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Eine mittlere Frau
Emma wuchtete den Koffer in die Ablage, hängte die Jacke an den Haken neben dem Fenster und ließ sich erleichtert in den Sitz fallen. Es war schlau von ihr, im Großraumwaggon des Intercitys einen Einzelplatz zu buchen. Da hatte sie Ellenbogenfreiheit und musste keine langweiligen Gespräche führen. Mit zweimal Umsteigen würde sie über acht Stunden unterwegs sein. Aber dann … Schon jetzt roch sie salzige Meeresluft und hörte, wie die Flut heranrauschte. Ja, Eiderstedt an der Nordsee wartete auf sie. Fast unmerklich setzte sich der Zug in Bewegung.
Emma griff in die Seitentasche ihres Reisetrolleys und zog das Notebook hervor.
Warum die Zeit nicht nutzen und mit der Niederschrift des Romans beginnen? Lange schon nistete er in ihren Gedanken, sogar einen Klappentext hatte sie bereits formuliert.
Sie überflog den ersten Satz: "Eine gemütliche süddeutsche Universitätsstadt ist Anfang der siebziger Jahre von der 68er-Bewegung und dem Kampf gegen AKWs erfasst …"
Es funktionierte nicht. Sie konnte sich nicht konzentrieren, dazu war der Geräuschpegel im Waggon zu hoch. Immer noch suchten Reisende ihre Plätze, stießen gegen ihren Sitz oder blieben im Gang stehen, ausgerechnet neben ihr. Unangenehme Erinnerungen drängten an die Oberfläche.
„Ich brauche Abstand, mindestens vier Wochen will ich weg, Rita, es geht nicht anders.“
Emmas Freundin und resolute Chefin der Buchhandlung „Zum Pflasterstein“ geriet so in Wallung, dass die Bernsteinkette auf ihrem mächtigen Busen auf- und abhüpfte.
„Mensch, ihr Mädels, immer dieser Ärger mit euren Lovern. Von dir hätte ich das nicht erwartet.“ Sie schnaubte und knallte den KNOE-Ordner auf den Schreibtisch. „Ich dachte, du und dein Professor hätten alles geklärt. War doch alles im grünen Bereich, oder hab ich da was verpasst?“
Emma zögerte. Sie musste diplomatisch vorgehen.
„Es geht ihm um seine Karriere, Rita. Du weißt ja, er will Dekan werden."
Emma zweifelte nicht daran, dass die Chefin ihr den langen Urlaub bewilligen würde. Schließlich war sie seit vielen Jahren Ritas beste Kraft, belesen, wortgewandt und sehr beliebt bei der Kundschaft, vor allem beim Universitätspersonal.
„Außerdem will ich meinen Roman schreiben. Ich … ich muss endlich mal etwas für mich selber tun.“
Rita verdrehte die Augen.
„Wir sind Geschäftsleute, keine Literaten. Vergiss das nicht. Bücher sollen andere schreiben, wir verkaufen sie." Rita neigte zum Predigen. "Na, meinetwegen, ich hab's kapiert. Aber zu Semesteranfang bist du zurück."
Draußen flogen Häuser und Bäume vorbei. Es tat den Augen weh, wenn der Zug durch die kleineren Bahnhöfe raste, so dass es unmöglich war, die Namen der Stationen zu erhaschen. Nur die Silhouetten der Höhenzüge entlang der Eisenbahnstrecke gewährten dem Blick etwas Entspannung. Das gleichmäßige, fast unmerkliche Schaukeln versetzte Emma in Trance. Loslassen, zur Ruhe kommen, die innere Mitte finden. Emma schloss die Augen.
Der kleine Regionalzug stieß drei heftige Pfiffe aus, als ob er froh sei, heil anzukommen. Endstation. Es hatte zuletzt so heftig geregnet, dass sich die Abteilfenster beschlagen hatten und nichts von der Gegend zu erkennen war. Emma stand schon seit zehn Minuten neben der Waggontür, ihr Gepäck griffbereit neben sich. Wie immer war sie angespannt. Nur ja den Ausstieg nicht verpassen. Sie wusste, das war lächerlich. Aber sie konnte nichts dagegen tun. Robert, ihr verflossener Liebhaber, kannte diese Macke. Auf ihren recht häufigen gemeinsamen Bahnreisen zog er amüsiert die Augenbrauen hoch und stand erst auf, wenn alle anderen praktisch schon ausgestiegen waren.
Erleichtert blieb Emma auf dem Bahnsteig stehen und sah sich um. Die meisten Ankömmlinge machten sich ohne zu zögern auf den Weg zum Taxistand. Einige wurden mit lautem Geschrei von Freunden oder Verwandten empfangen. Der Regen hatte aufgehört. Am Himmel jagten sich die letzten Wolkenreste, und eine späte Sonne schickte ihre schrägen Strahlen in die Pfützen. Eine frische Brise trug intensiven Duft nach Kiefern aus dem nahen Wäldchen herüber. Emma knöpfte ihre Jacke zu. Sie hatte noch im Zug ein Taxi bestellt. Es wartete als letztes am Stand. Ein junger, schlanker Mann in Jeans und einem blauen Blouson schien mit der Taxifahrerin zu verhandeln. Sie schüttelte mehrmals den Kopf. Er war Emma schon im Zug aufgefallen wegen seines rechten Armes, den er in einer breiten Schlinge trug. Eine Sporttasche hing über seiner linken Schulter. Sie schätzte sein Alter auf knapp dreißig, etwa zehn Jahre jünger als sie.
„Ich glaube, es ist mein Taxi“, sagte sie nicht unfreundlich, „was machen wir denn nun?“
„Ja, dumm von mir, ich hätte daran denken müssen. Es ist ja nun mal nicht Hamburg.“
„Nein, das ist es nun wirklich nicht. Ich kann Sie mitnehmen, wenn Sie mir sagen, wo Sie hin wollen. Mein Hotel liegt ganz im Zentrum.“
„Oh, super, das passt. Ich muss mir sowieso noch eine Bleibe suchen. Vielen Dank!“ Er strahlte und deutete eine kleine Verbeugung an. Ein charmanter Bursche. Dass man die Taxikosten auch teilen könne, sagte er nicht. Ohne weiteren Kommentar setzte er sich zu Emma in den Fonds.
„Darf ich fragen, was es mit dieser Verletzung auf sich hat?“ Emma hatte das Gefühl, sie sei für die Konversation verantwortlich.
„Oh, das! Nur eine Vorsichtsmaßnahme, nichts von Bedeutung. Sie wissen ja, das Gedränge im Zug. So kriegt man wenigstens einen Sitzplatz.“ Wieder zeigte er seine weißen Zähne. „Es ist wahrscheinlich gar nicht so einfach, hier in der Hauptsaison ein vernünftiges Zimmer zu bekommen.“
„Stimmt, ich habe vor einigen Wochen gebucht. Da war es fast schon zu spät. Aber ich wollte unbedingt hierher. Nordseeluft ist hervorragend, wenn man eine Pollenallergie hat, und überhaupt.“
Der junge Mann schwieg und schaute aus seinem Seitenfenster.
Emma ärgerte sich. Was musste sie auch von sich erzählen! Die einseitige Unterhaltung begann sie zu nerven. Sie machte nochmals einen Vorstoß.
„Und was treibt Sie hierher?“
„Ich will's mal so formulieren, ich bin quasi auf der Flucht.“
„Sie machen's ja spannend! Ist die Polizei hinter Ihnen her?“
„Wer weiß?“ Er machte eine Pause, streckte ihr die linke Hand hin und sagte: „Ich bin Leonhard, meine Freunde nennen mich Leo.“
Das Taxi hielt vor dem Hotel. Ohne Emmas Antwort abzuwarten, schwang er sich elegant aus dem Auto und schlug die Tür zu. Beim Fortlaufen drehte er sich mehrmals um und winkte.
Interessante Variante eines Flirtversuchs. 'Anbaggern' nennen es wohl die Jüngeren. Emma seufzte. Dann beglich sie die Taxirechnung.
Das Hotelzimmer war geräumig, aber nicht luxuriös. Auf Balkone hatte man bei der Renovierung verzichtet, aber ein Panoramafenster gewährte eine großartige Sicht auf die Nordsee. Emma fühlte sich sofort wohl. Das musste sie auch, wenn sie es vier Wochen allein aushalten wollte. Schon beim Einchecken hatte sie registriert, wie anders es war, wenn man allein reiste. Nicht, dass sie als Single-Frau schlechter behandelt wurde, diese Zeiten waren in der Tourismusbranche wohl vorbei. Aber sie musste dauernd selbst Entscheidungen treffen: Halbpension oder doch Vollpension, Platz am Fenster im Speisesaal, Zimmerservice, Trinkgelder.
Nachdem sie Koffer und Tasche ausgeräumt und das Notebook angeschlossen und geöffnet hatte, trat sie ans Fenster. Sie blickte hinunter auf den zentralen Platz des Kurortes. Hier traf sich die nördliche mit der südlichen Deichpromenade, auf denen man, wie sie wusste, lange Wanderungen oder Radtouren entlang der Küste unternehmen konnte. Vom Fenster aus sah Emma auch die berühmte Seebrücke, die sich weit draußen im Watt verlor. Gerade jetzt, um die Abendzeit, herrschte Hochbetrieb. Nach einem verregneten Tag wollten die meisten Urlauber noch die Sonne genießen, bevor diese von der nächsten dunkelgrauen Wolkenbank verschluckt wurde.
Emma schnappte ihre regensichere Windjacke, steckte etwas Kleingeld ein und die Codekarte für ihr Zimmer. Beim Handy zögerte sie. Nein, das konnte im Hotel bleiben. An Rita würde sie heute Abend eine Mail schicken. Sie hatte im Augenblick nicht das Bedürfnis, mit jemandem zu reden.
Als sie aus dem Aufzug trat, sah sie Leo. Er stand mit dem Rücken zu ihr am Empfangstresen, einen Stift in der Hand. Seine Armschlinge war verschwunden. Emma ging eilig zur Drehtür. Bloß jetzt keinen Smalltalk. Der Abend gehörte ihr, ihr ganz allein. Sie brauchte ihn zum Nachdenken.
Bereits beim Frühstück trafen sie sich wieder. Emma, gerüstet für eine Wattwanderung, trank gerade ihren letzten Schluck Kaffee, als Leo in den Frühstücksraum stolperte. Er sah übernächtigt und missmutig aus, die blonden Haare leicht verstrubbelt. Zum Rasieren war er wohl noch nicht gekommen. Bis auf ein T-Shirt trug er die gleichen Sachen wie am Vortag. Als er Emma erblickte, strafften sich seine Schultern und die Mundwinkel gingen in die Höhe.
„Hallo, guten Morgen, gnädige Frau, ich sehe, der Tag wird gar nicht so übel, wie ich schon befürchtet habe.“
„Hallo. Hat es doch geklappt mit einem Zimmer hier?“
„Zimmer würde ich das nicht nennen, eher ein Dachbodenkabäuschen. Wahrscheinlich wohnten da früher die Dienstboten. Hauptsache, es ist für mich bezahlbar.“
„Wie kommt man denn an so ein Schnäppchen?“ Emma hoffte, dass er die Ironie verstehen würde.
„Sie suchen Arbeitskräfte für den Fitness-Bereich. Ich habe gesagt, ich würde es mir überlegen.“
Einen kurzen Moment wunderte sich Emma. Da passte einiges nicht zusammen. Aber so wichtig war es ihr nicht, dass sie länger darüber nachdenken wollte.
„Ja, dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Vielleicht läuft man sich ja gelegentlich über den Weg.“
„Oh, das würde mich gar nicht nicht wundern. Es ist sogar ziemlich wahrscheinlich. Ich würde mich freuen.“
Leo fing an, auf seinem Teller Rührei und Schinken aufzutürmen. Das Frühstück war wohl seine Lieblingsmahlzeit. Oder er war ausgehungert.
„Ach, und lassen Sie es sich gut schmecken. Das Buffet ist sensationell.“
Emma setzte eine Sonnenbrille mit riesigen Gläsern auf und trat in das gleißende Licht der Morgensonne. Sie ärgerte sich. Was soll diese blöde Bemerkung über das tolle Buffet? Und dann noch diese indirekte Aufforderung. Über den Weg laufen. Ist doch klar, wenn man im selben Hotel wohnt. Dieser Kerl mit seinem gnädige-Frau-Getue zwingt mich dauernd dazu, etwas zu sagen, was ich gar nicht will. Ach Quatsch, vergiss es. Da vorne geht’s zum Meer.
Einige Stunden später saß Emma am Strand, unweit der Wasserlinie, die allmählich vorrückte. Sie hatte ihre Sportschuhe zusammengebunden neben sich gelegt. Der warme Sand rieselte zwischen ihren Zehen hindurch. Emma grub ihre Füße tiefer in die die feuchte Schicht und beobachtete zwei Dreijährige, wie sie direkt am Wasser Schlammtürme bauten. Sie schöpften mit der hohlen Hand eine Portion Schlamm und ließen ihn tröpfchenweise auf den Boden fallen. Für einen kurzen Augenblick entstanden bizarre Türme und Türmchen, der instabile Untergrund ließ sie jedoch gleich wieder zusammensinken. Hier im Watt kam die Flut nur sachte heran. Ein gleichmäßig anschwellendes Rauschen in der Ferne kündigte sie an, kein donnernder Wellenschlag, wie sie es von der Bretagne her kannte. Und trotzdem konnte man von der Flut überrascht werden. Allein im Watt, keine ungefährliche Angelegenheit. Am Brett für die Hausgäste im Hotel hingen Warnungen. Es gab jedes Jahr Unfälle.
Die Sonne war hinter milchigem Dunst verschwunden. Emmas Hochstimmung vom Vormittag war einer leichten Niedergeschlagenheit gewichen, manchmal kündigte sich so eine Migräne an. Für diesen Fall hatte sie Medikamente in ihrer Reiseapotheke. Heute war es eher eine 'depressive Verstimmung'. Dafür hatte sie ein anderes Rezept, ein altes Hausmittel: heiße Schokolade und ein Sahnetörtchen, am besten vor einem Café in der Einkaufsmeile, wo man die Leute studieren konnte. Dann vielleicht ein paar Bahnen im hoteleigenen Swimmingpool. Oder shoppen. Sie hatte da ein sehr schickes Top gesehen, ein dunkles Rot, das in einer Woche fabelhaft zu ihrer gebräunten Haut passen würde. Es war teuer, gerade das Richtige, um sich zu verwöhnen. Danach wäre die Welt wieder in Ordnung. Aber Emma ahnte, dass in ihrem Unterbewusstsein ein altbekanntes Monster lauerte, Angst vor Einsamkeit. Dem würde sie sich stellen müssen. Aber nicht heute.
Emma hatte Halbpension gebucht und sich einen kleinen Tisch am Fenster reservieren lassen. Zu ihrer Überraschung fand sie zwei Gedecke vor. Selbst schuld, das hätte sie wohl vorher klären müssen. Vielleicht bekam sie ja einen angenehmen Tischpartner, wahrscheinlich eine andere alleine reisende Frau.
„Guten Abend, gnädige Frau, ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich schon wieder auftauche. So ein Zufall. Heute ist wohl mein Glückstag. Darf ich Platz nehmen?“
Von wegen Zufall. Bestimmt hat er sich erkundigt. Hat vorgegeben, er sei ein Bekannter von mir. Das kann ja was werden. Da ist ein Dämpfer fällig.
„Sie müssen wohl einen sehr guten Draht zum Gott des Zufalls haben“, sagte sie und streckte die Hand nach dem leeren Platz aus, „oder gute Bekannte unter dem Personal.“
Getroffen. Emma sah, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss.
„Es ist wirklich Zufall. Ich ... Ich weiß ja nicht mal Ihren Namen. Aber wenn Sie meinen ...“ Er ließ den Satz in der Luft hängen.
„Nein, setzen Sie sich bitte. Es war nur ein Scherz. Und Sie haben natürlich Recht mit dem Namen. Ihrer ist … Leonhard?“
„Leonhard van Berghe, für meine Freunde ...“
„Ja, ich weiß, für Ihre Freunde Leo.“ Beide mussten lachen. „Ich bin Emma Walter, und bitte lassen Sie die gnädige Frau in der Schublade. Emma, einfach Emma.“
So, die Rollen waren jetzt verteilt. Emma hatte die Führung übernommen.
Nach dem Essen blieben sie noch eine ganze Weile sitzen. Emma musste insgeheim zugeben, dass ihr Tischnachbar ein erfrischender und geistreicher Plauderer war. Geradezu treuherzig breitete er ein paar Details aus seinem jungen Leben aus. Sie wusste nicht, ob sie alles glauben sollte.
„Zu mehr als ein paar Semester in Wien und St. Gallen hat es nicht gereicht. Von jedem ein wenig. Soziologie, Psychologie, Literatur. Nein, Theologie nicht. Ich musste schließlich ja auch noch Tennisspielen und Skifahren. Und natürlich Rafting. Sport ist wahrscheinlich mein Ding.“
„Rafting auch noch? Wirklich vielseitig. Aber was ist mit Tanzsport?“
Emma tanzte wahnsinnig gern, nur hatte es in den letzten Jahre nicht mehr so viele Gelegenheiten gegeben. Semesterabschlussball, Presseball … Schnell schob sie die Erinnerungen auf die Seite.
„Sport würde ich das nicht unbedingt nennen, es ist mehr …“ Er brach ab und griff nach seinem Glas. Emma hatte für beide einen Rotwein kommen lassen. "Ich glaube, Sie würden eine großartige Tänzerin abgeben."
Sie hielt sich bedeckt. Sollte Leo doch erzählen. Immerhin stellte er keine neugierigen Fragen. Aber in seinen Augen las sie respektvolle Aufmerksamkeit. Ein Welpenblick. Er wärmte sie und weckte verloren geglaubte Empfindungen.
Zu guter Letzt verabredeten sie sich für den nächsten Tag zu einer Radtour. Leo wollte sich um passende 'Drahtesel' bemühen. Tatsächlich verwendete er diesen altmodischen Ausdruck. Vielleicht sein abgebrochenes Literaturstudium. Er wechselte öfter einmal zwischen gewählt und salopp. Emma mochte es. Sie hatte ein Faible für Stilbrüche.
In ihrem Zimmer stand sie bis kurz vor Mitternacht am Fenster. Das Notebook lag noch genau so auf dem Schreibtisch, wie sie es hingelegt hatte. Auf seinem Display hatten sich ein paar Flusen niedergelassen. Es ging keine Versuchung von ihm aus. Die kam woanders her.
Das kann ja was werden, dachte sie zum zweiten Mal an diesem Tag, aber nun hatte der Satz eine völlig andere Bedeutung. Unten, auf dem zentralen Platz, pulsierte das Leben.
Schon fünf Tage waren seit ihrer Ankunft vergangen. Emma und Leo trafen sich jeden Tag am späten Vormittag. Leo kam pünktlich, aber manchmal erschien er übermüdet. Meistens waren sie mit den Rädern unterwegs, Badezeug inklusive. Es bildete sich eine gewisse Routine heraus. Emma gab die Ziele vor, Leo plante die Einzelheiten von Route, Wetter und Öffnungszeiten, Emma sorgte für die Verpflegung unterwegs. Wenn sie einkehrten, übernahm sie die Rechnung, auf ihren ausdrücklichen Wunsch. Es war eine neue Erfahrung für sie.
„Wenn du willst, kann ich dir den Geldbeutel geben. Die meisten Männer möchten sich lieber an traditionelle Muster halten.“
Wie selbstverständlich waren sie zum Du übergegangen.
„Oh nein, damit habe ich kein Problem. Es ist mir eher unangenehm, dass ich derzeit so knapp bei Kasse bin und ich nicht weiß, wann sich das ändert.“
„Aber das haben wir doch geklärt. Es ist ganz einfach. Ich möchte etwas unternehmen und lade dich dazu ein, weil es mir mehr Spaß macht, wenn jemand mitkommt. Und außerdem nimmst du mir ja einiges ab. Ich hab es nicht so mit der Organisation.“
Das war eine glatte Lüge. Emma konnte sehr gut organisieren. Allerdings hatte sie schon lange nicht mehr ihren eigenen Geldbeutel herausnehmen und nach der Rechnung fragen müssen. Robert hätte das nie zugelassen. Es kam ihr vor, als ob sie sich ein Stückchen Freiheit zurückerobert hätte. Oder war es Macht? Wahrscheinlich beides.
Nach dem Abendessen im Hotel gingen sie immer getrennte Wege. Leo sprach zögernd von Gesprächen, die er noch führen müsse. Genaueres gab er nicht preis. Manchmal hatte Emma das Gefühl, er erwarte von ihr, dass sie die Initiative ergriffe, aber wofür? Sie hing immer noch der Szene nach, die sich am dritten Tag am Leuchtturm ereignet hatte. Ein stürmischer Regenguss zwang sie, eine Pause einzulegen.
„Schade, dass der Aufgang versperrt ist. Am besten, du stellst dich auf die oberste Stufe, da hast du auch noch etwas Windschutz.“
„Und du? Willst du im Regen stehen bleiben? Wir haben beide Platz auf der Treppe.“
„Nicht nötig. Ich hab mein Cape als Schutz und Schirm. Und außerdem bin ich ein edler Ritter, der seine verehrte frouwe auf den Sockel stellt.“
Emma lachte. „Aber ich bin keine Frau, die auf dem Sockel stehen will. Ich bin für Augenhöhe.“
„So so, Augenhöhe willst du. Also dafür reicht mir aber die unterste Stufe. Siehst du? So ist es doch fast gemütlich. Zufrieden?“
„Nicht ganz, eine Kemenate wäre mir lieber.“
Leo wich ihrem Blick aus. Er schwieg mal wieder und schüttelte die Regentropfen von seinem Cape. Ein Windstoß trieb ihn noch eine Stufe höher.
„Apropos, wie bist du denn mit deinem Dachstübchen zufrieden?“
Leo zuckte die Achseln. „Es geht, ich bin ja nicht oft da oben. Der Ausblick ist schön. Früh morgens kann man gut die Möwen beobachten. Es gibt da eine, die schreit ständig 'Oho!' Möchte wissen, was sie mir damit sagen will.“
„Ich habe zuhause auch eine kleine ausgebaute Dachwohnung, sehr gemütlich, finden meine Freunde. Über den Dächern der Altstadt mit Blick auf das Münster. Jede Menge Tauben. Und nur ein paar Meter weg von der Buchhandlung.“
Emma hatte inzwischen Verschiedenes von sich erzählt, sogar kurz die Trennung von Robert erwähnt. Dazu hatte Leo keinen Kommentar abgegeben.
„Also doch abgehoben vom Rest der Welt. Eben besonders.“ Es klang beinahe nach einem Vorwurf, oder eher melancholisch.
„Überhaupt nicht! Ich bin eine mittlere Frau, mit mittleren Eigenschaften und mittleren Bedürfnissen. Keine Madonna!" Es klang heftiger als beabsichtigt. Aber diese Diskussion hatte Emma schon öfter geführt.
„Du? Du bist doch nicht mittelmäßig. Alles andere, aber nicht mittelmäßig. Ich kenne mittelmäßige Frauen, sie laufen überall herum, an der Uni, auf dem Tennisplatz, am Strand.“
„Leo, Mittelmäßigkeit ist für mich etwas anderes als mittleres Sein. Damit meine ich, dass ich immer versuche, eine Balance zu finden zwischen Kopf und Bauch, zwischen müssen und wollen. So eine Art Harmonie, ach, ich weiß nicht. Es ist schwierig zu beschreiben ... Aber ich glaube , der Regen hat aufgehört. Wir können weiter.“
Leo nickte. Er reichte ihr die Hand, und sie hüpfte auf den glitschigen Rasen vor der Treppe. Sein fester Griff war wie ein Stromschlag. Eine heiße Welle raste durch ihren Arm. Ob es ihm auch so ging? Seine Hand hatte kurz gezuckt, bevor er die ihre freigab.
„Ich glaube, du weißt immer, was gut für dich ist“, sagte Leo an diesem Abend, bevor sie auseinandergingen.
Am Wochenende rückte Leo nach dem Frühstück mit einem eigenen Plan heraus. Sie saßen in der Lobby, Emma blätterte im Radführer, den sie sich gekauft hatte. Leo wirkte genervt, beobachtete unentwegt die Eingangstür. Überall standen Koffer herum. Aufbruchstimmung. Drei tiefgebräunte Blondschöpfe lieferten sich ein Slalomrennen zwischen den Gepäckstücken.
„Lass uns mal ein Stück weg von der Küste fahren. Es gibt wunderbare kleine Dörfer landeinwärts. Und einiges zu sehen. Zum Beispiel einen Ponyhof. Kannst du reiten?“
„Nur auf einem Holzpferd. Hat es irgendwo einen Rummelplatz? Was hast du plötzlich gegen den Strand?“
„Ich hab eher etwas gegen Rummel. Du siehst ja, was heute los ist. Nein, ich möchte einfach einen ruhigen Tag verbringen, nur mit dir.“
Den Ponyhof strichen sie. Stattdessen besichtigten sie zwei Dorfkirchen und machten in einer Gartenwirtschaft unter alten Linden eine längere Pause. Nun waren sie auf dem Heimweg, auf schmalen, sandigen Feldwegen. Manchmal mussten sie umkehren, weil ein Elektrozaun oder ein Wassergraben ihnen in die Quere kam. Landeinwärts spürte Emma die Sonne weitaus stärker als am Strand. Zum Glück hatte sie ihren Strohhut mitgenommen. Wegen des Windes hatte sie ihn mit einem Halstuch verknotet.
„Wie aus einem Biedermeierbild, nur dass die Mädchen damals keine Shorts trugen.“
Leos Miene konnte sie nicht entziffern. Er hatte seine Augen hinter der Sonnenbrille verborgen, was ihm, zusammen mit seinem Drei-Tage-Bart, ein verwegenes Aussehen gab. Emma fühlte sich jung und begehrenswert. Es war wie ein Zeitsprung zurück, bevor sie Robert kennengelernt hatte. Robert. Sein Bild verblasste zusehens.
Am Rande eines Kiefernwäldchens machten sie nochmals Rast. Emma holte einen extraleichten Regenumhang aus dem Rucksack, zog alle Reißverschlüsse auf und breitete ihn aus. Selbst im Schatten glänzte er silbrig.
„Praktisch, so ein Stück, die reinste Allzweckwaffe. Mit der Kapuze könnte man glatt Wasser holen.“ Leo lehnte an der Querstange seines Fahrrads, einen Arm auf dem Lenker abgestützt, und betrachtete das Arrangement. Er rührte sich nicht.
„Ja …, allzeit bereit. Wasser holen brauchst du aber nicht. Wir haben noch eine Flasche. Komm, steh nicht herum, hier ist genug Platz.“
Leo sah sich suchend um. „Sofort, Herrin, sofort bin ich zu Euren Diensten. Aber da fehlt noch etwas. Etwas Wichtiges.“ Er verschwand im Wäldchen. Emma zog die Schuhe aus, schob den Rucksack unter den Kopf und streckte die Beine aus. Leo ließ sich Zeit. Sie musste eben Geduld haben.
Eine lange Viertelstunde später kam Leo zurück. Er hatte einen ganzen Arm voll von Kräutern und Blumen, Klatschmohn, Glockenblumen, Margeriten, Weideröschen.
„Lass mich mal machen und rühr dich nicht, bitte“, sagte er und fing an, Gräser und Blüten auf dem glänzenden Untergrund um Emma herum zu verstreuen. Den Klatschmohn verteilte er auf ihren gekreuzten Beinen, die Glockenblumen und Margeriten legte er ihr zu Füßen. Schließlich setzte er sich auf einen Findling, den ein Bauer wohl in seinem Acker gefunden hatte.
„Hör mir einfach zu, bitte, du wirst es dann verstehen.“
Er schlug die Beine übereinander, stützte sein Kinn in die Hand und begann zu zitieren:
„Unter der Linde,
auf der Heide,
da unser beider Lager war,
da könnt ihr schön
gebrochen finden
die Blumen und das Gras.
Vor dem Wald in einem Tal -
tandaradei -
sang schön die Nachtigall.“
Als er schwieg, hörten sie, wie im Wäldchen ein Vogel rief. Kuckuck, Kuckuck.
Emma kämpfte mit den Tränen. Wie sollte sie nicht verstehen, sie, die schließlich den gleichen Namen trug wie der Dichter dieses berühmten Liebesgedichtes? Walter von der Vogelweide. Minnesang. Pure Poesie. Meistens ging es um unerfüllte Liebe. Aber warum diese Inszenierung? Sie setzte sich auf und legte den Klatschmohn behutsam auf die Seite.
„Ich muss dir noch etwas sagen“, fing Leo wieder an, „wir müssen jetzt zurück. Sofort. Es ist ein Notfall. Ich kann nicht darüber sprechen. Warte nicht auf mich zum Abendessen. Aber um halb zehn können wir uns treffen, ja, um halb zehn in der Bar. Dann haben wir alle Zeit der Welt. Und die werden wir nutzen ... Tränen, oh Gott, Emma, ich wollte dich doch nicht zum Weinen bringen.“ Er sank auf die Knie und hob die Hände. „Bitte, Herrin, es tut mir so Leid.“ Da musste sie beinahe wieder lächeln. Der Welpenblick! Leo war ein begnadeter Schauspieler.
Auf der Heimfahrt gewann Emma ihre Fassung zurück. Eigentlich war sie ja auch über das Alter von Wald-und Wiesensex hinaus. Hatte sie sich lächerlich gemacht? Hatte sie Leos Ergebenheit, die Verehrung in seinen Augen doch falsch eingeschätzt? Vielleicht war es besser so, und dann war ja noch das versprochene Date am Abend. "Du weißt immer, was gut für dich ist", hatte er gesagt. Wahrscheinlich stimmte es sogar.
Einige Minuten nach halb zehn betrat sie die Hotelbar. Eine lärmende Clique hatte die Plätze am Tresen belegt. Sie setzte sich an ein Tischchen und ließ sich einen Caipirinha bringen. Leo war nirgends zu entdecken. Wie lange sollte sie hier warten? Anrufen wollte sie ihn nicht. Außerdem lag ihr Handy zum Aufladen auf dem Nachttisch. Ein Notfall, hatte er gesagt, sie konnte sich nichts darunter vorstellen. Im Spiegel gegenüber prüfte sie nochmals ihr Outfit. Schwarze Leggins und ein weißes Leinenjackett, lässig über die Schultern gelegt. Das Top rot wie der Klatschmohn, ihr Einkauf von neulich. Sie fand sich elegant, aber nicht overdressed, passend für eine Frau in mittlerem Alter. In der Frage 'Zu mir oder zu dir?' hatte sie bereits eine Entscheidung getroffen. Natürlich zu ihr. Sie brauchte sicheres Terrain. Keine Inszenierungen mehr außer ihren eigenen. Vorsorglich hatte sie den Sektvorrat in der Minibar auffüllen lassen. Sie glaubte nicht, dass sie sich um Kondome kümmern musste. Das war Leos Sache. So weit, so gut.
Trotzdem klopfte ihr das Herz bis zum Halse. Warum kam er nicht?
Um viertel nach zehn ging sie zum Empfang.
„Können Sie mir bitte sagen, ob Herr van Berghe im Hause ist?“
„Leider nicht. Die meisten Gäste nehmen ihre Codekarte mit, wenn sie was vorhaben. Soll ich für Sie einmal anrufen?“
„Nein, danke, lassen Sie nur. Vielleicht hat er ja eine Nachricht für mich hinterlassen? In meinem Fach ...?
Der Chefportier hielt bereits einen Umschlag in der Hand. „Wenn ich noch etwas für Sie tun kann …? Ich wünsche noch einen schönen Abend, Frau Walter.“
Ein Brief, an Emma Walter adressiert, ohne Briefmarke, ohne Absender. Emma kannte die Schrift nicht. Leos? Aber woher hätte sie die auch kennen sollen? Wollte sie ihn hier in der Öffentlichkeit lesen? Bestimmt nicht.
Als sie, auf der Bettkante sitzend, den Umschlag aufriss, fielen Geldscheine heraus, drei Hunderter. Emma legte sie aufs Kopfkissen, schaute auf die Unterschrift, erst dann begann sie zu lesen.
„Liebe Emma,
wenn du diesen Brief liest, bin ich über alle Berge. Ja, du hast Recht, es ist ein Wortspiel, van Berghe ist nicht mein richtiger Name. Leo schon. Ich habe dir ganz am Anfang gesagt, ich sei auf der Flucht. Das bin ich auch, aber nicht vor der Polizei, sondern vor mir selber. Du musst nämlich wissen, ich bin ein elender Glücksritter, immer auf der Suche nach einer leichten Beute, egal ob Männer oder Frauen. Aber du gehörst nicht in mein Beuteschema, denn du bist etwas Besonderes. Ja, die Woche mit dir war wunderschön, endlich konnte ich einmal eine Auszeit von mir selber nehmen.
Emma, du wirst gekränkt sein. Wahrscheinlich fühlst du dich zurückgestoßen und ausgenutzt, womöglich in deiner Weiblichkeit verletzt. Aber so ist es nicht. Im Gegenteil. Als mir klar wurde, dass bei dir Gefühle im Spiel waren, wusste ich, dass ich meiner Wege gehen musste.
Meine Verehrung und Dankbarkeit sind nicht gelogen. Im Herzen bin ich ein Romantiker, einer, der zu feige ist, auch danach zu leben.
Eine letzte Bitte an dich: Begleiche an meiner Stelle die Hotelrechnung. Ich fürchte, das Geld wird nicht ganz reichen. Vielleicht zeigt sich die Hotelleitung großzügig. Ich hoffe sehr, dass du nicht für den Restbetrag herangezogen wirst.
Ich bin ganz sicher, dass ich diesmal derjenige bin, der weiß, was gut für dich ist.
Es grüßt dich Leo, der so gerne ein echter Minnesänger gewesen wäre.“
Nein, sie zerriss ihn nicht, den Brief. Sie zerknüllte ihn, dann strich sie ihn glatt und legte ihn neben das Notebook. Sie suchte ihren kuschligsten Schlafanzug heraus und zog ihn an. Ihre schicken Klamotten hängte sie sorgfältig über die Hotelkleiderbügel, alles in Zeitlupe. Sie fühlte nichts, keinen Zorn, keine Traurigkeit. Im Dunkeln putzte sie die Zähne. Einen Augenblick lang dachte sie, der Aquavit aus der Minibar könne dabei helfen, sich wieder zu spüren. Aber dann erinnerte sie sich, dass Schnaps auch schon bei dem Desaster mit Robert nicht geholfen hatte. Als sie das leichte Federbett über sich ausgebreitet und das Licht gelöscht hatte, zwang sie sich, über den Satz in Leos Brief nachzudenken: Ich bin ganz sicher, dass ich diesmal derjenige bin, der weiß, was gut für dich ist.
In der Nacht träumte sie von einer Möwe Emma, die stundenlang über der abfließenden Nordsee kreiste und immer wieder ihr erstauntes Oho ausstieß.
Am nächsten Morgen, es war der zweite Sonntag ihres Urlaubs, erledigte sie Leos Auftrag mit der Rechnung. Sie bekam keine Schwierigkeiten, sah nur hochgezogene Augenbrauen und Achselzucken. Sie stand ja noch drei Wochen auf der Gästeliste. Unter die Leute gehen? Sie hatte keine Lust. Der Strand hatte seinen Reiz für sie verloren. Hatte sie nicht an ihrem Roman arbeiten wollen?
Entschlossen öffnete sie das Schreibprogramm.
Schreib einfach mal den ersten Satz, du wirst sehen, bald läuft es von allein. Du hast doch alles schon im Kopf, immer und immer wieder an den Formulierungen gebastelt. Los, fang an!
Dann stand er endlich da, ihr Romananfang, fett gedruckt:
Jemand hatte in der Nacht vom Sonntag auf den Montag quer über die Scheibe der Buchhandlung gesprüht: Macht kaputt, was euch kaputt macht!
Zufrieden betrachtete Emma ihren Erstling. Auf leisen Sohlen schlich sich eine neue Idee in ihr Exposé. Ein weiterer Protagonist. Er könnte Leo heißen.