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Einer flog ins Paradies
Ein sanftes Rauschen. Drang es vom Meer?
Für einen Augenblick entspannte er sich, versuchte, sich die Brandung vorzustellen. Möwen, die ihre gemächlichen Runden über das Wasser zogen, auf der Suche nach Fischen. Ein klares Bild entstand vor ihm und hinter ihm, neben ihm und einfach überall. Bis zum Horizont reichende Sandbänke, die romantisch im Abendrot schimmerten. Friedvolle Geräusche stimulierten seinen Geist.
Dennoch, etwas stimmte nicht. Er spürte die angespannte Muskulatur seiner Arme, die er aus irgendeinem Grund ausgestreckt hielt.
Er dachte einen Moment lang nach und plötzlich wusste er, was anders war. Das Meer rauschte zu gleichmäßig. Es verstummte nicht, wenn sich die Wellen an den Steinen brachen, die jenseits des Strandes aus der Wasseroberfläche ragten. Die Szenerie verschwamm kurz, als eine innere Stimme ihn davor warnte, länger an diesem Ort zu verweilen.
Dann kehrte die Zufriedenheit zurück.
Wärme. Wohlbefinden. Selbst die merkwürdige Haltung der Arme störte ihn jetzt nicht mehr. Er hatte das Gefühl, vollkommen frei zu sein.
Ein lauter Knall riss den Vorhang der Benommenheit zur Seite und als Hendrick die Augen öffnete, sah er in ihren Winkeln mehrere Gegenstände verschwinden, die tiefe Beulen auf seiner Motorhaube hinterlassen hatten.
Der Lastwagen vor ihm fuhr Schlangenlinie und ein erstes Fahrzeug wich bereits aus. Hendrick verzog mehr aus Reflex das Steuer und preschte auf den Mittelstreifen. Ein blauer Ford Kombi wurde als nächstes von der herabfallenden Ladung erwischt, weitaus heftiger allerdings als sein Mercedes. Die Fahrerkabine drückte sich unter der Wucht des einschlagenden Gegenstandes zusammen, ehe der Wagen gegen die Leitplanken driftete.
Noch bevor Hendrick die ganze Situation in vollem Umfang erfassen konnte, verlangsamte der LKW seine Fahrt bereits viel zu drastisch und machte Anstalten, sich auf der nassen Fahrbahn quer zu stellen. Auf dem Schnellstreifen schoss ein weiteres Fahrzeug an ihm vorbei und Hendrick dankte Gott dafür, rechtzeitig die Spur gewechselt zu haben. Er konnte nur noch erkennen, das es ein roter Wagen war, der ungebremst in die Seite des Anhängers prallte.
Er wird so klein wie ein Bündel, dachte er entsetzt und trat in der Hoffnung, das Bremspedal zu erwischen, irgendwohin.
Die Katastrophe wurde innerhalb eines halben Augenblickes zum apokalyptischen Fiasko. Eine handvoll Autos schleuderte inmitten zu spät eingeleiteter Ausweichmaßnahmen in das brennende Inferno hinein, das der Laster so unvermittelt ausgelöst hatte.
Hendrick nahm nicht mehr bewusst wahr, dass er sich schon überschlug.
Er wollte zurück ans Meer.
Als er wieder zu sich kam, hing eine seltsame Atmosphäre in der Luft. Es regnete noch immer und das Gras, in dem er lag, war feucht.
Das war sein erster Gedanke. Alles feucht; bizarre Vegetation an der Randbegrenzung.
Seine Augen weigerten sich, die Realität zu akzeptieren. Vermutlich war die Autobahn gesperrt worden. Die rasch blitzenden Lichter der Krankenwagen durchzuckten die Nacht, alles schien abstrakt zu sein. Die Sirenen waren abgeschaltet. Absolute Stille. Nur dieses Licht.
Er stand auf und blickte...nein, die Augen weigerten sich.
Die Menschen liefen aufgeregt hin und her. Einige liefen nicht mehr, sie lagen dort, mehr nicht. Es roch angenehm, so wie bei einem Grillabend im engen Freundeskreis.
Die Schnallen des Gurtes hatten sich in seine Haut gebrannt, bevor sie gerissen waren. Hendrick schnappte nach Luft.
"Hallo", sagte er schüchtern. Sein Herz raste.
"Hallo", wiederholte er.
Weshalb kümmerte sich denn niemand um ihn?
Er erinnerte sich an die Möwen. War er ein Fisch? Möglicherweise brauchte er bloß über den lodernden Asphalt zu schwimmen und die Möwen würden ihn einfangen, ihn auf eine Bahre legen.
Was war das für eine Zeit, in der selbst die Vögel Gasmasken trugen?
Immer dieses Brummen im Kopf. Unausweichlich; er musste sich eingestehen, dass der Arm ab war, aber wo zum Teufel lag er, fragten sich die wirren Stränge unkoordinierter Phrasen im inneren. Wie konnte das verdammte Hirn denn klare Ziele fassen, wenn es doch so nach Grillabend roch, ging es ihm durch den Kopf. Fischkopf. Meer. Bin am Meer.
Seine Haut blätterte sich ab.
Hendrick wollte zu einem außerordentlichen Meeting fahren. Viele Stunden gearbeitet und dann zur Familie. Wenn der Konzern nach ihm verlangte, dann hatte er anzutanzen.
"Hallo!"
"Hallo!"
Endlich kam jemand auf ihn zu und blickte entsetzt. Die angelernte Professionalität des Fremden, sie verschwand. Wie Tränen im Regen
"Ich habe überlebt und muss zum Meeting", röchelte Hendrick.
Keine Schmerzen im wichtigsten Organ, aber wenn es seine Arbeit langsam einstellt, dann merkt man das schon.
Ein Blutrauschen auf Achterbahnfahrt, so lässt sich der einsetzende Tod am treffendsten beschreiben.
Hendrick wollte dem Sanitäter in die Arme fallen, doch dieser wich ängstlich - nein, angewidert - zurück.
"Muss zum Meeting und dann zurück zu den Kindern. Wäre aber viel lieber am Strand."
Die Beine gaben nach. Es wurde dunkel um ihn, doch Hendrick lächelte.
Vielleicht kam er jetzt ans Meer.