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Einwegticket nach Afrika, bitte
Elodie stand mitten in der Bahnhofshalle. In der einen Hand ihren roten Lederkoffer, an der anderen hielt sie eine kleine Gestalt. Sie hatte eine zierliche Figur, trug ein rot-weiss gepunktetes Kleid und Bänder in den blonden Haaren. Elodie schaute sich um. Niemand hier beachtete sie; gut so. Sie wollte nicht erkannt werden.
Trotzig sagte sie sich: „So, jetzt ist genug, ich geh weg. Ich wandere aus. Das haben sie nun davon!“ Wie um sich selbst zu bestätigen, dass sie das Richtige tat, fügte sie, an die kleine Gestalt an ihrer Hand gewandt, hinzu: „Nicht wahr, Ted? Wir gehen zusammen weg, nur wir beide!“ Ohne irgendeine Form einer Erwiderung abzuwarten, drehte sie sich entschlossen auf dem Absatz ihrer Lackschuhe um und marschierte mit grossen Schritten auf den Ticketschalter auf der anderen Seite der Halle zu. Dort angekommen stellte sie sich einfach irgendwo an. Jemand tippte ihr auf die Schulter. Ein älterer Herr. Er räusperte sich: „Junge Dame, es tut mir Leid, aber du solltest vielleicht zuerst einmal eine Nummer lösen“ Sie schaute ihn genervt an, setzte sich dann aber in Bewegung Richtung des Automaten, wo man die Nummer holte. Sie drehte sich nochmals zu dem Herr um. „Duzen sie mich bitte nicht, mein Herr“, sagte sie mit trotzig vorgeschobener Unterlippe und einem bemüht vornehmen Ton in der Stimme. Der Mann schaute sie verdutzt an und musste sich ein Lachen verkneifen.
Die „junge Dame“ hatte nun ihr Nummernkärtchen gelöst. Was nun? „89“ stand da drauf. Musste sie jetzt den 89. Ticketschalter suchen? Sie schaute sich um. Keine Spur von der Zahl 89. Da ertönte eine Stimme: „Nummer 78 bitte zu Schalter Nr. 4. “ Ach so, nun verstand Elodie: Sie musste nur warten, bis man ihre Zahl aufrief. Sie teilte es der Gestalt an ihrer Hand mit: „So, Ted, wir müssen jetzt nur noch darauf warten, dass wir aufgerufen werden. Ich weiss, so weit kannst du nicht zählen, aber ich mach das schon, keine Angst.“
Schliesslich wurde ihre Zahl endlich aufgerufen. Elodie marschierte darauf schnurstracks auf den angegebenen Schalter zu. „Guten Tag“, begrüsste sie die kaugummikauende Frau hinter dem Schalter. Die Frau trug ein Namensschildchen, auf dem sie als S. Smolic angeschrieben war. „Ist heute nicht ein wunderbarer Tag? Wie geht es Ihnen denn heute?“ Die Frau runzelte die Stirn, ging aber auf den Redeschwall der jungen Dame nicht weiter ein. „Was wünschen Sie?“ ganz routiniert, vollkommen gelangweilt. „Wie unfreundlich die ist!“ flüsterte Elodie ihrem Ted empört zu. Zu der Frau hinter dem Schalter sagte sie: „Ich wünsche eine Fahrkarte nach Takatukaland. Das liegt in Afrika. Einwegticket. Und ich pflege in bar zu zahlen.“ Bevor die kaugummikauende Verkäuferin etwas erwidern konnte, hob Elodie schon ihren roten Lederkoffer an und stellte ihn mitten auf den Schalter. Einen Moment bitte, ich habe mein Bargeld hier verstaut. Sie öffnete den silbernen Verschluss des Koffers, und begann ihre Habseligkeiten auszuräumen. Nacheinander holte sie eine pinkfarbenes Buch, einen Stadtplan von Peking – was auch immer das nützen sollte, zumal sie sich in München befand -, eine Haarbürste, verschiedene Kleidungsstücke – allesamt gepunktet oder geblümt -, einen Schokoriegel, ein Fernglas, ein kleines Etui, und schliesslich auch ein Portemonnaie. Bis auf dieses verstaute sie alles fein säuberlich und in aller Ruhe wieder in ihrem Koffer. Sie öffnete die rosafarbene Geldbörse und holte einige Geldscheine hervor. Sie zählte sie an ihren Fingern ab: „Eins, zwei, drei, fünf, zehn. Zehn Hunderternoten dürften reichen, denke ich.“ Die S. Smolic schaute sie zweifelnd an. „Nicht?“ Elodie verzog ärgerlich den Mund. „Heutzutage kostet ja sogar die kleinste Reise ein Vermögen“, schimpfte sie. „Aber gut, hier, ich lege noch zwei-, nein, fünfhundert Euro drauf. Ist das genug?“ Mit spitzen Fingern hob S. Smolic einen der Geldscheine auf und hielt ihn gegen das Licht. Mit ihrer gelangweilten Stimme sagte sie: „Sag mal, Schätzchen, willst du mich eigentlich für dumm verkaufen? Das is’ Spielgeld, Kleine. Für sowas hab ich echt keine Zeit.“ Und damit schob sie den Stapel mit Elodies Geld zur Seite und rief die nächste Nummer auf. Das Mädchen schnappte empört nach Luft. „Du, du, du Dumme, so lasse ich also wirklich nicht mit mir reden! Ich will doch nur nach Takatukaland!“ Sie stapfte wütend davon. „Und wir sind immer noch beim „Sie“!“ fügte sie noch hinzu.
Elodie rannte quer durch den Bahnhof und liess sich dann auf eine Bank fallen. Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und fing hemmungslos an zu Schluchzen. So hatte sie sich das Auswandern nicht vorgestellt: Statt in Takatukaland gemeinsam mit Pippi Langstrumpf Abenteuer zu erleben, sass sie nun auf einer Bank im Münchner Bahnhof und wusste nicht weiter.
Irgendwann setzte sich eine Frau neben sie. Elodie zog die Nase hoch und betrachtete sie Frau neugierig von der Seite. Sie hatte braunes, glänzendes Haar, trug einen schwarzen Hosenanzug und war wahrscheinlich etwa so alt wie ihre Mutter. Die Frau las Zeitung. Elodie entzifferte die Schlagzeile: „Kl-ei-n-es-Mä-d-c-h-en-w-ird-ve-rm-i s-s-t-El-te-rn-si-n-dv-er-zweif-e-lt“. Elodie lachte bitter auf. „Ha, sollen die sich doch besser um ihr Kind kümmern! Das haben sie nun davon!“ Sie begann erneut zu weinen. Sie zog die Knie an und presste Ted an sich. „Sie sind s-s-selb-bst Sch-schu-uld!“ stotterte sie, von Weinkrämpfen geschüttelt. Die Frau starrte sie erschrocken an. Ihr Blick wanderte zu dem Foto, das auf der Innenseite abgedruckt war. „Aber natürlich!“ rief sie. „Du bist das vermisste Kind, nicht wahr? Weshalb bist du denn weggelaufen, mein Kind?“ Sie legte einen Arm um Elodie, die nach wie vor fürchterlich schluchzte, und strich ihr über den Rücken. Das Mädchen schüttelte ihre Hand ab und sprang auf. „L-lass mich in Ruhe, du, ich w-will nicht zurück nach Hause!“ Die Frau starrte ihr mit offenem Mund nach, als sie davonrannte.
Später blieb Elodie nach Atem ringend an der nächsten Strassenecke stehen. Sie stellte ihren Koffer neben sich auf den schmutzigen Boden und hielt sich ihren Teddybären Ted vors Gesicht. „Ted“, sagte sie mit weit aufgerissenen Augen und ernster Stimme, „was sollen wir jetzt tun?“