber liegenden, in Wolle gehüllten Oberarm. Ihr Atem kondensierte an der kalten Luft, und stieg in kleinen Wölkchen in den dunklen Abendhimmel. Es war noch nicht spät, doch sie konnte schon den Mond und vereinzelt Sterne am Schwarzen Firmament erblicken. Ihre Nase kratzte, doch sie hatte keine Lust, sich aus ihrer Wärme und Geborgenheit spenden Selbstumarmung zu lösen.
Irgendwo in weiter Ferne kreischte ein Vogel auf eine herzzerreißende Weise, wie zum Abschied, bevor er seine Reise gen Süden antritt.Nachdem diese Liebesbekundung abgebrochen war, brach die Stille wieder in ihrer vollen Universalität über sie herein. Sie war so umfassend, dass sie ihr beinahe greifbar schien. Fast wollte sie ihren Arm danach ausstrecken, doch stattdessen fuhr sie mit ihren schwarz-weißen Chucks durch das Gras, sodass der Stoff mit glasklaren und eiskalten Wassertropfen benetzt wurde. Hätte sie sein Gesicht sehen können, hätte sie vielleicht das nur einen Augenblick dagewesene Zucken in seinem Gesicht bemerkt. Und hätte er sich umgedreht, hätte er vielleicht, die vorsichtig aus den Augen kriechenden Tränen bemerkt, die sich ihren Weg über das ausdruckslose Gesicht bahnten. Nie hätte sie verstanden was er fühlte. Er hatte von Anfang an ihr stilles Verlangen wahrgenommen, doch nie etwas damit anzufangen gewusst. Kurz hinter ihm stoppte sie ihren Körper, der aus innerster Kraft nach mehr schrie. Eine Träne hing an ihrem roten Haar, das auch ihr wunderschön ins Gesicht fiel, und darin spiegelte sich der vollkommene Mond.
Sie mochte die Nacht,mehr als den Tag. Sie wirkte beruhigend auf sie, schenkte ihr irgendeine Kraft, an die sie selbst nicht glaubte,doch die irgendwie half. Obwohl die Kälte Taubheit in ihren Ohren trieb, spürte sie jetzt doch, deutlicher als je zuvor, ihre Piercings an den Stellen, an denen sie unnatürlicher Weise ihre auffallend blasse Haut durchstachen, schmerzlich brennen. Ein leichter Windhauch glitt über das, bis auf die Bäume kahle, Land und brachte ihre Haare dazu, anmutig ihr Gesicht zu umspielen. Hätte er sich umgedrehte, hätte er möglicherweise sogar die Schönheit darin gesehen, so ebbte die Bewegung jedoch, nur vom sie zudeckenden Himmelszelt anerkannt, unbeachtet ab. Von dieser äußerlich schönen Erscheinung unbeeindruckt, zerschnitt ihr der Wind mit seinen eisigen Klingen das Antlitz. Sie zuckte leicht zusammen, von Kummer und Schmerz durchflutet. In seiner Wahrnehmung keinesfalls beeinträchtigt vernahm er sehr wohl den kaum hörbaren Klagelaut, doch wieder war ein leichtes Zucken das einzige Zeichen der Erkennung. Sie erhob langsam die wohlklingende Stimme, um irgendwas zu sagen, egal was es war, Hauptsache die Stille, an die sie sich inzwischen schon fast gewöhnt hatte würde durchbrochen werden. Sie hätte ihm gerne so viel erzählt, von sich, von ihren Gefühlen, von ihren Problemen, doch: „Ich verstehe dich“ ,war Alles, was ihrem Mund entkam, war Alles, was in die kalte Nachtluft flüchtete, und sich irgendwo verlor. Natürlich hatte er sie gehört, und natürlich hatte er verstanden, was sie meinte, doch natürlich glaubte er nicht, das es stimmte. Und obwohl er wusste, das es falsch war, antwortete er mit seiner unglaublich zarten, aber keinesfalls verletzlichen Stimme: „Ich weiß“
Eine kleines bisschen Hoffnung glomm in ihrem Inneren auf, doch sie wurde gleich darauf durch die Kälte in seiner Stimme erstickt, und lediglich ein paar Brandwunden auf ihrer Seele, unter den anderen kaum erwähnenswert, erinnerten daran. Doch irgendwie waren sie anders, bedeutungsvoller, vielleicht hatten sie das letzte noch intakte Stück ihrer Seele zerstört, sodass sie endlich begriff. Endlich löste sie sich, drehte sich um, und ließ ihn alleine stehen, für immer allein. Er macht keine Anstalten ihr nachzugehen oder sie aufzuhalten, sondern flüsterte nur in die sonstige Stille der Nacht: „Ich verstehe dich“, und diesmal meinte er was er sagte.