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Eine Zelle ist wie eine Wabe, nur eben nicht aus Wachs
Es rann und sickerte, Samseh lief aus. Tränen, Rotz und Spucke, Blut und Urin. Jemand stieß die Tür auf und eiskaltes Wasser knallte auf seinen gequälten Körper. Wie eine Ladung Steine empfand er diesen brutalen Guss auf seine Wunden. Er zuckte zusammen und sein Herz blieb stehen.
Sie setzten ein Kabel unter Strom – da begann es wieder zu schlagen, leider. Unvorstellbar schön, wenn alles vorbei wäre, doch es ging weiter.
In der Nacht gelang es ihm, sich hochzuquälen, um auf der Pritsche weniger hart zu liegen. Die Schmerzen ließen keinen Schlaf zu, er schwebte zwischen Ohnmacht und Koma.
In seiner Taubheit konnte er nicht denken, aber der Wahnsinn der letzten Stunden führte ihm noch mal Bilder vor, wie er den Fraß in die Visage des Wärters schleuderte, ihn entwaffnete, um sich den Weg nach draußen freizuschießen. Wie sie zurückschossen und ihn niederknüppelten. Auch ihr Geschrei hallte nach, ganz klar, wie auch die penetrante Sirene – selbst das Knirschen seiner eingeschlagenen Zähne vermeinte er noch einmal zu hören.
Ein großer Schmerz durchfuhr ihn, als ob sie nochmals nach ihm traten. Dann zog sich der Schmerz zurück, das Labor seines Körpers produzierte Balsam und Opium und er wusste nichts mehr.
Auch wenn es das Eisengitter nicht gäbe, könnte sich kein Mensch, und sei er noch so schlank, durch dieses Loch in der Wand zwängen, außerdem befand es sich unmittelbar unter der Decke. Doch Tageslicht ließ es hindurch. Er musste verrückt geworden sein, ein Vierteljahr vor der Entlassung so durchzudrehen, aber dieses Dreckschwein, den sie Martillo nannten, hatte ihn so weit gebracht. Der hatte ihn schon lange auf dem Kieker. War so eine erbärmliche Sau und sah mit Wärteruniform und Zottelbart aus wie Iwan der Schreckliche.
Der schob Samseh einen Matsch aus verdorbenem Fisch und grauen Kartoffeln durch die Klappe, dazu sagte er gönnerhaft:
„Riecht bisschen streng, aber wer Hunger hat, kriegt das schon runter." Oft fügte er noch einen Popel aus seinem Habichtszinken bei und machte Samseh Mut: „Ist total lecker.“ Passend dazu grunzte er wie ein Schwein.
Auch die pampige Suppe versalzte Martillo ihm oft, oder garnierte sie mit Schweröl: „Das ist gut gegen ’s Einrosten. Stirbste nicht von, zumindest nicht gleich.“ Und jede seiner Schweinereien untermalte er mit einem fiesen Gekicher, das an Niedertracht nicht zu überbieten war.
Samseh musste auf den Hofgang verzichten, wie hätte er gehen sollen? Ins Hospital gehörte er, doch dafür hatte er keine Beziehungen.
Er musste liegen bleiben, die Schmerzen waren unerträglich. Irgendwann kam sein Tyrann und streichelte ihn mit dem Knüppel: „Na, keinen Bock auf Sonnenschein, Arschloch?“
„Nein. Schlag mich ruhig tot. Gib mir den Rest.“ Er spuckte grün, gelb und rot, rang nach Luft: „Aber eine Kugel wär’ mir lieber.“ Das klang ziemlich undeutlich wegen der ausgeschlagenen Zähne, er sprach abgehackt und sehr leise – aber sein Peiniger verstand.
Dessen perfide Lache wurde noch unerträglicher: „He he – das könnt’ dir so passen. Aber nein, bleib nur noch ein bisschen bei mir, sonst wird mir’s zu langweilig.“
Einen Stern hat er auf jeder Schulter, und er wäre beinahe erstickt an seinem widerlichen Gelächter.
Samseh schaute in das Stückchen Himmel, nicht größer als ein Schuhkarton. Belanglose Wolken, zwei oder drei weiße Streifen wie mit dem Lineal gezogen; uninteressant, in welche Richtung jetzt, gestern, morgen. Er war noch nie geflogen, doch in Gedanken schon tausendmal. Raus – diesen ganzen Wahnsinn verlassen, egal wohin. Überall würde es besser sein als in dieser Gruft für Lebende.
Wie kommen alte Männer dazu, über ihn zu richten? Die schon lange vergessen haben, wie sehr es in einem jungen Mann rumoren kann, wenn ihm die Liebste fehlt, wenn es Sommer ist, wenn der Alkohol zu Kopfe steigt. Und wenn die Hose eng wird, er an nichts anderes mehr denken kann. Der nicht aus seiner Haut kann, den offenherzigen Mädchen nur zuschauen darf, wie sie wippen und kokettieren, um ihre Reize zu zeigen.
Ja, sie hatten viel getrunken und balinesische Zigaretten geraucht. Besonders Faela hatte ihn verrückt gemacht. Rotbraunes Haar wie Kastanien, grünlich schillernde Augen und ein sehr freizügiges Kleid machten sie noch begehrenswerter, als wenn sie nackt gewesen wäre. Wieso hätte er sich keine Hoffnung machen sollen, als sie ihn bei der Damenwahl aufforderte? Und wieso haute sie dann mit Carlos ab, statt mit ihm? Ja, er war blau, trotzdem hatte er das Recht auf eine Erklärung. Aber dieser blöde Kerl stellte sich breitbeinig hin, klemmte die Daumen hinter den Gürtel und sagte, dass er sich verpissen solle.
Das konnte nicht gut gehen.
Sie hatten ihn eingebuchtet – die Alten, die Vergesslichen in den Roben. Dreieinhalb Jahre für einen verunglückten Sommerabend!
So traf er auf die Perversen in Uniform, die sich für diesen gottverdammten Job beworben hatten. Sie trugen Krawatte und zeigten gutes Benehmen, weil sie der Gerechtigkeit Geltung verschaffen wollten, und um dem Staat zu dienen – bis man sie von der Kette ließ.
Ist die ganze Welt verrückt geworden? Alle haben freie Fahrt, die Päderasten in den Sakristeien, die Sadisten in den Internaten, die Verklemmten in den Schulen, die Wahnsinnigen im Traineranzug, die Eitlen im Talar ... die haben alle eine ‚ordentliche Anstellung’, und ihm, dem eigentlich Harmlosen, klauen sie Jahre seines Lebens.
Samseh schloss die Augen, der Himmel tat das auch. Grelles Neonlicht flammte auf, ein mörderisches Licht. Pflanzen gehen darin zugrunde; Menschen nicht - die leiden.
Er hatte wahnsinnigen Durst, heiße Sanddünen ließen seinen Gaumen verdorren. Er brauchte eine Ewigkeit, das Waschbecken zu erreichen; das Wasser brannte höllisch auf seinen aufgeplatzten Lippen.
Bald kam Martillo mit einer Spachtel zurück. Er stellte sich vor die gekalkte Wand und zeigte auf die endlosen Strichreihen, immer vier hoch und einer quer.
„Ich will deine Buchführung mal auf den neuesten Stand bringen, Arschloch“, sagte der. „Dein verwöhnter Gaumen dürfte dich gut und gerne zwei Jährchen kosten.“
Wie ein eiserner Radiergummi tilgte die Spachtel sinnlos verbrachte Tage und Nächte, Reihe um Reihe.
Mehr als drei Jahre kratzte er in fünf Minuten ab; Staub stand in der Luft.
Samseh sah ungläubig zu, was mit seinem Leben geschah. Martillo löschte aus, was war, und bestimmte, was wird. Im unwirklichen Licht schwirrten die Stäubchen umeinander wie Mückenschwärme, jedes verkörperte eine Stunde. Mit weit geöffneten Augen betrachtete Samseh dieses wirbelnde Szenario, einen Teil seines unruhigen Lebens, verstand gleichzeitig alles und nichts.
Würde er mit der Hand wedeln, bildeten die Stäubchen vielleicht Strudel und Spiralen, schwirrten ins Verderben oder ins Glück. Und bliese er hinein, dann entstünde ein Strom, dem alle blind folgen würden. Oh, er würde die Richtung bestimmen, sie würden ihm gehorchen. Er wäre ein großer und mächtiger Samseh.
Grotesk unterbrach ein Klatschen seine tiefsinnigen Gedanken, es schien, dass sich Martillo selbst zu seinem grandiosen Werk Beifall spendete – doch der patschte nur den Kalk von den Händen.