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Eine Lektion
Gertie betrachtet ihre Fußabdrücke auf der staubigen Treppe, die zum Speicher führt. Nur wenige benutzen ihn noch zum Wäscheaufhängen, seitdem Waschmaschinen und Wäschespinnen in Haus und Garten eingezogen sind. Sie sitzt auf der obersten Stufe, die Wohnungstür mit dem Namensschild Robert Wagner im Blick, und kaut an den Fingernägeln.
„Noch so eine schlechte Angewohnheit“, hat Mama neulich gesagt, „das sieht scheußlich aus. So kannst du unmöglich zum Vorspielen. Und deine Haare könntest du auch wieder einmal schneiden lassen.“
Gertie würde gern mit dem Nägelkauen aufhören, aber es geht nicht.
„Mama, du nörgelst nur an mir herum, nichts passt dir, was ich mache. Warum lässt du deine schlechte Laune an mir aus?"
“Ich? Schlechte Laune? Das solltest du mal deinem Vater sagen. Aber das tust du natürlich nicht. Vor dem hast du Respekt.“
Respekt vor Papa? Mama hat ja keine Ahnung. Gertie hat keinen Respekt, sondern eine mordsmäßige Wut. Und davon kommt das Nägelkauen, denn sonst müsste Gertie ein Fenster einschlagen oder das Klavier demolieren. Mama macht alles kaputt und Papa lässt es geschehen. Das ist die Wahrheit.
Neulich zog die Deutschlehrerin sie während der großen Pause in eine Fensternische.
„Was ist bloß los mit dir, Gertie?“, fragte sie und putzte dabei ihre Brille. „Ich erkenne dich gar nicht mehr wieder. Du hast schon bessere Aufsätze geschrieben und deine Mitarbeit ist gleich null.“
„Ich hab' immer so Kopfweh und … Meine Eltern lassen sich scheiden.“ Sie standen ausgerechnet in der Nische, aus der vor einigen Monaten ein Mädchen hinausgesprungen war. Tot war sie nicht, aber schwer verletzt.
„O Gott, nicht schon wieder eine“, entfuhr es der Lehrerin. Schnell legte sie eine Hand auf Gerties Schulter, mit der anderen schloss sie das Fenster. „Lass uns nach dem Unterricht in Ruhe darüber reden. Um eins im Krankenzimmer, ja?“ Gertie nickte. Aber zu dem Gespräch ging sie nicht.
Von einer Scheidung ist bisher gar nicht die Rede. Vielmehr geht es um den alten Knacker im dritten Stock, dem ihre Mutter sehr viel Zeit widmet, so viel, dass sie das Einkaufen für die eigene Familie vergisst. Gertie kann inzwischen sehr gut bügeln und staubsaugen. Vater ist ohnehin derjenige, der morgens für das Frühstück sorgt und Gertie das Geld für eine Brezel oder Vanilleschnecke neben die Kaffeetasse legt.
Gertie nennt den Mann im dritten Stock 'alten Knacker'. Sie weiß gar nicht genau, wie alt er ist. Schon etwas älter als ihr Vater, zwischen fünfzig und fünfundfünfzig. Trägt seine Haare halblang und meistens eine Fliege. Ein Künstler, affig. Hat einen rosa Blumenkranz aus Porzellan an seiner Wohnungstür hängen. Sie ist dem Typ schon mehrmals im Treppenhaus begegnet. Die Fältchen um seine Augen scheinen sie jedes Mal auszulachen. Gertie grüßt ihn nicht, lieber würde sie ihm ein Bein stellen, so dass er die Treppe hinuntersegelt, und zwar bis in den Keller, wo die Mülleimer stehen. Sie hat während eines Streites der Eltern aufgeschnappt, dass Papas Rivale irgendwer Wichtiges am Stadttheater ist, Inspizient oder so. Mama singt im Extrachor des Theaters, hat viele Proben und kommt öfter erst mitten in der Nacht nach Hause. Kein Wunder, dass sie da spät aufsteht.
Es ist nun Gertie, die mit ihrem Vater abends ein paar Runden um die Häuser dreht, am Wochenende ist auch schon mal ein Elsässersalat und eine Weißweinschorle im „Hirschen“ eingeschlossen. Mit ihrem Vater kann sie über alles reden.
„Wieso lässt du dir das gefallen, Papa? Ihr unternehmt überhaupt nichts mehr gemeinsam. Mama fährt zu Premieren und du tuckerst mit deinem Moped nach Spanien.“
„Ach Gertie, wir haben nun einmal unterschiedliche Interessen.“
„Ja, schon, aber wieso ist immer der Typ von oben dabei?“
„Das verstehst du nicht, Mädchen, und das geht dich auch gar nichts an. Das ist eine Sache zwischen mir und deiner Mutter. Basta!“ Seit dem Gespräch hat Gertie diese Wut im Bauch. Sie muss etwas unternehmen, wenn es schon ihr Vater nicht tut.
Gertie sitzt nun seit einer Stunde auf der staubigen Treppe. Es ist vier Uhr nachmittags. Vater und Mutter sind beide außer Haus. Gertie will jetzt den Nachbarn zur Rede stellen. Er solle ihre Mutter in Ruhe lassen, will sie ihm sagen. Entschlossen steht sie auf, wischt sich die Hände am Kleid ab, steigt die paar Stufen hinab und drückt auf Robert Wagners Klingelknopf. Es dauert eine Minute, bis die Tür aufgeht. Der Mann im seidenen Morgenmantel mustert sie von oben bis unten.
„Und? Was willst du?“
„Lassen Sie meine Mutter in Ruhe!“ Sie ballt die Hände.
Im Hintergrund bricht eine Frau mitten in einer Koloratur ab.
„Robert, wer ist da, Robert, ist das ...?“
Gertie fährt ein heißes Schwert in den Bauch. Sie erkennt die Stimme, es ist kein Zweifel möglich. Wortlos dreht sie sich um und flieht die Treppe hinunter.