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Eisige Flanken bieten keinen Halt
Als sie um die letzte Biegung kamen stand er vollends vor ihnen. Kein Berg, ein Gott. Ein grimmiger Gigant, der sich gewaltig über das steinige Tal erhob.
„Ihr Ameisen, ihr wollt mich bezwingen? Ihr werdet scheitern“, brüllte der Wind sie an. Er trug die Botschaft des Berges zu ihnen hin. Schnee stob wie wallendes weißes Haar eines Riesen von seinem Gipfel. Die eisig gepanzerten Flanken funkelten wie eine Rüstung im gleißenden Sonnenlicht.
„Versucht es nur, versucht es nur“, zischte eine eisige Böe ihnen zu, „versucht es nur!“
Gebannt starrten sie das Ungetüm an. Nur für einen kurzen Moment machte sich ein mulmiges Gefühl in ihnen breit, bis die grimmige Entschlossenheit sie wieder in die eiserne Faust nahm und mit sich trug.
„Dich ersteigen wir, auf dir werden wir thronen“, brüllten sie. Merkten nicht, wie der Sturm ihre Worte mit sich riss und zu einem unverständlichen Gewirr zerstreute.
Müde stapften sie über den knirschenden Gletscherarm zum Fuß des Giganten. Ausläufer aus schwarzem Fels griffen nach ihnen wie die Klauen des Drachen. Der Berg schnaufte verächtlich, als sie ihre Steigeisen in seinen Eispanzer rammten. Sein Spott dröhnte in ihren Ohren.
Sie sprachen wenig, beschäftigten sich mit sich selbst. Verbissen spurten sie einen Schritt um den anderen, kämpften mit sich selbst. Mehr noch als gegen den Berg. Schauerliche Wächten versperrten ihnen ein um das andere Mal den Weg. Keiner zweifelte, keiner verzagte. Alle versagten.
Schneestürme türmten Schneemauern Schicht um Schicht vor ihnen auf. Es wurde mit jedem Schritt schwerer, sie zu durchpflügen. Sie gaben nicht auf. Wer aufgibt, verliert. Der Berg war der einzige für den dies nicht galt. Er würde in jedem Fall verlieren, ob sie nun seinen Gipfel erstiegen oder nicht.
Sein Seufzen klang wie Hohn in ihren Ohren, so kämpften sie sich noch eifriger hinauf. Krallten Finger in Felsenvorsprünge, schlugen Eispickel in seinen Panzer, rammten Steigeisen in seine Flanken. Der stumme Gigant heulte und sie deuteten es als das Trotzen des Windes.
Als es Nacht wurde schlugen sie ihr Lager auf. Keuchend, nach Sauerstoff ringend, den es nicht mehr gab, steckten sie zusammen, was dorthin nicht gehörte. Wütend versuchte der Wind die Zeltbahnen mit einem blitzenden Streich zu zerreißen. Sie waren zu stark.
Sie igelten sich ein in die Schlafsäcke. Vermummten sich und bibberten trotzdem. Beißend drang die Kälte durch die Zeltwände, wie Nadeln auf der Haut. Warum waren sie hier? Weil er da war? Weil sie ihn besiegen wollten? Keiner wußte die Antwort, nur einige glaubten sie zu wissen. Sie irrten.
Für Gedanken war kein Platz mehr. Gedanken hatten hier nichts mehr verloren, nur noch nach oben. Immer weiter.
Der nächste Tag kam und mit ihm die Leichen. Sie pflasterten ihren Weg nach oben. Erstarrt im Frost, die Arme zu flehenden Gesten gekrümmt. Je höher man klettert, desto tiefer kann man fallen. Diese, viele, würden niemals wieder nach Hause zurückkehren. Gedanken? Keine. Pech gehabt, nicht stark, nicht zäh genug gewesen. Und die, die unten geblieben sind? Schwächlinge, die es nie geschafft hätten.
„Kehrt um, kehrt um“, kreischten die eisigen Flanken. Sie verstanden nicht. Nach oben, das galt.
„Hier ist kein Platz für das Leben, oben gibt es keinen Sauerstoff. Kein Leben.“
Einen Schritt, Pause. Wieder einen Schritt, wieder eine Pause. Letzte Meter. Der Gipfel war nah. Keine Gedanken, nur weiter. Kopf war leer. Zum höchsten Punkt. Das Allerhöchste.
„Kein Ziel, ich bin nicht das Ziel.“ Das Weinen des Berges ging im verbissenen Kampf unter. Ertrank in der Leere.
Der Gipfel. Nah; erreicht. Sie waren oben, ohne Sauerstoff, ohne Lächeln. Erschöpfung, unendliche. Und nun? Der Sturm lichtete sich. Nur noch ein entferntes Heulen. Unendliche Landschaft, Berge, Täler.
Und nun? Was nun?
Abstieg. Es starben wesentlich mehr beim Abstieg, als beim Aufstieg. Die blanken Eisflanken bieten keinen Halt.