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Eine kurze Geschichte

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26.11.2011
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Eine kurze Geschichte

Déjà-vu

Wenn ich in die Verlegenheit komme, mir in einer Buchhandlung ein Buch anzusehen, lese ich immer den ersten und den letzten Satz. Die beiden müssen stimmen, mich sofort höchstpersönlich ansprechen – nur dann bekommt das Werk Gelegenheit, von mir gelesen zu werden. Das geschieht sehr selten und deshalb bin ich leider relativ unbelesen.

Seit Jahren frage ich mich, ob denn das so schwer ist, genau meinen Nerv zu treffen. So kam ich auf die Idee, mein eigenes Buch zu schreiben, das Ganze anschließend zu vergessen, um dann hocherfreut endlich und völlig zufällig Jahre später, denn ich suche schon kaum noch Buchhandlungen auf, plötzlich ein Buch zu finden, das genau mich meint – und das schon im ersten Satz.

Es ist nichts Besonderes, das ich geschrieben habe, eine kurze Geschichte, die sich nirgendwo so recht einordnen lässt. Das Büchlein wurde selbstverständlich unter einem anderen Namen als dem meinen veröffentlicht, so dass ich tatsächlich völlig ahnungslos irgendwann die erste Seite eines schmalen, in dunklem Rot gehaltenen Bändchens aufschlug, ganz eigentlich ohne viel Zeit. Doch, und so war es angedacht, schon der erste Satz nahm mich magisch gefangen:

„Hallo! Lebst Du noch?“ – Nein! Was für ein erster Satz! So was wünscht man sich, denke ich. Aber wie kann man so ein Buch beginnen? Und vor allem – wie wird es enden?

Sofort suche ich die letzte Seite. Das ist plötzlich nicht einfach, denn scheinbar endlose, sich wichtigtuende weitere Sätze trennen diesen ersten bedeutsamen Satz von seinem Pendant – dem Letzten, dem Endgültigen, dem alles Entscheidenden. Immer wieder bleibe ich irgendwo hängen. Meine Güte, denke ich, was ist das für ein Buch, in dem ganz augenscheinlich kein letzter Satz steht? Beinahe hat man das Gefühl, jeder Satz könnte der letzte sein. Nein, das kann man ja gar nicht lesen! Na gut, letzter Versuch, denke ich und lese noch mal den ersten Satz. Da steht: „Und, wie geht’s dir heute?“ Was?! Ich schaue mich im Laden um, suche instinktiv nach etwas Vertrautem, blicke wieder ins Buch, in dem nun der wunderbare erste Satz steht: „Entschuldigen Sie, kennen wir uns nicht?“ Meine Augen weiten sich. Zielstrebig gehe ich auf den in Sachen Literatur ausgebildeten Fachbereichsleiter zu. Ich versuche ein freundliches Lächeln, vermischt mit gehobener Ernsthaftigkeit zu produzieren, damit der Grad des Anspruchs für ein Gespräch von vornherein festgelegt ist, bzw. sich der Verkäufer mir gegenüber in seinem eintönigen Verkaufsberuf ein wenig gefordert sieht und überhaupt bereit ist, mit mir Kontakt aufzunehmen. Meine wichtige Miene, mein heute zum Glück vorteilhaftes, also einem Buchladenbesuch angemessenes, gepflegtes Äußeres, muss ihm sogleich bedeuten, dass sich ein einfacher Wortwechsel mit mir in jedem Falle für ihn auszahlt, schon allein deshalb, weil heute außer mir scheinbar noch niemand in dieses Geschäft gefunden hat.

Die Eröffnung schüttle ich Leichterdings aus dem Ärmel: „Einen schönen guten Tag. Ich sehe gerade, Sie sind wohl auf?“ Zwischen den Augenbrauen des Mannes brauen sich zwei Falten des Unverständnisses zusammen. Sofort weiß ich, wir sind auf einer Wellenlänge! Um nicht unnötig Zeit zu verschwenden, gehe ich gleich zum dritten ersten Satz des Buches über, das ich immer noch in Händen halte: „Entschuldigen sie, kennen wir uns nicht?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, lese ich weiter. Da steht: „Es ist jetzt 12:37 Uhr.“ Da ich keine Uhr trage, fallen mir sofort die richtigen Worte ein, um das grüblerische Gesicht des Buchladenbesitzers etwas aufzulockern. „Können sie mir vielleicht sagen, wie spät es ist?“ Der Mann schaut auf seine Uhr. „12:32 Uhr.“, sagt er knapp. „Könnte es sein, dass ihre Uhr etwas nach geht?“ Ich will ihm den Satz im Buch zeigen, doch da steht jetzt sehr deutlich: „Du solltest dich mal mit jemandem unterhalten.“ Ich überhöre die Anweisung und sehe dem Verkäufer fragend ins Gesicht: „Bitte, könnten sie mir den letzten Satz dieses Buches vorlesen?“ Der Mann nimmt das Buch, „Ja, gern.“, schlägt die letzte Seite auf und liest: „Schön, sie wieder zu sehen.“ Ich grinse, „Sehr schön, ja, finde ich auch.“ Schnell hole ich mir ein zweites Exemplar und schlage wahllos eine Seite auf: „Mann, Mann, Mann – wie lange das her ist! Dabei wollte ich mit ihnen kein Wort mehr wechseln.“ Ich fühle mich so zu Hause in der Rolle, als würde ich das alles wirklich sagen können.

„Bitte,“ sage ich, „lesen sie weiter.“
Der Verkäufer, noch etwas lustlos, wählt wenig spontan den nächsten Satz: „Hören sie! Ich habe mich immer korrekt verhalten.“
„Ja, ja.“ lache ich, mit dem Finger die Zeile entlangfahrend, „Jeder spielt seine Rolle, jeder ist nur ein Mensch. Wo kämen wir hin, wenn wir nach allen Seiten schauen wollten, was wir anrichten mit unseren Reaktionen? Erinnern sie sich? Ich schrieb Ihnen einen Brief damals.“
„Ich kann mich nicht erinnern.“, sagt der Verkäufer aus dem Stehgreif. Ich tippe auf’s Buch. Er sieht nach. „Tut mir leid, “ liest er ab „ich kann mich nicht erinnern.“
„Ich bat sie um Hilfe. Das hatten sie überhört. Ich schrieb ihnen, dass ich ihren Rat brauche. Daraufhin schrieben sie zurück, schon nach Monaten: Schön, dass es Ihnen so gut geht. Und wissen sie, was dann passierte?“
Der Verkäufer schüttelt betroffen den Kopf. Ich sehe ins Buch und beginne zu lesen, Seite um Seite. Die Geschichte kommt mir bekannt vor. Irgendjemand spricht mit irgendjemand. Ich denke nur, was wollen die voneinander. Die haben doch nicht das Geringste miteinander zu tun. Ich meine, sie verstehen sich überhaupt nicht, trotzdem reden sie.

Ich schaue den Verkäufer an und frage ohne Hilfestellung: „Können sie mir vielleicht ein Buch empfehlen?“
Er liest: „Das Buch, das sie suchen, ist eine einzige Katastrophe. Ihnen ist nicht weiterzuhelfen. Mein ganzer Laden ist voller Bücher, aber sie wollen niemanden verstehen, außer sich selbst.“ Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Was will dieser Mensch mir sagen? „Entschuldigen sie, können sie das mal übersetzen? Ich verstehe sie nicht.“
Immer noch das rote Büchlein in Händen, schlägt der Mann tapfer nach: „Was ist ihr Anliegen?“
Ich lese: „Ein kurzes ‚Hallo‘ hätte schon genügt.“
Er intoniert erstaunt: „Aber ich kenne sie doch gar nicht.“
„Kann man nicht freundlich sein, auch wenn man jemanden nicht kennt?“, gebe ich kopfschüttelnd zu bedenken.
„Verstehen sie das?“, frage ich selbstständig „Das alles ergibt überhaupt keinen Sinn. Unser ganzes Gespräch hat nicht den geringsten Zusammenhang mit irgendwas.“

Ich schlage das Buch zu. „Tut mir leid, das halte ich für keine gute Literatur. Da wird man ja wahnsinnig! Stellen sie sich vor, so ginge es im wirklichen Leben zu. Die Leute reden miteinander, aber kein Mensch versteht den anderen. Jeder ist nur bei sich zu Hause. Worte sind purer Zeitvertreib aus lauter Langeweile. Mein Gott! Wie einsam müsste da ein jeder sein!“

Der Verkäufer, immer noch lesend: „Glauben sie wirklich, ich finde alles so toll, was ich mache?“
„Hören Sie? Ich rede mit ihnen. Lesen sie gern?“
Der Mann liest: „Ab und zu meine Telefonrechnungen.“

„Naja, ich muss jetzt los. War nett, mit ihnen zu plaudern. Hier, diesen Stift hätte ich gern.“ Der Verkäufer jedoch verfängt sich auf Seite siebenunddreißig: „Legen sie endlich den Stift aus der Hand. Es ist alles gesagt.“
„Wie viel macht das?“, frage ich unbeirrt. „Ich weiß nicht wie viel ‚das‘ macht, denn ich weiß nicht, was ‚das‘ ist.“ Der arme Mann kann sich nicht losreißen. Oje, denke ich, der Autor des roten Büchleins gehört weggeschlossen. Der bringt ja alles durcheinander, stellt noch die halbe Welt auf den Kopf, wenn sich das verkauft. Mit dem muss ich dringend mal reden.

Ich nicke dem Verkäufer zu: „Also einen schönen Tag noch. Bei Gelegenheit brauche ich ein gutes Buch über die deutsche Sprache.“
„Ja, die deutsche Sprache ist immer gut.“ Na endlich sind wir einer Meinung.

Beim Rausgehen fällt mir ein hellblaues Buch auf. Ohne Umschweife lese ich den letzten Satz: „Als ich verstanden hatte, dass wir nie das sagen, was wir meinen, erst an diesem Punkt begann ich, die Sprache zu lernen, die den Erwachsenen vom Kind unterscheidet.“

„Ich hätte gern dieses Buch.“ Der Verkäufer sieht mich an, als sähe er mich zum ersten Mal. Ich tue ihm den Gefallen und verziehe keine Miene. Ich zahle und gehe raus auf die Straße. Plötzlich kenne ich jedes Wort, das in diesem Buch steht. Ich brauche es nicht mal aufzuschlagen.

Dem nächstbesten Menschen, der mir über den Weg läuft und mich anlächelt – grundlos, wünsche ich einen guten Tag, nehme ich mir vor. Ich laufe und laufe und bald wird mir klar, wie selten sowas passiert. Aber ich verliere den Mut nicht, denn seit ich das blaue Buch gefunden habe, weiß ich, dass es noch mindestens einem Menschen auf der Welt genauso geht wie mir.

 

Hallo flyout16

Wenn ich in die Verlegenheit komme, mir in einer Buchhandlung ein Buch anzusehen, lese ich immer den ersten und den letzten Satz. Die beiden müssen stimmen, mich sofort höchstpersönlich ansprechen – nur dann bekommt das Werk Gelegenheit, von mir gelesen zu werden. Das geschieht sehr selten und deshalb bin ich leider relativ unbelesen.

Wenn ich diesen Einstieg qualifiziert werten will, bleiben mir nur zwei Möglichkeiten: Du sprichst von Sachbüchern, oder – du bist ein Leseverweigerer. Nun, auch wenn dieser Absatz auf mich nicht unbedingt intelligent wirkt, macht er neugierig.

So kam ich auf die Idee, mein eigenes Buch zu schreiben, das Ganze anschließend zu vergessen,

Ich hoffe, diese künstliche Amnesie hast du patentieren lassen, wenn es wirken würde, könntest du dabei reich werden.

„Hallo! Lebst Du noch?“ – Nein! Was für ein erster Satz! Sowas wünscht man sich, denke ich. Aber wie kann man so ein Buch beginnen? Und vor allem – wie wird es enden?

So was schreibt sich getrennt. Aber da ja nicht du es geschrieben hast, der Autor trägt einen andern Namen, kann es dir gleichgültig sein.

Na gut, letzter Versuch, denke ich und lese noch mal den ersten Satz. Da steht: „Und, wie geht’s dir heute?“

Ah, irgendwie kommt mir diese Wendung bekannt vor, doch hier passt sie auch hin. Neu ist mir, der darauf folgende Dialog. Ich könnte mir vorstellen, bei Harry Potter kommt solches vor, dessen Geschichten kenne ich allerdings nicht.

Zielstrebig gehe ich auf den in Sachen Literatur ausgebildeten Fachbereichsleiter zu, versuche ein freundliches Lächeln, vermischt mit gehobener Ernsthaftigkeit zu produzieren, damit der Grad des Anspruchs für ein Gespräch von vornherein festgelegt ist, bzw. sich der Verkäufer mir gegenüber in seinem eintönigen Verkaufsberuf ein wenig gefordert sieht und überhaupt bereit ist, mit mir Kontakt aufzunehmen.

Dieser geschwollene Bandwurmsatz spricht nun aber nicht für Potter, seine geübte Autorin würde das wohl anders umsetzen.

Ich schlage das Buch zu. „Tut mir leid, das halte ich für keine gute Literatur.

Dies war nicht der letzte Satz, den ich gelesen habe, nein ich schaffte es bis zum Lächeln am Schluss. Doch hat der Satz schon etwas Besonderes, eine eigene Werkinterpretation (auch des vorliegenden Textes?) durch seinen Autor.

Die Geschichte hat Witz und Ironie, ein Schuss an Surrealismus und Irrationalität, was an sich eine spritzige Mischung ergeben kann. Doch für meine, wohlgesagt subjektiv-kritische Lesermeinung, stimmen Proportionalität und Fügungen nicht so richtig schön zueinander. Es fehlt mir der letzte Schliff, der der Geschichte einen Glanz verleiht. Von der Idee her finde ich es aber ganz nett.

Aber lass dich davon nicht unterkriegen, vielleicht kannst du mich ja mit einer überarbeiteten Version überzeugen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Anakreon,

Vielen Dank für Deine aufmunternde Kritik. Du hast sicher recht, die Sache ist noch nicht rund.
Auch lange Sätze können fließen. Oder sie sind Ausdruck eines chaotischen Inneren, das jeden beiläufigen Gedanken zulässt, so dass dem Leser in einem Atemzug alles vor die Füße gelegt wird,
was in einem einzigen winzigen Augenblick im Kopf des Erzählers geschieht.
Möglicher Weise wäre es dann aber angebracht, dass die Gedanken des Ich-Erzählers durchweg oder zumindest an weiteren Stellen in ausschweifenden langen Sätzen voller banaler Nebensächlichkeiten dargestellt werden. Da dieser „geschwollene“ Satz hier aber für sich allein steht, fällt er, das muss ich zugeben, aus dem Rahmen.
Bitte nicht den Ich-Erzähler mit dem Autor des Textes verwechseln!
Ich denke darüber nach, den Text zu überarbeiten.

Viele Grüße
flyout16

 

Die Geschichte hat Witz und Ironie, ein Schuss an Surrealismus und Irrationalität, was an sich eine spritzige Mischung ergeben kann. Doch für meine, wohlgesagt subjektiv-kritische Lesermeinung, stimmen Proportionalität und Fügungen nicht so richtig schön zueinander. Es fehlt mir der letzte Schliff, der der Geschichte einen Glanz verleiht. Von der Idee her finde ich es aber ganz nett.

Diese Kritik spricht mir aus der Seele. Ich war fasziniert, verwirrt, gut unterhalten und am lachen, aber trotzdem dachte ich am Ende: "Nein, das war's nicht wirklich"
Der Einstieg ist klasse, da muss ich meinem Vorredner widersprechen, weil er irnoisch-sarkastisch ist, so was mag ich. Nur habe ich das Gefühl, dass das Ende überhaupt nicht zum Anfang passt. Weder sprachlich, örtlich, inhaltlich noch sonst was.

 

Hallo flyout16,
hoffentlich tauchst du hier irgendwann wieder auf und liest unsere Kritiken. Wäre schön, denn dann könntest du an deiner Geschichte weiter arbeiten
:D.
Ich finde, das würde sich echt lohnen im sehr positiv gemeinten Sinn.

Den Anfang deiner Geschichte finde ich super. Eine tolle, völlig absurde Idee - mal eine ganz andere Art des Dialogs zwischen Leser und Buch. Das hat mich gleich neugierig gemacht.
Mir gefällt auch deine Art, kleine Anspielungen zu machen, auch der gesamte Dialog zwischen Buchhändler und Käufer enthält eine Menge absurder Ideen für sich.

In der Mitte irgendwann aber verliere ich persönlich den Anschluss. Das liegt zum einen daran, dass man manchmal nicht mehr ordentlich merkt, wer nun spricht.
Dem kannst du abhelfen, indem du jeden neuen Sprecher in eine neue Zeile setzt. Aber auch inhaltlich konnte ich manchmal nicht ganz verfolgen, worin der neue Sinn bestand - mag im Moment ja vielleicht auch an den frühen Morgenstunden liegen.

Zum anderen ist es so, dass die Weiterentwicklung deiner witzigen Idee für mich brüchig wird - das gilt vor allem für das Ende. Das scheint mir, wie es auch die Vorredner sagten, einfach nicht zu passen, weil es die schräge Idee nicht fortsetzt und nicht auf den Punkt bringt.
Wäre toll, wieder von dir zu hören

Viele Grüße
Novak

 

Hallo Kuse, Hallo Novak,

natürlich lese ich Eure Kritiken. Vielen Dank, dass Ihr Euch Zeit genommen habt. Besonders freue ich mich darüber, wenn ich ein Lächeln verursacht habe!
Ich habe den Text überarbeitet und versucht, Eure Anregungen, die mir im Nachhinein sehr verständlich schienen, zu beherzigen. Hier lässt sich sicher noch weiter arbeiten. Im Moment fehlt mir leider etwas Zeit.

Viele Grüße
flyout

 

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