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Eine Floßfahrt
Eine Floßfahrt
Timo und Patrick hatten es sich auf dem Floß bequem gemacht. Nach einem ausgiebigen Picknick streckten sich die beiden Jungen auf den zusammengebundenen Baumstämmen aus.
Toll, so ein Floß. In der Mitte war eine Stange befestigt, an der ein altes, weißes T-Shirt mit aufgemaltem Totenkopf im Wind leicht flatterte.
„Jetzt müsste eine Bande Piraten kommen und uns überfallen, das wäre echt cool“, murmelte Patrick vor sich hin.
Die Sonne brannte heiß auf die beiden hinunter, die immer träger und schläfriger wurden und dabei völlig vergaßen, das Floß zu steuern.
Daher bemerkten sie nicht, dass sie wie durch Geisterhand immer weiter und weiter den Fluss entlang trieben, bis sie schließlich mit einem kräftigen Ruck anhielten.
Durch die Erschütterung wachten die Jungen auf.
„Wo sind wir?“, fragte Patrick und sah sich um.
„Ich glaube, wir sind auf einer Insel gestrandet.“
„Welche Insel, Timo? In unserer Nähe gibt es keine Insel im Fluss.“
Ungläubig betrachtete Timo vor sich den Strand. Dahinter verdeckten dicht gewachsene Bäume und Büsche die Sicht.
„Das ist keine Insel. Aber irgendetwas stimmt hier nicht. Komm, schauen wir uns ein bisschen um. Vielleicht können wir herausfinden, wo wir sind."
Die beiden sprangen in das seichte Wasser und zogen das Floß an Land.
Langsam stapften sie durch den weißen Sand auf die Bäume zu.
"Guck mal, Timo, was hier liegt!"
Die Jungs steuerten auf einen großen Haufen Muschelschalen zu.
"Du, Patrick, so riesige Muscheln gibt es doch bei uns im Fluss gar nicht und auch keine Seesterne. Und hier, ist das nicht eine Kokospalme?"
"Die sieht irgendwie unecht aus, meinst du nicht?", bemerkte Timo. "Komm, wir gehen mal näher ran."
Plötzlich hörten sie ein lautes Knacken.
Erschrocken blieben die Jungen stehen.
Da, schon wieder.
Es hörte sich an, als ob sich jemand hinter den Bäumen anschleichen würde.
„Ich will nach Hause“, jammerte Patrick und klammerte sich an seinen Bruder.
„Das geht jetzt nicht“, entgegnete dieser. „Ich will wissen, was los ist. Hier ist etwas oberfaul!“
Entschlossen ging er weiter auf den Wald zu.
„Ich habe Angst, Timo. Wenn ein wildes Tier heraus gerannt kommt? Lass uns zum Floß zurückgehen.“
Wieder knackte es im Geäst, jetzt aber bedeutend näher als das letzte Mal.
„Ich will zurück“, jammerte Patrick, doch im selben Moment verstummte er. Die Büsche vor ihnen teilten sich und ein riesiger Mann kam zum Vorschein.
Er sah zum Fürchten aus. Das lange dunkle Haar war von einem blauen Tuch bedeckt, das in seinem Nacken zu einem Knoten gebunden war. Der schwarze Bart stand ihm struppig im Gesicht. Das eine Auge funkelte die Kinder an, während das andere von einer Augenklappe verdeckt war. Ein goldener Ohrring schwang an seiner rechten Seite hin und her, als er mit seinem Krummsäbel herum fuchtelte.
„Wer seid ihr, Eindringlinge?“, brüllte er und machte dabei zwei Schritte auf die Jungen zu. Tief gruben sich die schweren Stiefel unter seinem Gewicht in den Sand.
Als er keine Antwort erhielt, drehte er sich um und verschwand wieder im Dickicht.
„W… wer war das?“ Patrick sah seinen Bruder ungläubig an.
„Ich glaube, das war ein Seeräuber“, gab Timo zur Antwort.
Erneut ertönte ein fürchterliches Geschrei, die Büsche bewegten sich hektisch und im nächsten Moment sprangen mehrere Männer auf den Strand.
Wie erstarrt blieben die Jungs stehen und sperrten ihre Münder auf.
„Los, mitkommen“, rief einer laut zu ihnen herüber. Er war nicht viel größer als Timo, schob aber einen mächtigen Bauch vor sich her, der jeden Moment die Hose zum Platzen bringen konnte. Das Hemd hing ihm in Fetzen über seinen stark behaarten Oberkörper.
Auch die anderen zwei Männer sahen verwegen aus. Der eine grinste hämisch, wobei sein Gebiss erhebliche Lücken aufwies. Der Rest der Zähne bestand nur aus schwarzen, faulige Stumpen.
„So habe ich es doch gar nicht gemeint, als ich mir vorhin Piraten gewünscht hatte.“
„Wie du siehst, ist dein Wunsch in Erfüllung gegangen“, erklang eine fremde, aber freundliche Stimme.
Sie gehörte dem Dritten, der nun langsam auf sie zukam.
„Du, das ist eine Frau“, flüsterte Timo.
„Das sind doch Kinder, halbe Portionen. Da werden wir nicht von", stellte diese fest.
„Aber ihr Fleisch ist schön zart", knurrte der kleine Dicke.
„Die … die wollen uns d… doch nicht essen?“ Patrick wurde käseweiß im Gesicht.
„Das wagen die bestimmt nicht“, beruhigte ihn Timo.
„Der Kessel steht schon über dem Feuer und das Wasser kocht bereits darin. Wir brauchen euch nur hineinzustecken“, stieß der Zahnlose hervor.
"Wollt ihr hier Wurzeln schlagen? Ich habe schon eine Ewigkeit kein Fleisch mehr zwischen den Zähnen gehabt. Los, gehen wir!", befahl die Frau. Ihre schwarze, verfilzte Haarmähne ließ sie noch wilder aussehen, als sie sich hämisch lächelnd an die Kinder wandte. „Schon mal ein richtiges Piratenlager gesehen?“
„Nein, aber …“
„Na, dann kommt mit“, forderte sie die beiden Jungen auf, fasste sie grob bei den Händen und zerrte sie hinter sich her.
Kaum hatten sie sich in Bewegung gesetzt, lichteten sich die Bäume bereits und die Gruppe gelangte auf einen freien Platz. Im Zentrum befand sich eine große Feuerstelle, über der ein riesiger Wasserkessel hing. Darin blubberte es verdächtig laut.
„Das Wasser sprudelt tatsächlich“, flüsterte Patrick und drängte sich eng an seinen Bruder. „Ob sie uns wirklich kochen wollen?“
Um das Feuer hatten sich noch mehr dieser räuberischen Gestalten versammelt, einer von ihnen mit einem Holzbein, genau wie es die Jungen in ihrem Buch „Die Schatzinsel“ gelesen hatten.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes war ein provisorisches Zelt aufgebaut, unter dem eine große Kiste stand. Ihr Deckel war leicht angehoben und an den Seiten quollen goldene Ketten heraus.
„Der Piratenschatz!“, rief Timo laut.
„Lasst ja die Finger weg davon!“, befahl die junge Frau. „Ich weiß nicht, was die anderen mit euch machen, wenn etwas aus der Schatulle fehlt.“
Inzwischen näherten sich ihnen einige der anderen verwilderten Männer. Einer bleckte seine Zähne und dabei rann ihm Speichel das Kinn hinunter.
„Was für herrliches zartes Fleisch“, presste er hervor und im nächsten Moment schnappte er sich Timo, bevor dieser reagieren konnte. Auch Patrick geriet in die Fänge eines anderen Piraten.
„Nein!“, schrieen die beiden auf. „Ich will nicht gekocht werden!“ Dabei sahen sie die Piratin an, die frech grinste.
„Barbados ist der Anführer. Was er entscheidet, das wird gemacht. Ich kann euch leider nicht helfen.“ Damit kehrte sie den Jungen den Rücken zu und verschwand im Dickicht, statt ihnen beizustehen.
„Ihr habt es gehört“, brüllte der Mann, den sie Barbados genannt hatte, hob Timo hoch und hielt ihn über das dampfende Becken.
„Schluss mit dem Spektakel“, erklang eine laute Stimme aus dem Hintergrund und ein elegant gekleideter Herr trat hinter einem Felsen hervor, der ihn die ganze Zeit verdeckt hatte. „Lasst die beiden Kinder los. Sie sind gestraft genug, dafür, dass sie in unsere Filmkulisse eingedrungen sind. Ihr hattet euren Spaß. Die Pause ist zu Ende, nun wird wieder weiter gedreht. Müller und Schreiber, lasst die beiden Kinder runter und Paul, du bringst sie nach Hause.“
Sofort setzten Barbados, der in Wirklichkeit Müller hieß, und sein Schauspielkollege Timo und Patrick auf dem Boden ab. Diese waren so verdutzt, dass sie kaum ein Wort herausbrachten. Letztendlich sagte Timo: „Das glaubt uns keiner in der Schule!"
Auf dem Nachhauseweg erfuhren die beiden dann, dass seit zwei Tagen hier am Fluss ein Film über Piraten gedreht wurde, in den sie aus Versehen hineingeraten waren.
„Wäre echt cool gewesen, wenn es wirkliche Seeräuber gewesen wären“, meinte Patrick beim Abschied, der inzwischen seine Angst völlig vergessen hatte.