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Eine mittlere Frau

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21.12.2015
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Eine mittlere Frau

Emma wuchtete den Koffer in die Ablage, hängte die Jacke an den Haken neben dem Fenster und ließ sich erleichtert in den Sitz fallen. Es war schlau von ihr, im Großraumwaggon des Intercitys einen Einzelplatz zu buchen. Da hatte sie Ellenbogenfreiheit und musste keine langweiligen Gespräche führen. Mit zweimal Umsteigen würde sie über acht Stunden unterwegs sein. Aber dann … Schon jetzt roch sie salzige Meeresluft und hörte, wie die Flut heranrauschte. Ja, Eiderstedt an der Nordsee wartete auf sie. Fast unmerklich setzte sich der Zug in Bewegung.
Emma griff in die Seitentasche ihres Reisetrolleys und zog das Notebook hervor.
Warum die Zeit nicht nutzen und mit der Niederschrift des Romans beginnen? Lange schon nistete er in ihren Gedanken, sogar einen Klappentext hatte sie bereits formuliert.
Sie überflog den ersten Satz: "Eine gemütliche süddeutsche Universitätsstadt ist Anfang der siebziger Jahre von der 68er-Bewegung und dem Kampf gegen AKWs erfasst …"
Es funktionierte nicht. Sie konnte sich nicht konzentrieren, dazu war der Geräuschpegel im Waggon zu hoch. Immer noch suchten Reisende ihre Plätze, stießen gegen ihren Sitz oder blieben im Gang stehen, ausgerechnet neben ihr. Unangenehme Erinnerungen drängten an die Oberfläche.

„Ich brauche Abstand, mindestens vier Wochen will ich weg, Rita, es geht nicht anders.“
Emmas Freundin und resolute Chefin der Buchhandlung „Zum Pflasterstein“ geriet so in Wallung, dass die Bernsteinkette auf ihrem mächtigen Busen auf- und abhüpfte.
„Mensch, ihr Mädels, immer dieser Ärger mit euren Lovern. Von dir hätte ich das nicht erwartet.“ Sie schnaubte und knallte den KNOE-Ordner auf den Schreibtisch. „Ich dachte, du und dein Professor hätten alles geklärt. War doch alles im grünen Bereich, oder hab ich da was verpasst?“
Emma zögerte. Sie musste diplomatisch vorgehen.
„Es geht ihm um seine Karriere, Rita. Du weißt ja, er will Dekan werden."
Emma zweifelte nicht daran, dass die Chefin ihr den langen Urlaub bewilligen würde. Schließlich war sie seit vielen Jahren Ritas beste Kraft, belesen, wortgewandt und sehr beliebt bei der Kundschaft, vor allem beim Universitätspersonal.
„Außerdem will ich meinen Roman schreiben. Ich … ich muss endlich mal etwas für mich selber tun.“
Rita verdrehte die Augen.
„Wir sind Geschäftsleute, keine Literaten. Vergiss das nicht. Bücher sollen andere schreiben, wir verkaufen sie." Rita neigte zum Predigen. "Na, meinetwegen, ich hab's kapiert. Aber zu Semesteranfang bist du zurück."

Draußen flogen Häuser und Bäume vorbei. Es tat den Augen weh, wenn der Zug durch die kleineren Bahnhöfe raste, so dass es unmöglich war, die Namen der Stationen zu erhaschen. Nur die Silhouetten der Höhenzüge entlang der Eisenbahnstrecke gewährten dem Blick etwas Entspannung. Das gleichmäßige, fast unmerkliche Schaukeln versetzte Emma in Trance. Loslassen, zur Ruhe kommen, die innere Mitte finden. Emma schloss die Augen.

Der kleine Regionalzug stieß drei heftige Pfiffe aus, als ob er froh sei, heil anzukommen. Endstation. Es hatte zuletzt so heftig geregnet, dass sich die Abteilfenster beschlagen hatten und nichts von der Gegend zu erkennen war. Emma stand schon seit zehn Minuten neben der Waggontür, ihr Gepäck griffbereit neben sich. Wie immer war sie angespannt. Nur ja den Ausstieg nicht verpassen. Sie wusste, das war lächerlich. Aber sie konnte nichts dagegen tun. Robert, ihr verflossener Liebhaber, kannte diese Macke. Auf ihren recht häufigen gemeinsamen Bahnreisen zog er amüsiert die Augenbrauen hoch und stand erst auf, wenn alle anderen praktisch schon ausgestiegen waren.
Erleichtert blieb Emma auf dem Bahnsteig stehen und sah sich um. Die meisten Ankömmlinge machten sich ohne zu zögern auf den Weg zum Taxistand. Einige wurden mit lautem Geschrei von Freunden oder Verwandten empfangen. Der Regen hatte aufgehört. Am Himmel jagten sich die letzten Wolkenreste, und eine späte Sonne schickte ihre schrägen Strahlen in die Pfützen. Eine frische Brise trug intensiven Duft nach Kiefern aus dem nahen Wäldchen herüber. Emma knöpfte ihre Jacke zu. Sie hatte noch im Zug ein Taxi bestellt. Es wartete als letztes am Stand. Ein junger, schlanker Mann in Jeans und einem blauen Blouson schien mit der Taxifahrerin zu verhandeln. Sie schüttelte mehrmals den Kopf. Er war Emma schon im Zug aufgefallen wegen seines rechten Armes, den er in einer breiten Schlinge trug. Eine Sporttasche hing über seiner linken Schulter. Sie schätzte sein Alter auf knapp dreißig, etwa zehn Jahre jünger als sie.
„Ich glaube, es ist mein Taxi“, sagte sie nicht unfreundlich, „was machen wir denn nun?“
„Ja, dumm von mir, ich hätte daran denken müssen. Es ist ja nun mal nicht Hamburg.“
„Nein, das ist es nun wirklich nicht. Ich kann Sie mitnehmen, wenn Sie mir sagen, wo Sie hin wollen. Mein Hotel liegt ganz im Zentrum.“
„Oh, super, das passt. Ich muss mir sowieso noch eine Bleibe suchen. Vielen Dank!“ Er strahlte und deutete eine kleine Verbeugung an. Ein charmanter Bursche. Dass man die Taxikosten auch teilen könne, sagte er nicht. Ohne weiteren Kommentar setzte er sich zu Emma in den Fonds.
„Darf ich fragen, was es mit dieser Verletzung auf sich hat?“ Emma hatte das Gefühl, sie sei für die Konversation verantwortlich.
„Oh, das! Nur eine Vorsichtsmaßnahme, nichts von Bedeutung. Sie wissen ja, das Gedränge im Zug. So kriegt man wenigstens einen Sitzplatz.“ Wieder zeigte er seine weißen Zähne. „Es ist wahrscheinlich gar nicht so einfach, hier in der Hauptsaison ein vernünftiges Zimmer zu bekommen.“
„Stimmt, ich habe vor einigen Wochen gebucht. Da war es fast schon zu spät. Aber ich wollte unbedingt hierher. Nordseeluft ist hervorragend, wenn man eine Pollenallergie hat, und überhaupt.“
Der junge Mann schwieg und schaute aus seinem Seitenfenster.
Emma ärgerte sich. Was musste sie auch von sich erzählen! Die einseitige Unterhaltung begann sie zu nerven. Sie machte nochmals einen Vorstoß.
„Und was treibt Sie hierher?“
„Ich will's mal so formulieren, ich bin quasi auf der Flucht.“
„Sie machen's ja spannend! Ist die Polizei hinter Ihnen her?“
„Wer weiß?“ Er machte eine Pause, streckte ihr die linke Hand hin und sagte: „Ich bin Leonhard, meine Freunde nennen mich Leo.“
Das Taxi hielt vor dem Hotel. Ohne Emmas Antwort abzuwarten, schwang er sich elegant aus dem Auto und schlug die Tür zu. Beim Fortlaufen drehte er sich mehrmals um und winkte.
Interessante Variante eines Flirtversuchs. 'Anbaggern' nennen es wohl die Jüngeren. Emma seufzte. Dann beglich sie die Taxirechnung.

Das Hotelzimmer war geräumig, aber nicht luxuriös. Auf Balkone hatte man bei der Renovierung verzichtet, aber ein Panoramafenster gewährte eine großartige Sicht auf die Nordsee. Emma fühlte sich sofort wohl. Das musste sie auch, wenn sie es vier Wochen allein aushalten wollte. Schon beim Einchecken hatte sie registriert, wie anders es war, wenn man allein reiste. Nicht, dass sie als Single-Frau schlechter behandelt wurde, diese Zeiten waren in der Tourismusbranche wohl vorbei. Aber sie musste dauernd selbst Entscheidungen treffen: Halbpension oder doch Vollpension, Platz am Fenster im Speisesaal, Zimmerservice, Trinkgelder.
Nachdem sie Koffer und Tasche ausgeräumt und das Notebook angeschlossen und geöffnet hatte, trat sie ans Fenster. Sie blickte hinunter auf den zentralen Platz des Kurortes. Hier traf sich die nördliche mit der südlichen Deichpromenade, auf denen man, wie sie wusste, lange Wanderungen oder Radtouren entlang der Küste unternehmen konnte. Vom Fenster aus sah Emma auch die berühmte Seebrücke, die sich weit draußen im Watt verlor. Gerade jetzt, um die Abendzeit, herrschte Hochbetrieb. Nach einem verregneten Tag wollten die meisten Urlauber noch die Sonne genießen, bevor diese von der nächsten dunkelgrauen Wolkenbank verschluckt wurde.
Emma schnappte ihre regensichere Windjacke, steckte etwas Kleingeld ein und die Codekarte für ihr Zimmer. Beim Handy zögerte sie. Nein, das konnte im Hotel bleiben. An Rita würde sie heute Abend eine Mail schicken. Sie hatte im Augenblick nicht das Bedürfnis, mit jemandem zu reden.
Als sie aus dem Aufzug trat, sah sie Leo. Er stand mit dem Rücken zu ihr am Empfangstresen, einen Stift in der Hand. Seine Armschlinge war verschwunden. Emma ging eilig zur Drehtür. Bloß jetzt keinen Smalltalk. Der Abend gehörte ihr, ihr ganz allein. Sie brauchte ihn zum Nachdenken.

Bereits beim Frühstück trafen sie sich wieder. Emma, gerüstet für eine Wattwanderung, trank gerade ihren letzten Schluck Kaffee, als Leo in den Frühstücksraum stolperte. Er sah übernächtigt und missmutig aus, die blonden Haare leicht verstrubbelt. Zum Rasieren war er wohl noch nicht gekommen. Bis auf ein T-Shirt trug er die gleichen Sachen wie am Vortag. Als er Emma erblickte, strafften sich seine Schultern und die Mundwinkel gingen in die Höhe.
„Hallo, guten Morgen, gnädige Frau, ich sehe, der Tag wird gar nicht so übel, wie ich schon befürchtet habe.“
„Hallo. Hat es doch geklappt mit einem Zimmer hier?“
„Zimmer würde ich das nicht nennen, eher ein Dachbodenkabäuschen. Wahrscheinlich wohnten da früher die Dienstboten. Hauptsache, es ist für mich bezahlbar.“
„Wie kommt man denn an so ein Schnäppchen?“ Emma hoffte, dass er die Ironie verstehen würde.
„Sie suchen Arbeitskräfte für den Fitness-Bereich. Ich habe gesagt, ich würde es mir überlegen.“
Einen kurzen Moment wunderte sich Emma. Da passte einiges nicht zusammen. Aber so wichtig war es ihr nicht, dass sie länger darüber nachdenken wollte.
„Ja, dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Vielleicht läuft man sich ja gelegentlich über den Weg.“
„Oh, das würde mich gar nicht nicht wundern. Es ist sogar ziemlich wahrscheinlich. Ich würde mich freuen.“
Leo fing an, auf seinem Teller Rührei und Schinken aufzutürmen. Das Frühstück war wohl seine Lieblingsmahlzeit. Oder er war ausgehungert.
„Ach, und lassen Sie es sich gut schmecken. Das Buffet ist sensationell.“
Emma setzte eine Sonnenbrille mit riesigen Gläsern auf und trat in das gleißende Licht der Morgensonne. Sie ärgerte sich. Was soll diese blöde Bemerkung über das tolle Buffet? Und dann noch diese indirekte Aufforderung. Über den Weg laufen. Ist doch klar, wenn man im selben Hotel wohnt. Dieser Kerl mit seinem gnädige-Frau-Getue zwingt mich dauernd dazu, etwas zu sagen, was ich gar nicht will. Ach Quatsch, vergiss es. Da vorne geht’s zum Meer.


Einige Stunden später saß Emma am Strand, unweit der Wasserlinie, die allmählich vorrückte. Sie hatte ihre Sportschuhe zusammengebunden neben sich gelegt. Der warme Sand rieselte zwischen ihren Zehen hindurch. Emma grub ihre Füße tiefer in die die feuchte Schicht und beobachtete zwei Dreijährige, wie sie direkt am Wasser Schlammtürme bauten. Sie schöpften mit der hohlen Hand eine Portion Schlamm und ließen ihn tröpfchenweise auf den Boden fallen. Für einen kurzen Augenblick entstanden bizarre Türme und Türmchen, der instabile Untergrund ließ sie jedoch gleich wieder zusammensinken. Hier im Watt kam die Flut nur sachte heran. Ein gleichmäßig anschwellendes Rauschen in der Ferne kündigte sie an, kein donnernder Wellenschlag, wie sie es von der Bretagne her kannte. Und trotzdem konnte man von der Flut überrascht werden. Allein im Watt, keine ungefährliche Angelegenheit. Am Brett für die Hausgäste im Hotel hingen Warnungen. Es gab jedes Jahr Unfälle.
Die Sonne war hinter milchigem Dunst verschwunden. Emmas Hochstimmung vom Vormittag war einer leichten Niedergeschlagenheit gewichen, manchmal kündigte sich so eine Migräne an. Für diesen Fall hatte sie Medikamente in ihrer Reiseapotheke. Heute war es eher eine 'depressive Verstimmung'. Dafür hatte sie ein anderes Rezept, ein altes Hausmittel: heiße Schokolade und ein Sahnetörtchen, am besten vor einem Café in der Einkaufsmeile, wo man die Leute studieren konnte. Dann vielleicht ein paar Bahnen im hoteleigenen Swimmingpool. Oder shoppen. Sie hatte da ein sehr schickes Top gesehen, ein dunkles Rot, das in einer Woche fabelhaft zu ihrer gebräunten Haut passen würde. Es war teuer, gerade das Richtige, um sich zu verwöhnen. Danach wäre die Welt wieder in Ordnung. Aber Emma ahnte, dass in ihrem Unterbewusstsein ein altbekanntes Monster lauerte, Angst vor Einsamkeit. Dem würde sie sich stellen müssen. Aber nicht heute.

Emma hatte Halbpension gebucht und sich einen kleinen Tisch am Fenster reservieren lassen. Zu ihrer Überraschung fand sie zwei Gedecke vor. Selbst schuld, das hätte sie wohl vorher klären müssen. Vielleicht bekam sie ja einen angenehmen Tischpartner, wahrscheinlich eine andere alleine reisende Frau.
„Guten Abend, gnädige Frau, ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich schon wieder auftauche. So ein Zufall. Heute ist wohl mein Glückstag. Darf ich Platz nehmen?“
Von wegen Zufall. Bestimmt hat er sich erkundigt. Hat vorgegeben, er sei ein Bekannter von mir. Das kann ja was werden. Da ist ein Dämpfer fällig.
„Sie müssen wohl einen sehr guten Draht zum Gott des Zufalls haben“, sagte sie und streckte die Hand nach dem leeren Platz aus, „oder gute Bekannte unter dem Personal.“
Getroffen. Emma sah, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss.
„Es ist wirklich Zufall. Ich ... Ich weiß ja nicht mal Ihren Namen. Aber wenn Sie meinen ...“ Er ließ den Satz in der Luft hängen.
„Nein, setzen Sie sich bitte. Es war nur ein Scherz. Und Sie haben natürlich Recht mit dem Namen. Ihrer ist … Leonhard?“
„Leonhard van Berghe, für meine Freunde ...“
„Ja, ich weiß, für Ihre Freunde Leo.“ Beide mussten lachen. „Ich bin Emma Walter, und bitte lassen Sie die gnädige Frau in der Schublade. Emma, einfach Emma.“
So, die Rollen waren jetzt verteilt. Emma hatte die Führung übernommen.
Nach dem Essen blieben sie noch eine ganze Weile sitzen. Emma musste insgeheim zugeben, dass ihr Tischnachbar ein erfrischender und geistreicher Plauderer war. Geradezu treuherzig breitete er ein paar Details aus seinem jungen Leben aus. Sie wusste nicht, ob sie alles glauben sollte.
„Zu mehr als ein paar Semester in Wien und St. Gallen hat es nicht gereicht. Von jedem ein wenig. Soziologie, Psychologie, Literatur. Nein, Theologie nicht. Ich musste schließlich ja auch noch Tennisspielen und Skifahren. Und natürlich Rafting. Sport ist wahrscheinlich mein Ding.“
„Rafting auch noch? Wirklich vielseitig. Aber was ist mit Tanzsport?“
Emma tanzte wahnsinnig gern, nur hatte es in den letzten Jahre nicht mehr so viele Gelegenheiten gegeben. Semesterabschlussball, Presseball … Schnell schob sie die Erinnerungen auf die Seite.
„Sport würde ich das nicht unbedingt nennen, es ist mehr …“ Er brach ab und griff nach seinem Glas. Emma hatte für beide einen Rotwein kommen lassen. "Ich glaube, Sie würden eine großartige Tänzerin abgeben."
Sie hielt sich bedeckt. Sollte Leo doch erzählen. Immerhin stellte er keine neugierigen Fragen. Aber in seinen Augen las sie respektvolle Aufmerksamkeit. Ein Welpenblick. Er wärmte sie und weckte verloren geglaubte Empfindungen.

Zu guter Letzt verabredeten sie sich für den nächsten Tag zu einer Radtour. Leo wollte sich um passende 'Drahtesel' bemühen. Tatsächlich verwendete er diesen altmodischen Ausdruck. Vielleicht sein abgebrochenes Literaturstudium. Er wechselte öfter einmal zwischen gewählt und salopp. Emma mochte es. Sie hatte ein Faible für Stilbrüche.
In ihrem Zimmer stand sie bis kurz vor Mitternacht am Fenster. Das Notebook lag noch genau so auf dem Schreibtisch, wie sie es hingelegt hatte. Auf seinem Display hatten sich ein paar Flusen niedergelassen. Es ging keine Versuchung von ihm aus. Die kam woanders her.
Das kann ja was werden, dachte sie zum zweiten Mal an diesem Tag, aber nun hatte der Satz eine völlig andere Bedeutung. Unten, auf dem zentralen Platz, pulsierte das Leben.

Schon fünf Tage waren seit ihrer Ankunft vergangen. Emma und Leo trafen sich jeden Tag am späten Vormittag. Leo kam pünktlich, aber manchmal erschien er übermüdet. Meistens waren sie mit den Rädern unterwegs, Badezeug inklusive. Es bildete sich eine gewisse Routine heraus. Emma gab die Ziele vor, Leo plante die Einzelheiten von Route, Wetter und Öffnungszeiten, Emma sorgte für die Verpflegung unterwegs. Wenn sie einkehrten, übernahm sie die Rechnung, auf ihren ausdrücklichen Wunsch. Es war eine neue Erfahrung für sie.
„Wenn du willst, kann ich dir den Geldbeutel geben. Die meisten Männer möchten sich lieber an traditionelle Muster halten.“
Wie selbstverständlich waren sie zum Du übergegangen.
„Oh nein, damit habe ich kein Problem. Es ist mir eher unangenehm, dass ich derzeit so knapp bei Kasse bin und ich nicht weiß, wann sich das ändert.“
„Aber das haben wir doch geklärt. Es ist ganz einfach. Ich möchte etwas unternehmen und lade dich dazu ein, weil es mir mehr Spaß macht, wenn jemand mitkommt. Und außerdem nimmst du mir ja einiges ab. Ich hab es nicht so mit der Organisation.“
Das war eine glatte Lüge. Emma konnte sehr gut organisieren. Allerdings hatte sie schon lange nicht mehr ihren eigenen Geldbeutel herausnehmen und nach der Rechnung fragen müssen. Robert hätte das nie zugelassen. Es kam ihr vor, als ob sie sich ein Stückchen Freiheit zurückerobert hätte. Oder war es Macht? Wahrscheinlich beides.
Nach dem Abendessen im Hotel gingen sie immer getrennte Wege. Leo sprach zögernd von Gesprächen, die er noch führen müsse. Genaueres gab er nicht preis. Manchmal hatte Emma das Gefühl, er erwarte von ihr, dass sie die Initiative ergriffe, aber wofür? Sie hing immer noch der Szene nach, die sich am dritten Tag am Leuchtturm ereignet hatte. Ein stürmischer Regenguss zwang sie, eine Pause einzulegen.
„Schade, dass der Aufgang versperrt ist. Am besten, du stellst dich auf die oberste Stufe, da hast du auch noch etwas Windschutz.“
„Und du? Willst du im Regen stehen bleiben? Wir haben beide Platz auf der Treppe.“
„Nicht nötig. Ich hab mein Cape als Schutz und Schirm. Und außerdem bin ich ein edler Ritter, der seine verehrte frouwe auf den Sockel stellt.“
Emma lachte. „Aber ich bin keine Frau, die auf dem Sockel stehen will. Ich bin für Augenhöhe.“
„So so, Augenhöhe willst du. Also dafür reicht mir aber die unterste Stufe. Siehst du? So ist es doch fast gemütlich. Zufrieden?“
„Nicht ganz, eine Kemenate wäre mir lieber.“
Leo wich ihrem Blick aus. Er schwieg mal wieder und schüttelte die Regentropfen von seinem Cape. Ein Windstoß trieb ihn noch eine Stufe höher.
„Apropos, wie bist du denn mit deinem Dachstübchen zufrieden?“
Leo zuckte die Achseln. „Es geht, ich bin ja nicht oft da oben. Der Ausblick ist schön. Früh morgens kann man gut die Möwen beobachten. Es gibt da eine, die schreit ständig 'Oho!' Möchte wissen, was sie mir damit sagen will.“
„Ich habe zuhause auch eine kleine ausgebaute Dachwohnung, sehr gemütlich, finden meine Freunde. Über den Dächern der Altstadt mit Blick auf das Münster. Jede Menge Tauben. Und nur ein paar Meter weg von der Buchhandlung.“
Emma hatte inzwischen Verschiedenes von sich erzählt, sogar kurz die Trennung von Robert erwähnt. Dazu hatte Leo keinen Kommentar abgegeben.
„Also doch abgehoben vom Rest der Welt. Eben besonders.“ Es klang beinahe nach einem Vorwurf, oder eher melancholisch.
„Überhaupt nicht! Ich bin eine mittlere Frau, mit mittleren Eigenschaften und mittleren Bedürfnissen. Keine Madonna!" Es klang heftiger als beabsichtigt. Aber diese Diskussion hatte Emma schon öfter geführt.
„Du? Du bist doch nicht mittelmäßig. Alles andere, aber nicht mittelmäßig. Ich kenne mittelmäßige Frauen, sie laufen überall herum, an der Uni, auf dem Tennisplatz, am Strand.“
„Leo, Mittelmäßigkeit ist für mich etwas anderes als mittleres Sein. Damit meine ich, dass ich immer versuche, eine Balance zu finden zwischen Kopf und Bauch, zwischen müssen und wollen. So eine Art Harmonie, ach, ich weiß nicht. Es ist schwierig zu beschreiben ... Aber ich glaube , der Regen hat aufgehört. Wir können weiter.“
Leo nickte. Er reichte ihr die Hand, und sie hüpfte auf den glitschigen Rasen vor der Treppe. Sein fester Griff war wie ein Stromschlag. Eine heiße Welle raste durch ihren Arm. Ob es ihm auch so ging? Seine Hand hatte kurz gezuckt, bevor er die ihre freigab.
„Ich glaube, du weißt immer, was gut für dich ist“, sagte Leo an diesem Abend, bevor sie auseinandergingen.

Am Wochenende rückte Leo nach dem Frühstück mit einem eigenen Plan heraus. Sie saßen in der Lobby, Emma blätterte im Radführer, den sie sich gekauft hatte. Leo wirkte genervt, beobachtete unentwegt die Eingangstür. Überall standen Koffer herum. Aufbruchstimmung. Drei tiefgebräunte Blondschöpfe lieferten sich ein Slalomrennen zwischen den Gepäckstücken.
„Lass uns mal ein Stück weg von der Küste fahren. Es gibt wunderbare kleine Dörfer landeinwärts. Und einiges zu sehen. Zum Beispiel einen Ponyhof. Kannst du reiten?“
„Nur auf einem Holzpferd. Hat es irgendwo einen Rummelplatz? Was hast du plötzlich gegen den Strand?“
„Ich hab eher etwas gegen Rummel. Du siehst ja, was heute los ist. Nein, ich möchte einfach einen ruhigen Tag verbringen, nur mit dir.“
Den Ponyhof strichen sie. Stattdessen besichtigten sie zwei Dorfkirchen und machten in einer Gartenwirtschaft unter alten Linden eine längere Pause. Nun waren sie auf dem Heimweg, auf schmalen, sandigen Feldwegen. Manchmal mussten sie umkehren, weil ein Elektrozaun oder ein Wassergraben ihnen in die Quere kam. Landeinwärts spürte Emma die Sonne weitaus stärker als am Strand. Zum Glück hatte sie ihren Strohhut mitgenommen. Wegen des Windes hatte sie ihn mit einem Halstuch verknotet.
„Wie aus einem Biedermeierbild, nur dass die Mädchen damals keine Shorts trugen.“
Leos Miene konnte sie nicht entziffern. Er hatte seine Augen hinter der Sonnenbrille verborgen, was ihm, zusammen mit seinem Drei-Tage-Bart, ein verwegenes Aussehen gab. Emma fühlte sich jung und begehrenswert. Es war wie ein Zeitsprung zurück, bevor sie Robert kennengelernt hatte. Robert. Sein Bild verblasste zusehens.
Am Rande eines Kiefernwäldchens machten sie nochmals Rast. Emma holte einen extraleichten Regenumhang aus dem Rucksack, zog alle Reißverschlüsse auf und breitete ihn aus. Selbst im Schatten glänzte er silbrig.
„Praktisch, so ein Stück, die reinste Allzweckwaffe. Mit der Kapuze könnte man glatt Wasser holen.“ Leo lehnte an der Querstange seines Fahrrads, einen Arm auf dem Lenker abgestützt, und betrachtete das Arrangement. Er rührte sich nicht.
„Ja …, allzeit bereit. Wasser holen brauchst du aber nicht. Wir haben noch eine Flasche. Komm, steh nicht herum, hier ist genug Platz.“
Leo sah sich suchend um. „Sofort, Herrin, sofort bin ich zu Euren Diensten. Aber da fehlt noch etwas. Etwas Wichtiges.“ Er verschwand im Wäldchen. Emma zog die Schuhe aus, schob den Rucksack unter den Kopf und streckte die Beine aus. Leo ließ sich Zeit. Sie musste eben Geduld haben.
Eine lange Viertelstunde später kam Leo zurück. Er hatte einen ganzen Arm voll von Kräutern und Blumen, Klatschmohn, Glockenblumen, Margeriten, Weideröschen.
„Lass mich mal machen und rühr dich nicht, bitte“, sagte er und fing an, Gräser und Blüten auf dem glänzenden Untergrund um Emma herum zu verstreuen. Den Klatschmohn verteilte er auf ihren gekreuzten Beinen, die Glockenblumen und Margeriten legte er ihr zu Füßen. Schließlich setzte er sich auf einen Findling, den ein Bauer wohl in seinem Acker gefunden hatte.
„Hör mir einfach zu, bitte, du wirst es dann verstehen.“
Er schlug die Beine übereinander, stützte sein Kinn in die Hand und begann zu zitieren:

„Unter der Linde,
auf der Heide,
da unser beider Lager war,
da könnt ihr schön
gebrochen finden
die Blumen und das Gras.
Vor dem Wald in einem Tal -
tandaradei -
sang schön die Nachtigall.“

Als er schwieg, hörten sie, wie im Wäldchen ein Vogel rief. Kuckuck, Kuckuck.
Emma kämpfte mit den Tränen. Wie sollte sie nicht verstehen, sie, die schließlich den gleichen Namen trug wie der Dichter dieses berühmten Liebesgedichtes? Walter von der Vogelweide. Minnesang. Pure Poesie. Meistens ging es um unerfüllte Liebe. Aber warum diese Inszenierung? Sie setzte sich auf und legte den Klatschmohn behutsam auf die Seite.
„Ich muss dir noch etwas sagen“, fing Leo wieder an, „wir müssen jetzt zurück. Sofort. Es ist ein Notfall. Ich kann nicht darüber sprechen. Warte nicht auf mich zum Abendessen. Aber um halb zehn können wir uns treffen, ja, um halb zehn in der Bar. Dann haben wir alle Zeit der Welt. Und die werden wir nutzen ... Tränen, oh Gott, Emma, ich wollte dich doch nicht zum Weinen bringen.“ Er sank auf die Knie und hob die Hände. „Bitte, Herrin, es tut mir so Leid.“ Da musste sie beinahe wieder lächeln. Der Welpenblick! Leo war ein begnadeter Schauspieler.
Auf der Heimfahrt gewann Emma ihre Fassung zurück. Eigentlich war sie ja auch über das Alter von Wald-und Wiesensex hinaus. Hatte sie sich lächerlich gemacht? Hatte sie Leos Ergebenheit, die Verehrung in seinen Augen doch falsch eingeschätzt? Vielleicht war es besser so, und dann war ja noch das versprochene Date am Abend. "Du weißt immer, was gut für dich ist", hatte er gesagt. Wahrscheinlich stimmte es sogar.

Einige Minuten nach halb zehn betrat sie die Hotelbar. Eine lärmende Clique hatte die Plätze am Tresen belegt. Sie setzte sich an ein Tischchen und ließ sich einen Caipirinha bringen. Leo war nirgends zu entdecken. Wie lange sollte sie hier warten? Anrufen wollte sie ihn nicht. Außerdem lag ihr Handy zum Aufladen auf dem Nachttisch. Ein Notfall, hatte er gesagt, sie konnte sich nichts darunter vorstellen. Im Spiegel gegenüber prüfte sie nochmals ihr Outfit. Schwarze Leggins und ein weißes Leinenjackett, lässig über die Schultern gelegt. Das Top rot wie der Klatschmohn, ihr Einkauf von neulich. Sie fand sich elegant, aber nicht overdressed, passend für eine Frau in mittlerem Alter. In der Frage 'Zu mir oder zu dir?' hatte sie bereits eine Entscheidung getroffen. Natürlich zu ihr. Sie brauchte sicheres Terrain. Keine Inszenierungen mehr außer ihren eigenen. Vorsorglich hatte sie den Sektvorrat in der Minibar auffüllen lassen. Sie glaubte nicht, dass sie sich um Kondome kümmern musste. Das war Leos Sache. So weit, so gut.
Trotzdem klopfte ihr das Herz bis zum Halse. Warum kam er nicht?

Um viertel nach zehn ging sie zum Empfang.
„Können Sie mir bitte sagen, ob Herr van Berghe im Hause ist?“
„Leider nicht. Die meisten Gäste nehmen ihre Codekarte mit, wenn sie was vorhaben. Soll ich für Sie einmal anrufen?“
„Nein, danke, lassen Sie nur. Vielleicht hat er ja eine Nachricht für mich hinterlassen? In meinem Fach ...?
Der Chefportier hielt bereits einen Umschlag in der Hand. „Wenn ich noch etwas für Sie tun kann …? Ich wünsche noch einen schönen Abend, Frau Walter.“
Ein Brief, an Emma Walter adressiert, ohne Briefmarke, ohne Absender. Emma kannte die Schrift nicht. Leos? Aber woher hätte sie die auch kennen sollen? Wollte sie ihn hier in der Öffentlichkeit lesen? Bestimmt nicht.
Als sie, auf der Bettkante sitzend, den Umschlag aufriss, fielen Geldscheine heraus, drei Hunderter. Emma legte sie aufs Kopfkissen, schaute auf die Unterschrift, erst dann begann sie zu lesen.

„Liebe Emma,

wenn du diesen Brief liest, bin ich über alle Berge. Ja, du hast Recht, es ist ein Wortspiel, van Berghe ist nicht mein richtiger Name. Leo schon. Ich habe dir ganz am Anfang gesagt, ich sei auf der Flucht. Das bin ich auch, aber nicht vor der Polizei, sondern vor mir selber. Du musst nämlich wissen, ich bin ein elender Glücksritter, immer auf der Suche nach einer leichten Beute, egal ob Männer oder Frauen. Aber du gehörst nicht in mein Beuteschema, denn du bist etwas Besonderes. Ja, die Woche mit dir war wunderschön, endlich konnte ich einmal eine Auszeit von mir selber nehmen.
Emma, du wirst gekränkt sein. Wahrscheinlich fühlst du dich zurückgestoßen und ausgenutzt, womöglich in deiner Weiblichkeit verletzt. Aber so ist es nicht. Im Gegenteil. Als mir klar wurde, dass bei dir Gefühle im Spiel waren, wusste ich, dass ich meiner Wege gehen musste.
Meine Verehrung und Dankbarkeit sind nicht gelogen. Im Herzen bin ich ein Romantiker, einer, der zu feige ist, auch danach zu leben.
Eine letzte Bitte an dich: Begleiche an meiner Stelle die Hotelrechnung. Ich fürchte, das Geld wird nicht ganz reichen. Vielleicht zeigt sich die Hotelleitung großzügig. Ich hoffe sehr, dass du nicht für den Restbetrag herangezogen wirst.
Ich bin ganz sicher, dass ich diesmal derjenige bin, der weiß, was gut für dich ist.
Es grüßt dich Leo, der so gerne ein echter Minnesänger gewesen wäre.“

Nein, sie zerriss ihn nicht, den Brief. Sie zerknüllte ihn, dann strich sie ihn glatt und legte ihn neben das Notebook. Sie suchte ihren kuschligsten Schlafanzug heraus und zog ihn an. Ihre schicken Klamotten hängte sie sorgfältig über die Hotelkleiderbügel, alles in Zeitlupe. Sie fühlte nichts, keinen Zorn, keine Traurigkeit. Im Dunkeln putzte sie die Zähne. Einen Augenblick lang dachte sie, der Aquavit aus der Minibar könne dabei helfen, sich wieder zu spüren. Aber dann erinnerte sie sich, dass Schnaps auch schon bei dem Desaster mit Robert nicht geholfen hatte. Als sie das leichte Federbett über sich ausgebreitet und das Licht gelöscht hatte, zwang sie sich, über den Satz in Leos Brief nachzudenken: Ich bin ganz sicher, dass ich diesmal derjenige bin, der weiß, was gut für dich ist.
In der Nacht träumte sie von einer Möwe Emma, die stundenlang über der abfließenden Nordsee kreiste und immer wieder ihr erstauntes Oho ausstieß.

Am nächsten Morgen, es war der zweite Sonntag ihres Urlaubs, erledigte sie Leos Auftrag mit der Rechnung. Sie bekam keine Schwierigkeiten, sah nur hochgezogene Augenbrauen und Achselzucken. Sie stand ja noch drei Wochen auf der Gästeliste. Unter die Leute gehen? Sie hatte keine Lust. Der Strand hatte seinen Reiz für sie verloren. Hatte sie nicht an ihrem Roman arbeiten wollen?
Entschlossen öffnete sie das Schreibprogramm.
Schreib einfach mal den ersten Satz, du wirst sehen, bald läuft es von allein. Du hast doch alles schon im Kopf, immer und immer wieder an den Formulierungen gebastelt. Los, fang an!

Dann stand er endlich da, ihr Romananfang, fett gedruckt:

Jemand hatte in der Nacht vom Sonntag auf den Montag quer über die Scheibe der Buchhandlung gesprüht: Macht kaputt, was euch kaputt macht!

Zufrieden betrachtete Emma ihren Erstling. Auf leisen Sohlen schlich sich eine neue Idee in ihr Exposé. Ein weiterer Protagonist. Er könnte Leo heißen.

 

Hallo wieselmaus,

Zu mehr als ein paar Semester in Wien und St. Gallen habe ich es nicht gereicht
ich würde schreiben hat es
Viertel vor zehn betrat sie die Hotelbar.
Da fehlt mir etwas. Leo hat halb zehn als Termin genannt und Emma schien mir bisher nicht der Mensch zu sein, der bewusst fünfzehn Minuten zu spät kommt.
In der Nacht träumte sie von einer Möwe Emma,

Diese kleinen Fehlerchen habe ich beim - recht atemlosen - Lesen gefunden.

Emmas Hochstimmung vom Vormittag war einer leichten Niedergeschlagenheit gewichen, manchmal kündigte sich so eine Migräne an.
Da bin ich jetzt sehr neidisch geworden. Die Migräne kenne ich sehr gut und Medikamente helfen gar nichts. Leider hört da die Gemeinsamkeit auf, denn ich bin noch keiner jungen Frau begegnet, die sich für mich interessiert. ;)

Eine schöne ruhige Geschichte, die mir als altem Norddeutschen viele Bilder beschert hat. Den Schluss fand ich erst unpassend, aber du hast wohl recht: Frust kann ein guter Anlass, mit dem Schreiben zu beginnen und aufwühlende Erlebnisse zu verarbeiten.

Sehr gerne gelesen.

Jobär

 

Liebe Wieselmaus,

eine weitere Wohlfühl-Geschichte hast du mir beschert.
Es ist wirklich so, dass sich ein sehr angenehmes Gefühl während des Lesens in mir breit gemacht hat. So wie als Kind, wenn ich mit meiner Großmutter, ihre Lieblingsfilme angesehen habe, es dazu einen kuscheligen Schlafanzug, geschälte Äpfel gab und viel Nähe gab.

Die Handlung ist reizend und romantisch, die Verortung steht im Kontrast dazu. Wolken, Wind, Regen. Du schreibst sicher, unprätentiös im besten Sinne und ich war schon gespannt, was es mit dem Charmeur auf sich hat.

Was mich aber hindert, mitzufiebern und -fühlen, ist die Distanz zu deinen Protagonisten. Die hätte ich für den Verlauf benötigt. Mir fehlen die Gefühle. Irgendetwas hindert dich, sie preiszugeben. Ich lese von ihnen, aber sie sind für mich nicht nachzuempfinden. Emma ist fein, gebildet, aber distanziert. Leo ist charmant, frech, aber nicht greifbar. Auch die Interaktion der beiden bleibt schemenhaft.
Leider kann ich dir nicht sagen, was ihnen fehlt. Vielleicht im Verlauf der anderen Kommentatoren.
Zwei Stellen im Text ließen mich stolpern.

Frühstücken war wohl seine Lieblingsmahlzeit.
Frühstück wäre vielleicht eine Möglichkeit als Mahlzeit.

Als sie das leichte Federbett über sich ausgebreitet und das Licht gelöscht hatte, zwang sie sich, über den zweitletzten Satz in Leos Brief nachzudenken: Ich bin ganz sicher, dass ich diesmal derjenige bin, der weiß, was gut für dich ist.

Es mag richtig sein, dass es nicht Leos letzter Satz war, aber zweitletzter klingt recht technisch für diese traurige Situation.

Schön, eine so harmlose Geschichte in turbulenten Zeiten zu lesen.

Ich werde den Verlauf der Kommentare mit Interesse verfolgen.

Gute Nacht und vielen Dank für diesen Ausflug, Kanji

 

Eine wunderbar dahinfließende, leichte und beschwingte Erzählung, Schilderung einer Protagonistin, die (wie wohl die Autorin) mit beiden Beinen im Leben steht und dennoch nicht die Träume der Jugend so ganz verloren hat.

Stimmig in sich, in der Wortwahl - und eine Urlaubswoche als Plot. Spannung nur durch die Erwartung des Lesers aufzubauen, der im zeitlichen Ablauf einen Urlaub in Nordstrand nacherleben kann - gewagt, gekonnt - hat mich gut wie auch leicht unterhalten. Nett die Idee der eingeflochtenen Miniaturen wie z.B die Oho-Möve, oder für Freunde Leo, die immer wieder mal an verschiedenen Stellen aufscheinen.

Einfach: Danke!

 

Hallo Wieselmaus,

ich bin ja ein großer Fan von dir, aber diese KG konnte mich nicht recht packen (habe sie zu meiner Schande deshalb auch nicht ganz zu Ende gelesen). Es waren da zu wenig Konflikte, war zu wenig Dynamik nach meinem Geschmack. Stellenweis konnte es mich schon packen, aber halt nur stellenweise. Die Protagonistin ist mir sympathisch, als der Leo ins Spiel kam wurde es ja auch spannend, aber dann dauert es mir wieder zu lange bis etwas Aufregendes passiert. Ich fühlte mich an einen Spielfilm erinnert, von der Sorte Rosamunde Pilcher, nur halt, und zum Glück, ohne schmalzig verliebte Akteure, und so etwas schaue ich auch nicht.

Aber ist ja nicht schlimm, ist alles Geschmacksache, und die vorherigen Kommentare zeigen ja auch, dass es einigen gefallen hat. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich zur schnellebigen Generation gehöre, die einfach nicht mehr genug Geduld aufbringen kann und der so einiges entgeht. Beim nächsten Mal kriegst du mich bestimmt wieder.

Lg, chico

 
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„…

Ich kam gegangen
zuo der ouwe:
dô was mîn friedel komen ê
...“
Walther, Under der linden.​


Ja, was soll ich zu dem/-r kleinen Roman/ze schreiben,

liebe wieselmaus,

vielleicht

Es war schlau von ihr gewesen, im Großraumwaggon des Intercitys einen Einzelplatz zu buchen,
das man das „gewesen“ schlicht gewesen sein lassen könne.

Aber nein, es wäre wie der Stein des Spätachtundsechziger, der geworfen würde, der Frühachtundsechziger versuchte, dem Polizisten die Mütze vom Kopf zu holen, wäre der doch in dem gelingenden Augenblick außer Dienst (solche Vorschriften gibt’s übrigens noch immer) und ein Konfliktforscher bzw. -suchender bin ich auch nicht, obwohl ich ihnen auch nicht unbedingt aus dem Wege gehe. Muss auch nicht. Ist halt gut zu lesen und zeigt ruhig auf, was einem so alles passieren kann. Nicht muss, das wäre ja nicht "noch schöner", sondern buchstäblich weniger schön, sozusagen.

Aber hier,

Warum die Zeit nicht nutzen und endlich mit der Niederschrift des Romans zu beginnen?,
dass der Infinitiv in dem Fall ohne „zu“ korrekt wäre, andernfalls sollte sonst das lumpige „um“ die Stelle der verbindenden Kraft des „und“ einnehmen.

Doch ja, hier werd ich den Konjunktiv ein bisschen ändern wollen und doch den Satz kürzen, statt

Der kleine Regionalzug stieß drei heftige Pfiffe aus, als ob er froh sei, heil angekommen zu sein
besser und eleganter "… stieß drei heftige Pfiffe aus, als ob er froh wäre, heil anzukommen", was selbstverständlich nur ginge, wenn er die Freude noch vorm Stillstand hinauspfiffe.

Womit wir zwo Dinge ansprechen sollten, die nicht falsch sind, keine bange, aber erwähnt werden sollten. Das sind die an sich entbehrlichen Kommas vor Konjunktionen wie und und/oder oder, vor allem, wenn zwo Hauptsätze miteinander verknüpft werden. Aber sicherlich wolltestu den einen oder andern Hauptsatz gegenüber dem andern oder einen besonders hervorheben. Da hätt' ich dann lieber geschwiegen.

Aber das Kleben an der Schulgrammatik (was ja erst recht nix falsches sein kann, zeigt es doch auch eine gewisse Anhänglichkeit am Gelernten und Erfahrenen auf) kommt gelegentlich durch, hier z. B.:

Robert, ihr verflossener Liebhaber, kannte diese Macke. Auf ihren recht häufigen gemeinsamen Bahnreisen hatte er amüsiert die Augenbrauen gehoben und war erst aufgestanden, wenn alle anderen praktisch schon ausgestiegen waren
im Wechsel der Hilfsverben haben und sein, von denen das letzte doch überdeutlich anzeigt, dass der größere Teil zuvor zeitlich noch davor lag. Was wäre da falsch, stünde dort „Auf ihren recht häufigen gemeinsamen Bahnreisen hob er amüsiert die Augenbrauen und stand erst auf, wenn alle anderen praktisch schon ausgestiegen waren“?

Bei zehn Seiten Manuskript bleibt gelegentlich Flüchtigkeit nicht aus

heiße Schokolade und ein Sahnetörtchen, am esten vor einem hübschen Café in der Einkaufsmeile,
Das folgende ist nicht falsch, der Rechtschreibduden lässt bestimmt beides zu, zusammen und getrennt (was nicht für seine Eindeutigkeit spricht, unterschiedliche Schreibweisen sollten auch Unterscheidbares beschreiben, schließlich kommt das Erzählen aus der angewandten Mathematik und stammt von der Zahl/dem Zählen ab)
wahrscheinlich eine andere allein reisende Frau.
Der alleine reisenden Frau würd ich den (grammatisch) gleichen Status zugestehen, wie der/dem Alleinerziehenden … selbst wenn diese Zusammenführung hinter teutschen Verwaltungsmauern entstand.

Er ließ den Satz in der Luft hängen.
„Nein, setz[...]en Sie sich bitte. Es war nur ein Scherz.

, aber manchmal schien er übermüdet.
„schien er … zu sein“ oder -vielleicht sogar besser - „erschien er übermüdet.“

So eine Art Harmonie, ach[,] ich weiß nicht.

Leos Miene konnte sie nicht entziffern. Er hatte seine Augen hinter seiner Sonne[n]brille verborgen, was ihm, zusammen mit seinem Drei-Tage-Bart[,] ein verwegenes Aussehen gab. Emma fühlte sich jung und begehrenswert. Es war wie ein Zeitsprung zurück, bevor sie Robert kennengelernt hatte. Robert. Sein Bild verblasste zusehen[d]s.
Am Rande eines Kiefe[r]n[...]wäldchens

Könnte das nicht von Leo stammen:

„Nicht mal einen einz'gen Kuß,
Nach so monatlangem Lieben!
Und so bin ich Allerärmster
Trocknen Mundes stehngeblieben.
Einmal kam das Glück mir nah -
Schon konnt ich den Atem spüren -
Doch es flog vorüber - ohne
Mir die Lippen zu berühren.

Emma, sage mir die Wahrheit:
Ward ich närrisch durch die Liebe?
Oder ist die Liebe selber
Nur die Folge meiner Narrheit?“​


Gern gelesen vom

Friedel

Ach ja, "Emma" ist eben nicht von Leo, sondern vom Heinz. Kennt Emma den? Heinz Heine, nee, stimmt gar nicht, Freunde nennen ihn Harry.

 

Hallo wieselmaus,

Romantik ist ja eigentlich nicht mein Genre (obwohl ich auch gerade eine Story begonnen habe, die in die Richtung geht, oje), aber da die Geschichte von dir ist, konnte ich nicht einfach daran vorbeiblättern. Und ich muss sagen, sie hat mich gut unterhalten. Die Protagonisten sind sympathisch, die Klischeerate hält sich in Grenzen (was ich für schwierig halte), und deine Schreibe ist ja sowieso von einer angenehm flüssigen Art.

Der Beginn war für meinen Geschmack ein bisschen langsam im Aufbau, vielleicht ein Tick zu viel Schilderung der idyllischen Umgebung am Meer. Um Stimmung aufzubauen, hätte auch etwas weniger gereicht, und ich könnte mir vorstellen, dass da unterwegs schon ein paar Leser verlorengehen.

Dafür war der Schluss sehr schön, du hast den platten One-Night-Stand vermieden und den - letztlich ja viel romantischeren - "No-Night-Stand" gewählt. Sehr passend zum Motiv der unerfüllten Liebe aus dem Minnesang.

Wie üblich ein bisschen Kleinkram, alles nichts Dramatisches:

Warum die Zeit nicht nutzen und endlich mit der Niederschrift des Romans zu beginnen?
Entweder das "zu" rausnehmen oder aus dem "und" ein "um" machen.

Sie überflog den ersten Satz: Eine gemütliche süddeutsche Universitätsstadt ist Anfang der siebziger Jahre von der 68er-Bewegung und dem Kampf gegen AKWs erfasst …
Diesen ersten Satz würde ich kursiv oder in Anführungsstriche setzen.

Buchhandlung „zum Pflasterstein“
"Zum" groß als Teil des Eigennamens.

Sie schöpfen mit der hohlen Hand eine Portion Schlamm und ließen ihn tröpfchenweise auf den Boden fallen.
schöpften

Aber ich glaube , der Regen hat aufgehört.
Ein Leerschritt zu viel vor dem Komma.

Er hatte seine Augen hinter seiner Sonnebrille verborgen, was ihm, zusammen mit seinem Drei-Tage-Bart ein verwegenes Aussehen gab.
"zusammen mit seinem Drei-Tage-Bart" entweder auf beiden Seiten oder gar nicht mit Komma abtrennen.

Am Rande eines Kiefenrwäldchens machten sie nochmals Rast.
Kiefernwäldchens

In der Nacht träumte sie von einer Möwe Emma, die stundenlang über der abfließenden Nordsee kreiste
Bekanntlich sehen ja alle Möwen aus, als ob sie Emma hießen. :D

Sie bekam keine Schwierigkeiten, nur hochgezogenen Augenbrauen und Achselzucken.
hochgezogene

Ein harmloses, aber sehr wohlfühliges Lesevergnügen!

Grüße vom Holg ...

 
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Liebe Kanji, du treue Seele!

Kaum habe ich was ins Forum gestellt, schon bist du dabei. Vielen Dank dafür. Wieder eine "Wohlfühlgeschichte", das ist viel. Was meine Protas angeht, so sind sie fast immer spröde, eher verschlossen als exhibitionistisch. Austern eben, von denen die eine oder andere ein Perle enthält, so hoffe ich wenigstens. Du hast ganz recht, ich pflege eine altmodische Form von Romantik in meinen Texten. Sie hat viel mit den zwei Königskindern zu tun, die nicht zusammenkommen können, mit Verzicht, auch mit dem Gefühl: Da, wo du nicht bist, wohnt das Glück. Die heutige Generation hat wohl einen anderen Romantik-Begriff: Immer! Sofort! Alles! Überall! Vielleicht stimmt das ja gar nicht und ich bin nur eine komische Alte:cry:
Aber ich bin gerne deine Oma, die dich tröstend in den Arm nimmt.

Wann gibt's wieder eine Geschichte von dir?
Oma wieselmaus

Hallo jobär,

Du warst noch schneller und hast Kanji überholt. Ich danke dir für dein atemloses Lesen. Du hast mich schon mal für meine leisen Töne gelobt, und so verstehe ich dich wieder. Ich wünsche mir sehr, dass meine Leser zwischen den Zeilen lesen. Es ist so meine Art zu schreiben. Und da meine Sätze zunehmend kürzer werden, kann es schon sein, dass manches, was mir sonnenklar vorkommt, verloren geht.
Danke auch für deine Korrekturvorschläge, die habe ich schon eingearbeitet.
Der Schluss mit dem Romananfang musste sein, allein schon wegen der inhaltlichen Klammer, aber auch als konsequentes Verhalten meiner "mittleren Frau".

Herzliche Grüße wieselmaus

Hallo Auhan,

Ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen. So ein uneingeschränktes Lob kriegt man nicht alle Tage. Dafür bin ich sehr dankbar, denn es bleiben ja doch immer Zweifel, ob man die Leser erreicht. Um so mehr freut es mich, dass du auch meine "Darlings", die Oho-Möve, und Freund Leo erkannt und akzeptiert hast.
Leichtigkeit des Stils ist ein von mir angestrebtes Ziel. Wenn es so ankommt, bin ich richtig froh.

Herzlichen Dank und liebe Grüße
wieselmaus

 

Hallo Chico1989,

macht ja nichts, wenn einem nicht auf Anhieb alles gefällt. Manchmal ist man einfach nicht in der Stimmung, eine Romanze zu lesen. Mein Text ist ja nicht gerade mit Action gesegnet. Und der heutige junge Mensch hat eine andere Vorstellung von Romantik. Ich habe bei Kanji einiges dazu geschrieben. Meiner ist der Romantikbegriff des 18./19.Jh., sozusagen ein entschleunigter. Insofern liegst du bestimmt nicht falsch, wenn du von Schnellebigkeit sprichst.
Aber von einem happy end wie bei Pilcher bin ich doch ein Stückchen entfernt. Vielleicht wäre es doch nicht ganz verkehrt, den Schluss auch noch zu lesen:D

Aber schön, dass du dich als Fan outest.. Alles ist gut, solange du mir keine Bengalos in die Tasten wirfst.

Liebe Grüße wieselmaus

 

Hallo Wieselmaus,

ich habe deine KG zu Ende gelesen und wurde nicht enttäuscht (vielleicht war ich am Vormittag einfach nicht in der Stimmung, man weiß es nicht). Du hast da manchmal ein paar Sätze, die ich wirklich besonders und wunderschön finde. Zum Beispiel:

Aber Emma ahnte, dass in ihrem Unterbewusstsein ein altbekanntes Monster lauerte, Angst vor
Einsamkeit. Dem würde sie sich stellen müssen. Aber nicht heute.

Das Monster kenne ich leider nur zu gut, ich mag die drei Sätze.

Zu guter Letzt verabredeten sie sich für den nächsten Tag zu einer Radtour. Leo wollte sich um passende 'Drahtesel' bemühen. Tatsächlich verwendete er diesen altmodischen Ausdruck. Vielleicht sein abgebrochenes Literaturstudium. Er wechselte öfter einmal zwischen gewählt und salopp. Emma mochte es. Sie hatte ein Faible für Stilbrüche.

Sie hatte ein Faible für Stilbrüche – genial.

Ich finde die Szene im Wald sehr romantisch. Wie sie sich überlegt, ob er die Kondome besorgt und ihre Zweifel dabei aufgrund des Altersunterschieds, puh, da hast du am Ende nochmal richtig Gas gegeben. Ich mag das auch, wenn Personen sich in unklaren oder ungewöhnlichen Beziehungen zueinander befinden, wie die beiden während ihrer gemeinsamen, regelmäßigen Ausflüge; kurz musste ich da an den Vorleser von Schlink denken (jung und alt), aber dann unterscheidet es sich wieder davon, was nur gut ist.

Beim Fichtenwäldchen fehlt ein d und an einer Stelle ist eine Leerzeile, wo keine hingehört (Mist, die finde ich jetzt nicht, irgendwo in der Nähe eines Kommas war das).

Das Ende finde ich gut – kein Happy End wie bei Rosamunde. Die nehme ich im Übrigen zurück. Das Zitat von Ton, Steine, Scherben am Ende mag ich ebenfalls, auch wenn ich nicht weiß, ob es nach der Gedichtromantik im Wald zur Protagonistin passt.

Fazit: Ich bin unentschlossen. Vielleicht müsste ich die KG nochmal lesen, an einem anderen Tag. Aber wie gesagt, die zweite Runde heute abend war ein purer Genuss.

P.S. Bengalos? Ich habe ja schon Angst bei Wunderkerzen.

Lg, chico

 

Hallo Chico,

Das finde ich ganz toll, dass du dir nochmal die Zeit genommen hast. Mir geht es übrigens auch manchmal so. Ich fange an zu lesen, bin nicht ganz bei der Sache und schreibe schnell einen Kommentar, den ich dann zurücknehmen muss (wenigstens bei mir selber).

Zum dem Schlagwort der 68er: Ganz am Anfang denkt Emma im Zug bereits an ihr Exposé. Sie hat ja schon den Klappentext geschrieben.

Edit: das Buch gibt es wirklich, ich habe es selbst geschrieben.

Gruß wieselmaus

 

Liebe wieselmaus

Mir ging es ähnlich wie dem Unglaublichen, nicht so ganz mein Genre, die Geschichte braucht etwas Zeit, bis sie in Fahrt kommt, aber insgesamt habe ich das gern gelesen, vor allem den Schluss. Ab einem gewissen Zeitpunkt war ich schon recht gespannt, wie die Sache ausgeht, und diese Spannung baust du ganz sachte auf. Und ich muss sagen, ich war mit Emma im Hotel, hatte viele Bilder, das passiert mir beim Lesen nicht allzu häufig.

Ich werde im Folgenden viele Kürzungsvorschläge machen, denn ich denke, der Text könnte v.a. zu Beginn etwas mehr Dynamik vertragen ohne dabei seine grundsätzliche Ruhe zu verlieren. Für meinen Geschmack bist du manchmal fast zu präzise, zu ausführlich. Du sagst auch ab und zu, was nicht der Fall ist – im Hotel hat es keine Balkone u.a. Mir ist auch aufgefallen, dass du logische Verknüpfungen häufig explizit machst (daher, dennoch, etc.) Ich bin nicht sicher, ob es das immer braucht.

Aber das sind nur Vorschläge, nimm, was du gebrauchen kannst.


Es war schlau von ihr, im Großraumwaggon des Intercitys einen Einzelplatz zu buchen.

Müsste das nicht ins PQP?

Da hatte sie Ellenbogenfreiheit und musste keine langweiligen und oberflächlichen Gespräche führen.

Eines von beiden genügt m.E.

Ja, die Halbinsel an der Nordsee wartete auf sie.

Welche denn? Wenn du nahe bei den Gedanken der Prota sein willst, solltest du den Namen der Insel nennen. Weil ja niemand denkt: „Ah, heute reise ich in dieses Land oben im Norden.“

Warum die Zeit nicht nutzen und endlich mit der Niederschrift des Romans zu beginnen? So lange schon nistete er in ihren Gedanken, sogar einen Klappentext hatte sie bereits formuliert.

Würde ich streichen, vielleicht sogar das „sogar“.

Sie konnte sich nicht konzentrieren, dazu war der Geräuschpegel im Waggon [war] zu hoch.

Solche erklärenden Logikpartikel können sehr oft einfach weg, der Leser stellt den Zusammenhang automatisch her.

Immer noch suchten Reisende ihre Plätze, stießen versehentlich gegen ihren Sitz oder blieben einfach im Gang stehen, ausgerechnet neben ihr.

Das versehentlich stört mich, denn es schwächt die Aussage ab (die Prota nervt sich schliesslich und sagt sich nicht: „Ach, immer diese versehentlichen Rempeleien.“) Das „einfach“ kann ebenfalls weg, denn du hast ja den Nachsatz.

Außerdem drängten jetzt unangenehme Erinnerungen an die Oberfläche.

Kann auch weg, m.E.

Die diebischen Studenten hatte sie auch ganz gut im Griff.

Sie ist ja dabei, sich innerlich zu bestärken, da passt die Relativierung nicht so ganz. Ausser du möchtest genau das zeigen – dass sie ihre eigenen Stärken relativiert.

Noch nie musste sie die Polizei einschalten.

Müsste es nicht heissen: „Noch nie hatte sie … einschalten müssen.“?

„Wir sind Geschäftsleute, keine Literaten. Vergiss das nicht. Bücher sollen andere schreiben, wir verkaufen sie. Na, meinetwegen, ich hab's kapiert. Aber zu Semesteranfang brauch ich dich, nee, keine Widerrede. Und für die Autorenlesungen im Oktober bist sowieso du zuständig, da gibt’s nichts. Dann mal gute Reise.“

Ein ziemlich langer Monolog. Bücher verkaufen, statt welche schreiben, wird doppelt gesagt, ebenso werden zwei Gründe genannt, weshalb die Prota zurückkommen soll. Das könnte evtl. knackiger sein.

Loslassen, herunterkommen, zur Ruhe kommen, wieder die innere Mitte finden.

Erscheint mir redundant.

Es hatte zuletzt eine halbe Stunde so heftig geregnet, dass sich die Abteilfenster beschlagen hatten und nichts von der Gegend zu erkennen war.

Jede Info in einem Satz nimmt den anderen Platz weg. Hier ein unwichtige den stimmungsvollen.

Robert, ihr verflossener Liebhaber, kannte diese Macke.

Das weiss der Leser schon.

Erleichtert blieb Emma auf dem Bahnsteig stehen …

Sobald der Zug stoppt, nimmt der Text Fahrt auf. :)

Er strahlte und deutete ein[e] kleine Verbeugung an.

Er machte ein[e] Pause, streckte ihr seine linke Hand hin und sagte:

Auf Balkone hatte man bei der Renovierung verzichtet, aber ein Panoramafenster gewährte eine großartige Sicht auf die Nordsee.

Würde ich weglassen (ist eine Art Nicht-Information) Ausser du möchtest die Prota damit als leicht nörglerisch charakterisieren.


Nicht dass sie als Single-Frau schlechter behandelt wurde, diese Zeiten waren in der Tourismusbranche wohl vorbei.

Hier ähnlich.

Aber sie musste dauernd selbst Entscheidungen treffen: Halbpension oder doch Vollpension, Platz am Fenster im Speisesaal, Zimmerservice, Trinkgelder. Mehr als zehnmal hatte sie bereits die Frage beantwortet, ob alles zu ihrer Zufriedenheit sei.

Ich sah da den Zusammenhang nicht. Das hat ja nichts mit Entscheidungen zu tun.

Nach einem verregneten Tag wollten wohl die meisten Urlauber noch die Sonne genießen, bevor diese von der nächsten dunkelgrauen Wolkenbank verschluckt wurde.

Ich denke, das darf man auch einfach behaupten. Word hat 9x „wohl“ als Relativierung einer Aussage gezählt. Ich denke, nicht alle sind nötig.

Emma grub ihre Füße tiefer in die die feuchte Schicht und beobachtete zwei Dreijährige, wie sie direkt am Wasser Schlammtürme bauten.

Dafür hatte sie ein anderes Rezept, ein altes Hausmittel: heiße Schokolade und ein Sahnetörtchen, am besten vor einem hübschen Café in der Einkaufsmeile, wo man die Leute studieren konnte. Dann vielleicht ein paar Bahnen im hoteleigenen Swimmingpool. Oder shoppen. Sie hatte da ein sehr schickes Top gesehen, ein dunkles Rot, das in einer Woche fabelhaft zu ihrer gebräunten Haut passen würde. Es war sündhaft teuer, gerade das Richtige, um sich zu verwöhnen.

In meiner Wahrnehmung hat diese Passage die Prota zwei, drei Sympathiepunkte gekostet. :)

Emma tanzte wahnsinnig gern, nur hatte es in den letzten Jahre[n] nicht mehr so viele Gelegenheiten gegeben.

Allerdings hatte sie schon lange nicht mehr ihren eigenen Geldbeutel herausnehmen und nach der Rechnung fragen müssen. Robert hätte das nie zugelassen. Es kam ihr vor, als ob sie sich ein Stückchen Freiheit zurückerobert hätte. Oder war es Macht? Wahrscheinlich beides.

Schön!

„Leo, Mittelmäßigkeit ist für mich etwas anderes als mittleres Sein. Damit meine ich, dass ich immer versuche, eine Balance zu finden zwischen Kopf und Bauch, zwischen müssen und wollen. So eine Art Harmonie, ach, ich weiß nicht. Es ist schwierig zu beschreiben ...

Da erklärt sich mir die Figur zu sehr.

Er hatte seine Augen hinter seiner Sonne[n]brille verborgen

„Bitte, Herrin, es tut mir so Leid.“

leid


Vor allem den Schluss habe ich gern gelesen! Kitsch umschifft, leicht sentimentale Stimmung, zugleich aber auch Aufbruchstimmung geschaffen. Schön!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
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Hallo wieselmaus,

du hast schon so Plotideen, an denen man als Leser dranbleibt. Also gleich gesagt: Ich habe sie gerne bis zum Ende gelesen.
Bei dieser Geschichte hatte ich aber Probleme mit dem Typ Leo. Also ich habe durch die Jahrzehnte schon eine Menge Männer kennengelernt, aber so ein Leo, der ist für mich nicht greifbar.

Es ist ja kein Heiratsschwindler und ich habe ihm auch abgenommen, dass er die Einladungen von Emma nicht aus Kalkül, umsonst durchzukommen, angenommen hat.
Aber diese diversen Termine, die er ihr dann so schwammig präsentiert hat, die haben meiner Meinung nach nicht in das Miteinander gepasst, die die zwei scheinbar ansonsten hatten.
Also für mich war dieser Charakter nicht rund. Ja, das war er ja auch nicht, wie es sich herausgestellt hat, aber ich konnte ihn mir nie so genau vorstellen, wie er es denn nun mit Emma gemeint hat.

Ich verstand ihre Langmut auch nicht, dass sie da mal nicht näher nachgehakt hat, was er denn so treibt, auch im Namen von mir als Leser, denn das hätte mich auch interessiert.

Vielleicht hat mir einfach noch ein Stück Genauigkeit gefehlt, was deren Beziehung ausgemacht hat. Ich habe kaum Knistern gefühlt, und wenn es Regungen gab, dann nur von Emmas Sicht aus. Leo war mir da zu fern. Also das war zwischen denen nicht Fisch, nicht Fleisch für mich.

Vielleicht ist Leo auch nur ein verschlungener Lebenskünstler, so einer, über den man eigentlich lächeln würde, würde man ihn erleben. Aber das alles ist mir nicht so richtig klar geworden, was es mit dem ominösen Leo auf sich hat. Schick ihn doch mal vorbei, dass ich mal ein paar Worte mit ihm reden kann :D.

Und dann hätte ich noch wirklich gerne gewusst, ob Emma überhaupt noch Thema für Leo hätte sein können. Emma konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen. War sie nun attraktiv, also auch für Leo eine Option, oder hat sich das Emma nur eingebildet, obwohl sie schon zu der Fast-Rentner-Fraktion gehört?


„Ich brauche Abstand, mindestens vier Wochen will ich weg, Rita, es geht nicht anders.“
Emmas Freundin und resolute Chefin der Buchhandlung „Zum Pflasterstein“ geriet so in Wallung, dass die Bernsteinkette auf ihrem mächtigen Busen auf- und abhüpfte.
„Mensch, ihr Mädels, immer dieser Ärger mit euren Lovern. Von dir hätte ich das nicht erwartet.“ Sie schnaubte und knallte den KNOE-Ordner auf den Schreibtisch. „Ich dachte, ihr hättet alles geklärt. War doch alles im grünen Bereich, oder hab ich da was verpasst?“
Emma zögerte. Sie musste diplomatisch vorgehen.
Ja, du mit deiner Vorliebe für gut betuchte Kunden, du weißt auch nicht alles. Du weißt zum Beispiel nicht, warum der Herr Professor, den du so verehrst, mir nach zehn Jahren den Laufpass gibt. Auf einmal fühlt er sich für seine Frau verantwortlich. Schwanger, plötzlich! Dabei war die doch angeblich kränklich. Mich hat er damals ohne Skrupel zu einer Abtreibung überredet, der angesehene Linguist Robert Gero Muser.
„Es geht ihm um seine Karriere, Rita. Du weißt ja, er will Dekan werden. Wahrscheinlich hat ihn seine Fakultät dazu gedrängt. Sie wollen geordnete Verhältnisse“, Emma blätterte in ihrem Terminkalender, „dass ich nicht lache. Das sind doch alles Heuchler.“ Ganz konnte sie ihren Zorn nicht unterdrücken, aber Rita sollte sie nicht unbeherrscht sehen.
Emma zweifelte nicht daran, dass die Chefin ihr den langen Urlaub bewilligen würde. Schließlich war sie seit vielen Jahren Ritas beste Kraft, belesen, wortgewandt und sehr beliebt bei der Kundschaft, vor allem beim Universitätspersonal. Die diebischen Studenten hatte sie auch ganz gut im Griff. Noch nie musste sie die Polizei einschalten. Und nicht zuletzt waren Rita und sie Freundinnen.
„Außerdem will ich meinen Roman schreiben. Ich … ich muss endlich mal etwas für mich selber tun.“
Rita verdrehte die Augen und verstärkte damit die Wirkung ihres Silberblicks. Emma erkannte darin erste Zeichen ihres Einlenkens.
„Wir sind Geschäftsleute, keine Literaten. Vergiss das nicht. Bücher sollen andere schreiben, wir verkaufen sie. Na, meinetwegen, ich hab's kapiert. Aber zu Semesteranfang brauch ich dich, nee, keine Widerrede. Und für die Autorenlesungen im Oktober bist sowieso du zuständig, da gibt’s nichts. Dann mal gute Reise.“

Den ganzen Absatz finde ich aufgesetzt. Da stimmt für mich einiges vom Fluss her nicht. Auch die Dialoge wirken zu überladen. Ich meine, wenn jemand mit dem Chef über den Urlaub spricht und dann noch einige Tage davor arbeitet, sagt der Chef doch nicht schon Wochen vorher Dann mal gute Reise

Und hier noch ein Verständnis-Problem:

Es war schlau von ihr, im Großraumwaggon des Intercitys einen Einzelplatz zu buchen.
Was soll ich mir darunter vorstellen? Niemand darf neben sie sitzen?

Wahrscheinlich liest sich das jetzt schlimmer für dich, wieselmaus, wie ich es im Gesamten sehe. Vielleicht ist es auch nur ein Problem für mich, weil ich wohl so einen Leo gleich auf den Mond geschossen hätte und somit nicht sagen kann, wie dieser Typ Mann wirkt.

Der Titel, also den finde ich ganz schräg. Was bitte soll denn eine mittlere Frau sein? Da denke ich an Polygamie und die zweite der drei Frauen, die ein Typ hat.
Also der macht mich überhaupt nicht neugierig.

Liebe Grüße
bernadette

 

Lieber Friedel, lieber Friedrichard,

es sieht so aus, als ob du meine Emma richtig gut verstanden hast. (Indikativ, weil ich fest davon überzeugt bin).
Bei der Namenswahl muss mich wohl mein Unterbewusstsein geleitet haben. Heinrich Heine, meine erste große literarische Liebe. Mit siebzehn wünschte ich mir eine Dünndruckausgabe von ihm. Sein "Denk ich an Deutschland in der Nacht, ..." jagte mir Schauer über den Rücken, die 'ironische Gebrochenheit' seiner Liebeslyrik traf mich mitten auf den Solarplexus. Davon habe ich mich nie mehr erholt. Als ich jetzt nach einem Namen für meine Protagonistin suchte, dachte ich an englische Vorbilder, stellte fest, dass 'Emma' derzeit schwer im Kommen ist. Und dann noch die Möwe Emma, Morgenstern, Holg hat mich darauf hingewiesen, war auch unbeabsichtigt.
Ein zweiter Fixstern aus dieser Zeit ist Kleist, die Marquise von O. Mein Frauenleitbild bis heute. "Die Zerbrechlichkeit der Welt" hat sie die Realität akzeptieren lassen, gegen die Gesellschaft, aber belohnt mit späterem Glück. Zwischen diesen Polen versucht Emma, ihre Mitte zu bewahren. Der 'mittlere Mensch', auch ein Leitbild, und zwar aus dem Mittelalter, vor allem im Ritterideal. Da geht es nicht nur um Minne.
Dieser Exkurs musste sein, denn es gibt schon ein paar Irritationen bei den Kriegerinnen, die mir geschrieben haben, Kanji und bernadette.

Noch an dich eine Frage: Warum hast du noch nie den niederrheinischen Wilhelm Raabe erwähnt, ich meine, der gehört doch gewissermaßen als düsterer Bruder von Gottfried Keller an deinen Stammtisch?

Aber jetzt zu den Flusen. Diesmal dachte ich, sie lägen nur auf dem Display von Emma. Das leidige Plusquammperfekt. Tief eingebrannt als eherne Regel von der Zeitenfolge, im Lateinischen ebenso wie im Deutschen. Und von vielen armen Schülern streng gefordert. Da habe ich viel rote Tinte verspritzt. Ich dachte schon, jetzt hätte ich es im Griff. Ich habe verbessert, wo ich ganz überzeugt war. Dafür hat hat Peeperkorn es teilweise wieder haben wollen. Ich werde wohl situativ vorgehen müssen.

Die Kommaregeln bei durch Konjunktionen verbundenen Hauptsätzen, auch so ein Dauerbrenner. Glücklicherweise lässt einem der Duden Spielraum. Auch da werde ich nach meinem Bauchgefühl vorgehen.

Schließlich noch die Flüchtigkeitsfehler. Wenn es nicht Tippfehler sind, entstehen sie durch Änderungen im Satzbau. Oft arbeite ich am Ipad, manchmal streiken da meine Augen. Ist natürlich keine Entschuldigung.

Ja, lieber Friedel, wir bleiben im Gespräch. Und wenn du selbst keine neuen Texte einstellst, dann kram ich eben im Archiv.

Dank und Gruß (von allem viel!)
wieselmaus

 

Lieber Glaubwürdiger, @The Ingcredible Holg,

auch Sportskanonen können Romantiker sein. Ich freue mich auf deine Geschichte.

Deine Verbesserungen habe ich eingearbeitet, vielen Dank. Der Anfang ist etwas zäh, da wollte ich von vorneherein Entschleunigung. Trotzdem werde ich etwas kürzen. Danke für den Morgenstern. Muss wohl an meinem Unterbewusstsein liegen, wo der Name Emma geschlummert hat. Ich habe dazu bei Friedrichard einiges geschrieben, also, wenn es dich interessiert ...

Ich bin froh, dass du meinen Schluss magst. Nix Rosamunde Pilcher. Da verorten mich einige Krieger, anfangs. Aber es stimmt schon, dieses Genre verführt zu Kitsch und Klischee, da gibt es laufend Fallstricke.
Meine (oft ironische) Distanz zu den Protas ist meine Waffe. Das mögen nicht alle.

Danke für dein wie immer wohlmeinendes Interesse. Es beruht ganz auf Gegenseitigkeit;)

Herzliche Grüße
wieselmaus

 
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Liebe wieselmaus,

heute morgen bin ich nach einer kleinen Pause mal wieder ins Forum gegangen und fand deine neue Geschichte. Eine ruhig dahinfließende Geschichte einer kleinen Liebes-Episode. Die Situationen, die du beschreibst, kann ich mir gut vorstellen. Dir gelingt besonders, die Umgebung, in der sich deine Protagonisten aufhalten, anschaulich zu beschreiben.

Die Vorgeschichte erschien mir allerdings etwas zu viel Raum einzunehmen. Du beschreibst die Zugfahrt und auch das Gespräch mit der Chefin sehr ausführlich. Ich habe mich gefragt, wozu dieser Teil deiner Geschichte dient. Du gibst dem Leser hier Informationen über Emma, charakterisierst sie (sie möchte allein sein, sucht keinen Gesprächspartner, ist in manchen Situationen unsicher, möchte einen Roman schreiben). Außerdem stellst du dem Leser das Motiv der Reise vor: Emma ist enttäuscht, weil der Mann, mit dem sie zehn Jahre zusammen war, sie, die für ihn sogar einer Abtreibung zugestimmt hat, getäuscht und verlassen hat.
Das alles erfahre ich auf den ersten beiden Seiten, bevor es zur eigentlichen Geschichte kommt. Ich meine, hier hättest du an manchen Stellen kürzen können. Ich weiß z.B. nicht, warum es dieser Szene mit Rita, die für den weiteren Verlauf der Handlung keine Bedeutung hat, bedurfte. Die Information, die dieser Teil des Textes enthält, ist ja eigentlich nur das, was ich hier fett gedruckt habe.

„Ich brauche Abstand, mindestens vier Wochen will ich weg, Rita, es geht nicht anders.“

Emmas Freundin und resolute Chefin der Buchhandlung „Zum Pflasterstein“ geriet so in Wallung, dass die Bernsteinkette auf ihrem mächtigen Busen auf- und abhüpfte.
„Mensch, ihr Mädels, immer dieser Ärger mit euren Lovern. Von dir hätte ich das nicht erwartet.“ Sie schnaubte und knallte den KNOE-Ordner auf den Schreibtisch. „Ich dachte, ihr hättet alles geklärt. War doch alles im grünen Bereich, oder hab ich da was verpasst?“
Emma zögerte. Sie musste diplomatisch vorgehen.
Ja, du mit deiner Vorliebe für gut betuchte Kunden, du weißt auch nicht alles. Du weißt zum Beispiel nicht, warum der Herr Professor, den du so verehrst, mir nach zehn Jahren den Laufpass gibt. Auf einmal fühlt er sich für seine Frau verantwortlich. Schwanger, plötzlich! Dabei war die doch angeblich kränklich. Mich hat er damals ohne Skrupel zu einer Abtreibung überredet, der angesehene Linguist Robert Gero Muser.
„Es geht ihm um seine Karriere, Rita. Du weißt ja, er will Dekan werden. Wahrscheinlich hat ihn seine Fakultät dazu gedrängt. Sie wollen geordnete Verhältnisse“, Emma blätterte in ihrem Terminkalender, „dass ich nicht lache. Das sind doch alles Heuchler.“ Ganz konnte sie ihren Zorn nicht unterdrücken, aber Rita sollte sie nicht unbeherrscht sehen.
Emma zweifelte nicht daran, dass die Chefin ihr den langen Urlaub bewilligen würde. Schließlich war sie seit vielen Jahren Ritas beste Kraft, belesen, wortgewandt und sehr beliebt bei der Kundschaft, vor allem beim Universitätspersonal. Die diebischen Studenten hatte sie auch ganz gut im Griff. Noch nie musste sie die Polizei einschalten. Und nicht zuletzt waren Rita und sie Freundinnen.
„Außerdem will ich meinen Roman schreiben. Ich … ich muss endlich mal etwas für mich selber tun.“
Rita verdrehte die Augen und verstärkte damit die Wirkung ihres Silberblicks. Emma erkannte darin erste Zeichen ihres Einlenkens.
„Wir sind Geschäftsleute, keine Literaten. Vergiss das nicht. Bücher sollen andere schreiben, wir verkaufen sie. Na, meinetwegen, ich hab's kapiert. Aber zu Semesteranfang brauch ich dich, nee, keine Widerrede. Und für die Autorenlesungen im Oktober bist sowieso du zuständig, da gibt’s nichts. Dann mal gute Reise.“

Natürlich enthält diese Textstelle auch einiges über Emmas Eigenart, aber das ist mMn sehr wenig und ließe sich an anderer Stelle mit einem Halbsatz ebenso gut sagen.

Was ich meine: Obwohl du sehr anschaulich schreibst, ist mir dieser Vorspann zu lang. Er hält sich an zu vielen Kleinigkeiten auf, die mit der eigentlichen Geschichte nichts zu tun haben. Ich würde hier kürzen, vielleicht sogar das ganze Gespräch mit Rita rausnehmen und hier

Außerdem drängten jetzt unangenehme Erinnerungen an die Oberfläche.
nur Gedanken über die beendete Beziehung äußern.

Aber, liebe wieselmaus, das ist natürlich deine Geschichte und ich habe nur mein Empfinden versucht auszudrücken.

Zur den Personen: Während ich mir den Leo recht gut vorstellen kann, bekomme ich kein genaues Bild von Emma. Einerseits ist sie wohl recht gewandt, wenn sie die Situationen in der Buchhandlung regelt, andererseits wirkt sie auf mich eher unsicher, wenn sie schon zehn Minuten früher an der Tür des Waggons steht. Und auch ihr Alter kann ich nur erahnen: Das kann alles sein ab dreißig. Ihr Roman-Thema suggeriert, dass sie schon wesentlich älter sein muss. Emma wird in meinem Kopf leider keine konkrete Person, es gibt Ansätze, aber die fügen sich nicht zu einem Gesamtbild zusammen. (Vielleicht muss auch ich noch einmal genauer lesen.)

Sehr gefallen hat mir dein ruhiger Erzählstil und auch, dass ich mir die Umgebung, in die die Handlung eingebettet ist, sehr gut vorstellen konnte. Es entstanden schöne Bilder in meinem Kopf.

Eine ruhige und nachvollziehbare Geschichte.

Liebe Grüße
barnhelm

 
Zuletzt bearbeitet:

Der 'mittlere Mensch', auch ein Leitbild, und zwar aus dem Mittelalter, vor allem im Ritterideal. Da geht es nicht nur um Minne.
Nicht nur im MA,

liebe wieselmaus

auch schon in der Antike - was wäre Ikarus denn anderes?

Noch an dich eine Frage: Warum hast du noch nie den niederrheinischen Wilhelm Raabe erwähnt, ich meine, der gehört doch gewissermaßen als düsterer Bruder von Gottfried Keller an deinen Stammtisch?
Ja, der arme Raabe, Bartträger wir alle, aber Niederrhein?, und Hungerpastoren - ich weißet nich'. Und dann hat er nicht bei Feuerbach studiert, wie das Kärlchen aus Trier und der Kleine aus Zürich. Vielleicht lass ich die mal zusammen am Stammtisch zu Heidelberg ... Titel hätt' ich schon: Kellers Pudel, Königspudel, der wahrscheinlich sein Alphatier um Haupteslänge überragt. Mal schauen ...

Was die Zeitenfolge angeht, ist das Deutsche viel flexibler als die Schulgrammatik glauben macht ... Wem sie allerdings eingebläut wurde - muss ja nicht mit dem Zeigestock gewesen sein, der kann ja eigentlich gar nicht anders. Und dass der Duden flexibler ist, als man denkt, weißtu ja selber.

Ja, lieber Friedel, wir bleiben im Gespräch. Und wenn du selbst keine neuen Texte einstellst, dann kram ich eben im Archiv.
Da wirstu sicherlich auf die wirklich wahre Geschichte der O stoßen,

meint der

Friedel

 

Auch wenn man nicht über die Kommentare kommentieren soll, finde ich es interessant wie hier offensichtlich Generationen unterschiedlich fühlen. Ich fand das langsame Hineingleiten in Emmas Urlaub ebenso wie die Zeitwahl der Beschreibung wesentlich wichtiger als schnelle Dynamik oder das Plusquamperfekt. Auch die Relativierung der eigenen Person war für mich ein Zeichen der Reife dieser Person - die Akzeptanz der eigenen Unvollkommenheit. Nicht gleich alles hinauszwitschern, was passiert, sondern geschehen lassen, reflektieren. Wieselmaus schrieb von der Annahme der genannten Änderungen - ich habe die Erzählung nicht noch mal gelesen, hoffe aber, dass sie das nicht gemacht hat. Für mich kann Wieselmaus Änderungen, die sie selbst vertritt gerne vornehmen - denn niemand ist fehlerfrei. Aber es sollte aus innerem eigenen Antrieb geschehen,
jm2c

 

Lieber@Peeperkorn,

vielen Dank für dein Lob. Dreimal"schön" und keinmal "don't tell" ist schon ein Fortschritt für mich.

Ich habe nicht alle Kürzungen übernommen. Emmas Beobachtungen habe ich nicht immer kursiv gesetzt, da ich hoffte, man könne auch so erkennen, dass alles aus ihrer Perspektive gesehen wird. Ich dachte an eine Art Bewusstseinsstrom, deshalb war ich nicht so streng mit Redundanzen und Füllwörtern. Sie sollten schon auch (Jogi lässt grüßen) Emmas Denke zeigen.

Bestehen muss ich auf Emmas Aussagen über sich selbst. Der "mittlere Mensch", so wie sie sich definiert, ist der zentrale Halt in ihrer derzeitigen Krise. Und eine Krise ist es ja. Es ist eben nicht nur ein Erholungsurlaub, auch wenn er scheinbar leicht daherkommt. Leo, der Filou, hat das erkannt und respektiert. Er steckt ja auch in einer Krise. Das Prädikat "harmlos" irritiert mich immer wieder, vor allem, wenn "harmlos" mit "belanglos" gleichgesetzt wird. Das hast du aber nicht.

Jetzt habe ich doch meine eigene KG interpretiert. Es ist schon interessant, wie die Generationen unterschiedlich lesen, da hat Auhan Recht. Nicht alle stürmen "atemlos durch die Nacht" in ein Liebesabenteuer.

Noch eine Anmerkung zu Emmas Einkauf. Lieber Peeperkorn, Frauen ticken so, die schlichten Gemüter ebenso wie die intellektuellen. Viele kaufen in einer Krise Schuhe, sehr viele gehen zum Friseur. Wohlfühlstrategien. Und was tun Männer?:D

Herzliche Grüße
wieselmaus

 

Liebe wieselmaus

Noch eine Anmerkung zu Emmas Einkauf. Lieber Peeperkorn, Frauen ticken so, die schlichten Gemüter ebenso wie die intellektuellen. Viele kaufen in einer Krise Schuhe, sehr viele gehen zum Friseur. Wohlfühlstrategien. Und was tun Männer?:D

Ja, da habe ich mich ungeschickt ausgedrückt, die Prota darf das gerne tun. Ich fand nur die Art, wie sie darüber nachdenkt/spricht (die fettmarkierten Wörter), zu zuckersüss.

Das Prädikat "harmlos" hab' ich übrigens gar nicht verwendet. ;)

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

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