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Ein Waldspaziergang

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06.04.2002
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Ein Waldspaziergang

Waldemar Schleicher

EIN WALDSPAZIERGANG


"Am 17. Januar dieses Jahres stürzte eine Boeing-757 in den pazifischen Ozean. Alle 258 Insassen starben. Alle. Bis auf einen. Nach viereinhalb Wochen fischten die Retter den Postboten Harry Kunze aus dem Wasser. Lebend. Wir haben ein Exklusivinterview mit dem Überlebenden arrangiert. Was er empfand. Was geschah. Und wie es jetzt weitergehen soll - Seite 2." Im Kopf von Klaus Fritsch schwirrten schon Ideen für den Aufmacher umher: "Harry Kunze - der Überlebende packt aus" oder "Der Todesflug - was wirklich geschah". Doch das klang zu hart und primitiv für das Titelblatt einer solch großen Zeitung. Guter Aufmacher - gutes Honorar und ein fester Job, dachte der freie Mitarbeiter und angehende Jungjournalist. Verdammt gutes Honorar. Den Text für die erste Seite hatte er schon in seinen kleinen, karierten Notizblock gekritzelt. Nur noch ein Aufmacher... die Headline...
"Harry Kunze erstmals interviewt - Schock nach 3 Monaten überwunden" Das war es! Das würde jeden Penner dazu bewegen, 40 Eurocent für die Zeitung zu blechen. Klaus Fritsch hatte den Artikel. Er hatte die Headline. Nun brauchte er nur noch das Interview...
Das Taxi hielt an einem gepflegten Waldweg an. Zu beiden Seiten der Bundesstraße - Bäume. Dichte Laubbäume. Nur zur Rechten ein mit Kies bedeckter Waldweg. Ein weißes, rundes Schild mit rotem Kranz heischte Achtung.
"Hier darf ich nimme fahre! Alles zu! Geh bei Fuß weite!", sagte der Taxifahrer mit schwerem osteuropäischen Akzent.
"Zu Fuß", stieß Fritsch gleichgültig hervor und steckte einen 50-€-Schein in die vorgehaltene Hand des Fahrers.
"Stimmt so", fügte er hinzu, den Blick des Taxifahrers richtig deutend. Tatsächlich zeigte das Taxometer nur etwas bei 35 an. Fritsch sah schon Reichtum kommen, so erlaubte er sich etwas Großzügigkeit. Honorare für solche Megastories sollten ja astronomisch hoch sein, hatte er gehört.
Ohne irgendwelche besonderen Gesichtsausdrücke stieg der Reporter aus. Er öffnete den Kofferraum, zog die schwere Ledertasche heraus, und kaum hatte er den Kofferraum zugeknallt, schnurrte der Motor und das Taxi war hinter der nächsten Kurve verschwunden.
Scheißpolen, dachte Fritsch bitter. Undankbare Scheißpolen. Immer noch dem Taxi nachschauend, schleifte sich Fritsch runter von der Bundesstraße zum Waldweg. Es war 14 Uhr. Das Verbotsschild ignorierend, machte er sich auf den Weg zur Psychiatrischen Einrichtung für Schwere Traumen von Hannover. Zur PEST Hannover. Der momentanen Residenz von Harry Kunze.

Normalerweise dachte Klaus Fritsch, er würde die Natur mögen. Sie vielleicht lieben. Aber schon in der ersten Stunde seines Marsches konnte er nur noch eine Emotion für den Wald entdecken. Verachtung.
Der gepflegte Steinweg war zu einem matschigen Kiesboden geworden(der sich beim Laufen anhörte wie das Knirschen von ungeputzten Zähnen), der Vogelgesang erschien einem mörderisch monoton und die schwere Ledertasche... sie war schwer. Fritsch dachte daran, was er über die PEST wusste. Sie war eine Krankheit im Mittelalter. Haha. Scherz, nein, die PEST war gute 30 Kilometer von der nächsten Bundesstraße entfernt. Er hatte noch gute 6 Stunden Fußmarsch vor sich. Außerdem war sein Termin auf genau 21 Uhr festgelegt.

Vier Uhr. Zwei Stunden waren vergangen. Der Kies war zu sumpfartigem Schlamm gewandelt, der Fritsch um jeden Preis verschlingen wollte. Der Journalist wäre glücklicher, das Zähneknirschen zu hören als sich in diesem Dreck fortzuwälzen. Leider nichts zu machen. Die Bäume waren viel zu dicht, um auch nur ein dürres Afrikakind durchzulassen. Keine Chance, den Weg zu verlassen.

Halb fünf. Der braune Schlamm stand Fritsch schon bis zu den Knien. In dieser Stunde sang kein Vogel mehr(Gott sei dank), nur noch die Spechte klopften und hämmerten einen düsteren Takt in die Baumrinden(Gott sei verflucht). Des Journalisten Nerven stimmten bald ein in diese Melodie und pochten den Rhythmus als quälenden Kopfschmerz. Klopf. Klopf. Klopf. Klopf...

Seine Hose war bis zum Knie kackbraun vor Dreck. Es war schon fünf Uhr und in einigen Stunden würde es dunkel. Sollte er in der PEST Hannover übernachten, bei all den Irren, die ihre eigene Scheiße fressen und sich Schnürsenkel in die Nase stopfen, oder sollte er nach dem Interview die halbe Nacht zurück nach Hannover latschen, den Rest der Nacht auf dem Bahnhof schlafen und dabei für sein feines Jackett abgestochen werden? Der Gedanke an diese reiche Auswahl zauberte einen Ausdruck auf Fritschs Gesicht, der nur eines sagte: zum Kotzen.

Halb sechs. Die Tasche war wirklich schwer. Fritsch konnte jeden Knochen, jeden Muskel, jede Faser seines rechten Armes fühlen. Die Tasche war verdammt schwer. Die Schuhsohlen der sündhaft teuren Boots lösten sich schon auf, so schien es. Um sich aufzumuntern, sang er schon Wanderlieder. Doch das machte die Lage nicht besser. Ganz im Gegenteil, Fritschs Laune wurde abgrundtief schlecht und er begann, lustige Dreizeilengedichte zu erfinden.

Der Weg - blutrot,
Der Klaus ist tot,
Die Fresse liegt im Schlamm.

Die Spechte fallen
Unter Qualen
Brennend in den Dreck.

Und es hörte nicht auf.

Sechs Uhr. Schon vier Stunden war Fritsch unterwegs. Walnussgroße Blasen hatten sich auf seinen Füßen gebildet und sein rechter Arm war schon gänzlich. Es regnete. Es half nicht gerade. Auf seiner Haut schlug jeder Regentropfen wie eine schwere 20mm-Maschinengewehr-Kugel ein, Fritschs Kopfschmerzen waren in eine einzige Folterorgie ausgeartet. Und welcher Hurenbock baut eine psychiatrische Anstalt 30 Kilometer in den Scheiß-Wald?

Halb sieben. Es war kein Regen mehr. Es war ein gottverdammter Monsun. Fritsch versank im schlammigen Weg und jeder Lebenswille hatte ihn verlassen. Doch er durfte nicht aufgeben. Er MUSSTE um Punkt 21 Uhr in der PEST Hannover erscheinen. Termin. Harry Kunze war geistlich noch lange nicht wieder da, und würde Fritsch nicht kommen, würde Kunze einfach wieder in die Tiefen der PEST abgeführt. Bis Ende des Jahres keine Besuche mehr. Fritsch musste es einfach bis dahin schaffen...

Auf den Schlag sieben. Fritsch fragte sich nun, ob es das alles wert sei. Die hohen Honorare... der Job... alles nur Gerüchte... nichts handfestes... Auf einmal kam er sich selbst unglaublich verblödet vor. Wahrscheinlich hatten ein paar gehässige Kollegen sich einen Streich überlegt, ein Gerücht verbreitet, um den Ehrgeiz des nimmermüden Klaus Fritsch anzuregen. Mach 'ne Titelstory, und du kriegst einen Job, da ist jeder Artikel das Zehnfache wert. Ja, so hatte er es gehört. Genau so. Warum denn nicht, sie waren ja schon alte Hasen, sie mussten es ja wissen. Für sein blindes Vertrauen ging er nun an die Grenzen seines Körpers. Denn es war kein Regen. Es war kein Monsun. Es war die Sintflut. Scheiße. Fritsch dachte, nun mitten in einem Fluss zu stehen. Oder in einem bewegten Meer. Das Wasser floss bis zum Knie. Den Weg zu verlassen und im trockeneren Wald weiterzugehen war unmöglich, denn die Baumreihen wurden immer dichter. Seine Tasche hatte Fritsch schon aufgegeben und sie im Schlamm liegengelassen. Da war ja nur ein arschteurer Laptop und sein einziges Rasiergerät. Wenn's weiter nichts ist. Aber die zukünftigen Honorare würde die Verluste decken, ja, gar ein Reichtum würde als Gewinn herauskommen. Das klang nun sehr utopisch in seinen Ohren. Verdammt utopisch. Und wer hatte ihm versichert, dass das Interview mit diesem... diesem Kunze eine Titelstory werde? Scheiße, niemand! Für das Wort eines Niemand opferte er sich auf. Opferte sich und all sein Geld. Er hatte alles auf ein Pferd gesetzt. Er war nicht verheiratet. Hatte keine Kinder. Nur eine Zweizimmerwohnung in Dortmund und einen beschissenen Haufen von Ersparnissen. Ein guter Teil davon war jetzt draufgegangen, um einen Hinterwäldler zu beeindrucken, der wohl kaum noch einen Löffel halten konnte. Alle sagten, der Eindruck, den man auf den Gegenüber macht, ist wichtig, sehr wichtig. Verdammt wichtig. Aber doch nicht lebenswichtig! Wenn Klaus Fritsch je nach Dortmund zurückkehren würde, wovon würde er dann leben? Von Bierdeckeln? Wenn ja, wo sollte er die dann hernehmen? Es gab also nur eine Möglichkeit: Er machte das Interview um neun Uhr oder er konnte sich abhacken. Sekt oder Selters, Baby.

Halleluja,
Heut' gibt's Soja,
Und Suppe voll mit Bärenblut.
Das tut gut.

Gegen halb acht hatte Fritsch fast wieder neuen Mut gefasst. Doch ein eiskalter Fluss, der einem bis zur Gürtellinie steht und so schnell wie eine Autobahn fließt, ist nicht gerade der perfekte Ort für Courage. Außerdem blies ein Wind durch den Wald, der Berge hätte versetzen können. Und er versetzte wohl auch. Der Fluss wurde auf einmal braun, dann schwarz. Steine schwammen. Es müssten ein paar Hügel umgeweht worden sein, die sich im Wasser aufgelöst hatten. Ab und zu passierten Baumstümpfe oder Tierkadaver den entkräfteten Journalisten. Den angehenden Journalisten Klaus Fritsch. Mitte zwanzig. Er fühlte seine Beine nicht mehr, umso mehr überraschte es ihn also, dass er sich gegen den Strom fortbewegen konnte. Als eine dicke Eiche vorbeitrieb, spielte er mit dem Gedanken, sich festzuklammern und sich so zurück zur Bundesstraße tragen zu lassen. Aber das Geld... Wenn schon. Er könnte sich mit Hungerlohnjobs über Wasser halten und in der Nacht Schwarzarbeit verrichten. Aber er würde leben. Wie man's nimmt, ein Leben wäre es nicht mehr. Er würde atmen. Doch er hatte ein Ziel: Wohlstand. Eine normale, halbluxuriöse Existenz als Bürger der Mittelschicht. Die Wohnung in Dortmund verlassen. Ein Haus auf dem Land... Eine hübsche Frau, dachte Fritsch, zehn Kinder. Jedes mit sechs Armen und grünen Hasenohren. Don't worry... Be happy...
"Was gibt es heute zu essen, Mami?", sagt der kleine Tommy.
"Schnürsenkelsuppe", sagt Mama Heinz freundlich und holt einen Topf knuspriger, nahrhafter Schürsenkel in Champignonsoße vom Herd.
"Au ja, Schnürsenkel!", jubeln Maria, Anna, Heinrich und Niclas aus dem Wohnzimmer.

Fritsch war müde. Er merkte es jedoch nicht, dazu war er zu müde. Acht Uhr. Dunkelheit begann sich langsam über den Wald zu legen. Seine Beine wurden zu Beton. Sein Kopf zu einem Schlachtfeld. Die Schlacht um die Nervenbrücke. Die zwischen den Hirnlappen. Strategisch wichtig. Unentbehrlich. Auf einer Seite - Feldmarschall Folter und seine berüchtigte Kopfschmerzarmee. Auf der anderen Seite - General Adidas und das Heer des Wahnsinns, überwiegend frittierte Schnürsenkelrekruten. Von Schnürsenkeln für Schnürsenkel. Haha. Nun fragte er sich ernsthaft, ob er nicht in der PEST Hannover bleiben sollte. Eine Nacht lang. Zwei Nächte... Zwei Jahre...

Halb neun. Es war schon sehr dunkel. Alles, was Fritsch jetzt wahrnahm, war Wasser. Unten Wasser, oben Wasser, links Wasser, rechts Wasser. Ach ja, ich ertrinke, dachte Fritsch gemütlich. Was? Blitzschnell schoss Geistesgegenwart durch seinen Kopf. Ich ertrinke? Er sprang auf. Bis zu seiner Brust stand Wasser. Wasser. Wasser überall. Verwirrt war Fritsch. Dann erinnerte er sich: es regnete. Er ertrank nicht mehr, konnte atmen ohne Wasser in die Lunge zu bekommen. Gut. Nein, beschissen.
Er hatte es satt. Er hatte den Wald satt. Den Regen. Den Dreck. Sein Leben. Den Kopfschmerz. Seinen Job. Aber gegrillte Schnürsenkel am Spieß, einen halben Pfund Nike-Schnürsenkel um einen rostigen Stock wickeln, in Olivenöl tunken und drei Stunden durch...
Nur nicht den Verstand verlieren, Opa. Sei beisammen. Bist du Mann oder Memme? Memme. OK, sei aber trotzdem beisammen. Erkennst du die Wurzel deines Leidens, alter Mann? Ja, die Schnürsenkel(Fritsch griff mit der linken Hand ins Wasser und holte zwei lange, schwarze, verschimmelte Schnürsenkel heraus. Er verschlang diese, ohne zu kauen). OK, jetzt haben wir die Schnürsenkelfrage gelöst, was nun? Schmeckt etwas trocken(Fritsch warf die rechte Hand aus und erwischte eine Eichhörnchenleiche. Er hob sie hoch und schlürfte ihr mit Regen verdünntes, schmutziges Blut wie edlen Wein). Jetzt hast du getrunken, aber wer soll für das alles bezahlen? Gott. Wer irdisches... Die Kollegen. Aber die sind jetzt nicht hier. Kunze. Genau. Harry Kunze. Er wird bezahlen...
"Love me tender" summend, die Augen geweitet, das Eichhörnchenblut in den Mundwinkeln, watete Fritsch unaufhaltsam auf die PEST Hannover zu. Vorbei an einem halben Dutzend zerweichter Fuchsüberreste, vorbei an roten Dachziegeln(Gott, lass es Blut sein. Bitte, Gott, lass es ihr Blut sein). Bis er ankam. Es war neun Uhr. Eine zwei Meter hohe Betonmauer mit Stacheldraht. Der Hof war nur feucht, ja, stellenweise sogar furztrocken. Der Regen war in ein raffiniertes Abwassersystem geflossen(Warum haben die so was nicht im Wald?). Stahltor. Zwei Wachen in einem Wachhäuschen mit schusssicherem Glas. Beide bewaffnet. Bis zur Brust im Wasser, stellte sich Fritsch vor das der Glasfenster.
"Lasst mich rein", sagte Fritsch. Ehrlich gesagt war er sehr überrascht, dass er seine Zunge noch nicht verschluckt hatte. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er es einige Male versucht, und, soweit er sich erinnern konnte, war es ihm gelungen. Doch sie war da. Wie man sich doch irren kann. Scheiße
Ziemlich verwirrt schauten die Wachen den Journalisten(oder was noch von ihm übrig war) an und brachten kein Ton heraus. Fritsch, seinen Blick nicht vom Fenster wendend, ging einige Schritte zurück und ertastete mit seinen Füßen einen großen Stein. Er hob diesen aus dem Wasser(welches jetzt schon bis zu seinen Schultern reichte).
"Lasst mich rein", sagte er drohend, sich inzwischen vollkommen der Tatsache bewusst, seine Zunge nicht verspeist zu haben(Scheiße, Scheiße, Scheiße! Scheiße!). Die Wachen schmunzelten nur und zogen sich diskutierend zurück. Sie vertrauten ihrem Glas. Fritsch hob den Stein und schlug ihn mit voller Wucht gegen das Glas. Keine Wirkung. Die Wachen lachten auf. Fritsch schlug noch mal zu. Wieder nichts. Doch er gab nicht auf. Er musste da rein. Er MUSSTE. Er hob den Stein erneut. Die ganze Statur einsetzend, haute Fritsch den Stein mit einer Kraft gegen die Fensterscheibe, mit einer Kraft, die einen Lastwagen hätte bewegen können. Ein lautes Klirren. Ein mächtiger Riss bildete sich im Glas. Die Wachen sprangen auf, verteilten sich am Fenster, luden ihre Waffen. Der Linke öffnete das Fenster. Fritsch gab für sie eine tolle Zielscheibe ab.
"Lass den Stein fallen, Penner." sagte der Rechte.
"Nimm ihn dir doch!" speite Fritsch und katapultierte den kleinen Felsen durch das Fenster. Der rechte Wachmann ließ die MPi fallen und sank auf dem Boden zusammen. Sein Gesicht schaute traurig auf den Rücken. Der andere Wachmann konnte noch 5 Schuss, allesamt Volltreffer, abgeben, bevor der Irre durch das Fenster hechtete und ihm auf den Hals biss. Des Mannes Gurgel spuckte Blut(kostbar... kostbar...) wie ein Springbrunnen. Fritsch hatte die Waffe in seinen Händen. Er schlug auf den Kopf. Und er schlug erneut. Und noch mal. Und noch mal...

Als Fritsch aufhörte auf den toten Wachen einzuprügeln, war sein Kopf weich wie ein Teigkloß. Nur noch einer bis zum Glück: Harry Kunze.

Als Klaus Fritsch, ehrgeiziger und vielversprechender Jungjournalist Mitte zwanzig in der Empfangshalle ankam, hatte er schon zehn Krankenschwester und Ärzte totgebissen oder erschlagen.
Sie werden an dich denken...
Don't worry...
Mann, du hast die Titelstory! "Junger Journalist jodelt jauchzend jüdische Jubelrufe!" Hahaha. Sehr komisch. Wirklich sehr, sehr ko...
Es gibt kaum einen Menschen auf dieser Welt, der 5 Schüsse in die Lunge so lange einstecken konnte. Das Letzte, was Klaus Fritsch, sah, war ein zu Tode erschrockener, jedoch längst nicht toter Harry Kunze und zwei tote Krankenpfleger auf dem Boden. Letztere ohne Schnürsenkel. Ein Mann muss doch auch was essen.
Be happy...


2. April 2002

Waldemar Schleicher

DRIVE IN


"Es tut mir leid, für Sie habe ich keine Hamburger mehr", sagte der sommersprossenbeladene Drive-In-Verkäufer.
"Ich bin ein Kunde, und ein Kunde ist immer der König", sagte der Fette. "Und Sie haben nicht das Recht, einen Menschen nach seiner Figur zu beurteilen."
Der Sommersprössling zuckte die Achseln.
"Ich behandle Sie so, wie ich es will, Mann. Wenn mir dein Fett nicht passt, dann verkaufe ich dir eben nichts, so läuft halt das Geschäft, Alterchen!"
"Nicht mit mir, kleiner Mann!", schnaubte der Dicke.
"Kleiner Mann? Jetzt kriegst du erst recht nichts."
"Na warte, das sag ich deinem Vorgesetztem!", zischte der Fettsack. Sein Doppelkinn wackelte beim Reden. Der Drive-In-Verkäufer lachte müde.
"Viel Spaß, der ist ganz zufällig mein Onkel. Der hat noch süße Kinderfotos von mir." Der Junge machte ein scheinheiliges Gesicht. "Ach, der kleine Karl, der ist doch immer nett gewesen, nein, ich glaube nicht, dass er so was sagen würde..!"
Die Autos hinter dem blauen Opel begannen schon zu hupen.
"Geht es langsam weiter, du Speckwanst!", schrie der Hintermann aus seinem schwarzen, tiefergelegten Schlampenschlepper-BMW. Der Fette streckte seinen Glatzkopf aus dem Fenster und schrie(was eigentlich wie ein Quieken klang):
"FICK DICH! FICK DICH DOCH, DU SCHLAPPSCHWANZ!"
Der Hintermann winkte ab.
"Oh ja, das hat gesessen", er lachte kurz auf, "mir hast du's gezeigt, Veteran..."
Der Dicke wurde rot.
"Soll ich hinterkommen, Junge?"
Das Sommersprossenkerlchen beugte sich aus der Kasse und wendete sich an den Hintermann.
"Seien Sie unbesorgt, meine Herren, ich hab' diesen Lustmolch bald hier weg."
"Na hoffentlich!", stöhnte der Hintermann und zündete sich eine Zigarette an. Der Fette zog seinen Kopf zurück ins Auto und richtete seine kleinen Augen wutentbrannt auf den Verkäufer. Sein Doppelkinn zitterte.
"Hör zu, du Pfurz. Du bist tot, wenn du nicht sofort mit dem Fraß herausrückst."
Der Junge setzte ein angsterfülltes Gesicht auf und schaute wie ein scheues Hündchen aus der Kasse.
"Oh mein Gott, das Mastschwein hat mich bedroht, ich kriege ja schon Schiss, habt ihr das gehört, er hat mich bedroht!"
"Ich hatte dich gewarnt, Junge."
Der Fette öffnete die Tür und stieg aus. Der Verkäufer reagierte und fuhr mit seinem Drehstuhl einige Fuß tiefer in die Kasse rein.
"Hey, Mann, keine Hektik, bloß keine Hektik, Mann! Hamburger sind sowieso ungesund für Sie! Sie könnten etwas abnehmen, hab ich Ihnen das schon gesagt?"
Das Gesicht des fetten Opelfahrers wurde rot vor Zorn und er griff mit seinen Armen in das Drive-In-Häuschen hinein.
"So etwas angedeutet, war nicht zu überhören!" polterte er.
Der Hintermann stöhnte laut auf.
"Leute, verzieht euch in den Wald und prügelt euch dort, bis Jesus wieder Lieder singt, ich will jetzt nur noch nach Hause!"
Der Fette ruderte mit seinen Armen abermals in das Häuschen hinein und erwischte ein Bein. Der dünne Sommersprossenkerl windete sich aber rasch wieder frei.
Weiter hinten aus der Autoschlange meldete sich ein Renault-Fahrer.
"Kleiner, warum gibst du ihm einfach nicht die Scheiß-Fleischbrötchen!"
Der Hintermann nickte kurz.
"Genau, weise Worte! Und warum ziehst du eigentlich nicht ab, Fetter? Hier schmeckt das Essen ja eh wie dreimal durchgekaut und durchgeschissen!“
Der Dicke und der Sommersprössling, der sich gerade seinen Kopf aus einem bösen Schwitzkasten befreite(der Kleine befand sich halb hinter der Kasse, halb hing er nach draußen aus dem Fenster), schrieen wie aus einem Mund:
"ES GEHT UMS PRINZIP, MENSCH!"
Der Hintermann streckte sich aus dem Fenster und sprach gelassen zum Renault-Fahrer:
"Die Teile heißen Hamburger. Nicht Fleischbrötchen."
Der Fettsack zog kräftig am Hals des Verkäufers, welcher darauf aus dem Fenster flog und hart auf dem Boden aufschlug. Gott weiß, wie der das geschafft hatte, aber der Opelfahrer kletterte durch das selbe Fenster ins Drive-In-Häuschen und holte sich Hamburger, welche er letztendlich sogar kostenlos bekam. Draußen hörte man nur Entsetzensschreie und die gebieterische Stimme des korpulenten Opelfahrers aus dem Häuschen dringen. Er kam mit drei Hamburgern und einer großen Cola wieder hinaus, setzte sich in seinen blauen Opel und fuhr weg, begleitet vom Jubelrufen und einem Huporchester. Speckie, du hast es geschafft. Du hast deine dreckigen Hamburger erhalten und möge das Cholesterin, wenn welches drin ist, deine Arterien verstopfen, bis du eines Tages einfach platzt.
Dem Hintermann war der Hunger vergangen und er fuhr wieder nach Hause.
Der Renault-Fahrer mochte auch nicht mehr essen und fuhr zurück in die Gegend, wo Hamburger noch Fleischbrötchen hießen.
Der Verkäufer hatte sich einen Arm gebrochen beim Aufprall auf den Boden und konnte zwei Wochen lang nicht arbeiten. Nun, aber da sein Onkel schon lange keine süßen Kinderfotos von ihm hatte und durchaus wusste, was dem Kleinen zuzutrauen war, musste der Sommersprössling eigentlich nie wieder in besagtem Drive In arbeiten.


3. April 2002

Waldemar Schleicher

GESELLSCHAFT BESSERE ERDE


Die Tür ging auf. Sie quietschte. Der Windzug blies wieder. Sie schloss sich wieder, quietschte. Es war schon der dritte Tag, an dem diese verfluchte Tür sich öffnete und schloss, in der Zugluft flatterte. Und er konnte nichts machen. Ludger Reinhardt konnte nichts unternehmen gegen dieses grässliche Geräusch. Denn er war gefesselt, schon den dritten Tag. Mit starken Seilen an der Treppe festgemacht, konnte er nichts tun um sich zu befreien. Er war angeschossen. Der Hunger machte ihn fertig. Aller Lebenswille, all seine körperlichen Kräfte hatten ihn verlassen. Es ging aufs Sterben zu.

Erster Tag. Wie jeden Morgen erwachte Reinhardt auf seiner orangen Couch im Wohnzimmer. Sein Grundig-Fernseher hatte ihn nachts in den Schlaf dirigiert, die alte braune Decke gab die zweite Stimme. Als er erwachte, verspürte er einen bösen Muskelkater. So ein Schlaf auf der Couch war nichts sehr... na ja... gesund. Reinhardts Mund fühlte sich unendlich zäh an, und eine unvermeidliche Morgenlatte strahlte dem Tag entgegen. Der Mann gähnte, machte die Augen auf, und als er sah, dass er immer noch allein in seinem Haus war, stöhnte er auf. Seine Frau war nicht zurückgekommen. Sie war schon seit vier Jahren nicht mehr zurückgekommen, und das konnte ihr wirklich niemand verübeln. Denn Ludger Reinhardt trank. Ludger Reinhardt rauchte. Ludger Reinhardt schlug seine Frau. Er hatte zwar seit vier Jahren keine Gattin mehr, aber wenn er eine hätte, würde er sie schlagen. Und wenn er damit einmal angefangen hatte, schienen seine Kräfte nie auszugehen und so hörte er auch nicht auf. Seine Wut war grenzenlos. Die Ausdauer seiner Frau nicht. Britte verließ ihn schon nach drei Wochen der Ehe. Eine Scheidung hatte es nie gegeben. Sie war einfach gegangen und nie wieder hatte er auch nur das Geringste von ihr gehört. Er selbst malte sich schon - für ihn unerträgliche - Bilder aus, wie Britte sich auf Hawaii entspannt und ein Harem von muskelbepackten Typen ihr die Füße massiert, ihr Drinks bringt, und es ihr dann nachts so richtig besorgt. Nein. So was kann nicht gut gehen, dachte Reinhardt. Eine Frau braucht Disziplin, so ist es doch! Sie muss erzogen werden, sonst wird sie noch ganz komisch. So viel zu seiner Frau und seiner Meinung über das andere Geschlecht.
Nachdem er die Zähne geputzt und einen nach Pisse schmeckenden Kaffee getrunken hatte, lief Reinhardt noch mal ins Wohnzimmer und holte dort seinen Musterkoffer ab. Als er das Zimmer wieder verließ, schloss er die Tür. Sie quietschte und sprang nicht ins Schloss. Stattdessen wedelte sie in der Zugluft, öffnete sich, quietschte, schloss sich, schlug gegen den Rahmen, ging wieder auf, quietschte und so ging es unaufhörlich weiter. Er versuchte erneut, die Tür zuzuschlagen, doch sie wollte nicht. Da entbrannte die Wut in Ludger Reinhardts Magen. Die schier unendlichen Kräfte erwachten, er packte den Griff und zog mit einem Entsetzensschrei. Die Tür fiel krachend in den Rahmen, der erzitterte und etwas Staub abließ. Putz fiel von der Wand. Reinhardt lächelte selbstzufrieden. Nichts quietschte mehr. Er drehte nach links ab und lief die Treppe zum Ausgang hinunter.
Der Musterkoffer. Es ist schon erstaunlich, mit welch einer Arbeit ein Mann sich finanzieren kann. Ludger Reinhardt war ein Vertreter, und kein gewöhnlicher, nein, er hatte die Ehre, den seltenen Titel "Waffenvertreter" zu tragen. Ein seltener Beruf. In seinem Musterkoffer lagen Waffen. Zwar nur Gaspistolen, Schreckschusspistolen, Damenpistolen und Stromschocker, aber es waren Waffen. Einsame und schutzlose Frauen waren seine Zielgruppe. Insgeheim hoffte er eigentlich, dass jene Frauen irgendwann wehrlos überfallen und vergewaltigt würden, dabei würden sie sicherlich was lernen. Mit einer schützenden Waffe würden sie sich doch nur überlegen fühlen und sich geistig gehen lassen, und das wäre schlecht, dachte Reinhardt. Doch eben diese schützende Waffe verkaufte ihnen er. Ludger Reinhardt.
Zugegeben, seine Verkaufsmasche war etwas radikal, aber sie hatte bisher fast immer gewirkt. Reinhardt kam auf eine Frau auf der Straße zu. Wenn er nah genug dran war, sprang er auf sie, griff ihre Hand- oder Brieftasche(je nachdem was er besser erreichen konnte) und sprang wieder zurück. Dass der potenzielle Kunde dabei aufschrie, daran hatte er sich schon vor Jahren gewöhnt. Er beruhigte die arme Dame, gab ihr das Hab und Gut zurück und redete auf sie ein, dass ein Schwerverbrecher sie genauso leicht hätte ausnehmen können. Vielleicht hätte dieser sie auch vergewaltigt, wer weiß. Das würde aber nie passieren, wenn Sie eines dieser hübschen Gerätschaften kaufen, hatte er immer gesagt. Dann zeigte er die "Gerätschaften", nannte ihre Wirkung. Die Ängstlichen kauften Schreckschuss, damit sie niemanden verletzen konnten. Die Geschäftsfrauen kauften Gas, weil sie bei der Vorführung nicht schlau wurden, was das eigentlich sein soll und nicht dumm wirken wollten. Die Mutigen und die ganz Ängstlichen(die Angst hatten, der Verbrecher würde auf den Schreckschuss nicht hereinfallen) entschieden sich konsequent für die Damenpistole. Der Stromschocker war so gesehen ein Verkaufsschlager, Frauen jeden Alters, jeder Gesellschaftsklasse und jeder Gemütsverfassung nahmen ihn. Reinhardt vermutete, das hatte nichts mit dem Mut der Frauen zu tun, sondern eher mit der Lebenserfahrung oder so.
Natürlich gab es auch missglückte Verkaufsgespräche. Eines Tages fiel Reinhardt eine ehemalige Kundin an, die ihn mit einer saftigen Stromladung aus dem Schocker grillte. Er lag drei Stunden lag einfach so auf der Straße. Ein ander Mal hatte er eine Frau erwischt, die eine Waffe schon besaß. Nur war es keines der Artikel, die er anbot. Die alte Frau hatte einen .38er Revolver in ihrer Handtasche. Reinhardt kam für vier Wochen auf die Intensivstation. Der Einschuss blieb als Narbe auf der Brust.
Seine Arbeit verstieß gegen seine privaten Grundsätze. Er verkaufte denen Schutz, denen er Unheil wünschte. "Deserteur" hatte er sich manchmal selbst genannt. Bei dem Gedanken kam ihm stets ein Lächeln auf. An jenem Morgen hatte er dieses Lächeln aufgesetzt. Ich gehe jetzt desertieren, dachte er, als er das Haus verließ und den Hof betrat. Er würde wie jeden Tag seinen verdammten Job erledigen. Doch so weit kam es nicht. Nie wieder. Ein schwarzer Van war auf der Landstraße vor seinem Haus geparkt. Muss wohl die Müllabfuhr sein, scherzte Reinhardt zu sich selbst. Er lief zu seinem roten VW und setzte sich hinein. Der Wagen sprang beim ersten Versuch an. Gott schütze den Volkswagen. Im ersten Gang fuhr er aus dem Hof nach links auf die schmale Landstraße(sein Haus lag abseits der Stadt, nur die Landstraße, die Wasser- und die Stromversorgung bildeten Anschluss zur Zivilisation). Er schaltete in den zweiten Gang. Nur noch in der Innenstadt ankommen, parken, und dann gehst du Hausfrauen scheuchen, lachte Reinhardt in sich hinein. Es kam anders. Wie aus dem Koma erwachte der schwarze Van. Sein großer Kuhfänger strahlte in der Morgensonne. Der Wagen beschleunigte. Reinhardt sah das im Rückspiegel und dachte an eine von diesen Autowerbungen. Von null auf hundert in einem halben Nachmittag, so etwas war es doch. Dieser Gedankenzug erheiterte Ludger Reinhardt nicht. Im Gegenteil, er erschreckte ihn. Der Van beschleunigte auf ungeahnte Geschwindigkeiten und holte den VW fast schon ein. Angst. Hätte ich bloß keine Witze gemacht. Das schwarze Fahrzeug war nun unmittelbar hinter dem VW. Es bremste, fiel etwas ab, doch dann beschleunigte es wieder - und fuhr in den linken Blinker am Kofferraum. Reinhardt verlor die Kontrolle, sein Wagen lief nach rechts ab, doch dann gewann er die Kontrolle zurück. Der Van bremste erneut. Noch ein Schlag, doch diesmal war es härter. Der Hinterwagen schlug auf den linken Blinker, er drängte mit dem Kuhfänger den Wagen nach rechts in den Graben. Der VW zog stark zur Seite, Reinhardt hielt nach links dagegen, aber dann lief er instinktiv mit und riss das Lenkrad in die andere Richtung. Sein Auto stand für einen Augenblick quer auf der Straße, ruderte weiter nach rechts, bis der Kofferraum in die ursprüngliche Fahrtrichtung zeigte. Ich hab's geschafft! jubelte Reinhardt. Er beschleunigte wieder, um fortzufahren, doch seine Reifen rutschten am tauberieselten Gras des Straßenrandes. Der Vertreter schrie. Des Wagens Hinterteil rutschte unaufhaltsam in den Graben. Eine Erschütterung durchlief seinen Körper. Der VW stand. Die Türen des Vans gingen auf und vier Männer in schwarzen Anzügen kamen heraus. Sie sahen nicht aus wie die typischen Gorillas, sie waren eher etwas dürr. Unter dem offenen Jackett war ein weißes Hemd, locker geschnürt mit einer schwarzen Krawatte am Kragen. Bei jedem der Männer. Sie hatten alle automatische Pistolen in ihren Händen. Reinhardt machte seine Augen auf. Der Aufprall hatte ihn sie zureißen lassen. Das Erste, was er nun sah, waren drei Männer, die versuchten, die zugeklemmte Tür zu öffnen. Er stieß einen stummen Schrei aus und kroch auf den Beifahrersitz. Diese Tür klemmte ebenfalls. Er griff nach seinem Musterkoffer. Eine handliche Damenpistole zog er heraus und lud sie durch. Drohend richtete er sie auf die Männer. Sie traten einen Schritt zurück und sahen sich an. Dann blicken sie auf Reinhardt. Es schien jedoch eher, als würden sie durch ihn hindurchsehen.
Wohin starren die?
Er drehte seinen Kopf nach hinten, um das Beifahrerfenster zu sehen. In dem Moment zersprang das Glas. Zwei kräftige Hände schossen ins Auto und drückten dem Mann die Luft ab. Er ließ die Waffe fallen. Die drei Typen an der Fahrertür hoben ihre Schießeisen und eröffneten das Feuer auf das klemmende Türschloss. Funken tobten durch die Gegend. Auf einmal sprang die Tür einige Zentimeter von der Karosserie ab. Die Männer zogen sie auf und ergriffen Reinhardts Beine. Der Würger ließ los. Fortan wurde er aus dem VW geschleift. Als er aufgerichtet wurde, fragte er:
"Wer seid ihr?"
Die Männer blickten sich kurz an.
"Dein Tod, Sonnyboy."
Das Letzte, was Ludger Reinhardt vom jener Stunde noch wusste, war, dass ihm jemand einen harten Schlag auf den Hinterkopf versetzte.
Als er auf seiner Couch erwachte, blickten vier finstere, bewaffnete Männer ihn an. Er zuckte zusammen.
"Wir hatten schon Wetten abgeschlossen, wann Sie erwachen, Herr Reinhardt", sagte der Mann mit den hohen Wangenknochen.
"Und ich habe gewonnen!", kicherte der Typ mit der Halbglatze.
Der Vertreter fuhr hoch.
"Wer seid ihr?"
Der kleinste der vier stand vom Sessel auf.
"Wir sind von der GBE."
Reinhardt setzte ein verwundertes Gesicht auf. Er war viel zu müde vom Schlag, um Angst zu empfinden. Aus der hintersten Ecke des Zimmers kam ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern hervor.
"Gesellschaft BESSERE ERDE. Wir sind so etwas wie..." Der Lange suchte nach Worten. Der Typ mit der Halbglatze meldete sich.
"...wie Kammerjäger."
"Genau", stimmte der Lange zu. "Wir säubern die Welt von Ungeziefer."
"Was denn für Ungeziefer?", fragte Reinhardt.
"Arschlöcher", sagte der Kurze gelangweilt.
"Von eurem Verein hab' ich noch nie etwas gehört", spottete Ludger.
"Und wir noch nie von einem Waffenvertreter, wenn du verstehst, was ich meine", sagte der Mann mit den hohen Wangenknochen. Er streichelte seine Waffe. Reinhardt bekam es mit der Furcht. Er sammelte etwas Mut und stellte eine weitere Frage.
"Was wollt ihr mit mir machen?"
Die Männer wechselten Blicke und schauten mit einem hoffnungslosen Ausdruck auf den Vertreter. Er schwieg. Eine besondere Sprache lag in ihren Augen. Sie schienen alles gesagt zu haben.
Der Tag verging sehr träge. Reinhardt lag auf der Couch und traute sich nicht einmal zu fragen, ob er mal auf die Toilette dürfte. Die Männer erzählten sich Anekdoten aus ihrem Privatleben, gingen alte Aufträge durch - Weißt du noch, der Zuhälter vor 5 Jahren? Mann, wenn wir den nicht erledigt hätten, der hätte doch... - und inspizierten ihre Waffen. Irgendwann fühlte sich Reinhardts Blase wie eine scharfe Granate an. Er fragte, ob er pissen dürfte. Das durfte er, aber der Lange musste mit. Auf dem Klo bekam der er dann auch noch keinen einzigen Tropfen heraus. Der Lange blickte weg, da floss das Wasser des Lebens in Strömen.
Es wurde Abend. Die Männer hatten sich das Haus angesehen und zwei Mal gegessen. Als sie hochzufrieden und gutgelaunt zurück ins Wohnzimmer kamen - der Kurze und der Typ mit der Halbglatze hatten sich mit der Wache abgelöst - war Reinhardt bereit, sie auszufragen.
"Was seid ihr?"
Der Lange machte ein freudiges Gesicht.
"Bitte, darf ich das machen? Danke. Nun, die Gesellschaft BESSERE ERDE sorgt dafür, dass nicht solche Wichser wie Dealer, Zuhälter, Waffenvertreter oder Anwälte die Welt übernehmen. Wir sind so etwas wie ein längst überfälliges Ventil. Wir lassen den Druck - das Böse - raus."
"Und was habe ich damit zu tun?"
"Mann, mach die Augen auf! Du bist die Verkörperung des Sexismus, der Gewalt und der Anarchie! Du handelst mit Waffen... du hasst Frauen..." Der Lange dachte nach. "Du fährst einen VW!"
"Wer sagt, dass ich Frauen hasse?"
"Deine Frau."
Reinhardt wurde von plötzlichem Hass überrannt. Also sie hatte ihm diesen Scheiß eingebrockt!
"Doch sie hat nichts damit zu tun." setzte der Lange hinzu. Der Hass blieb, doch Reinhardt versuchte, ihn gegen die Männer zu richten. Oder vielleicht die Welt. In diesem Moment musste er etwas hassen.
"Seit wann macht ihr das schon?"
"Seit dem zweiten Weltkrieg. Glaubst du wirklich, Hitler hat von allein die Kurve gekratzt?"
"Oh..! Aber wer erlaubt euch, meinen Wagen zu verschrotten, in mein Haus einzudringen und mich festzuhalten? Seid ihr vom Staat oder so?"
"Nein. Wir sind eine freie Institution."
"Oh Mann, dann seid ihr aber auf ziemlich dünnem Eis, diese Scheiße durchzuziehen, wenn ihr nichts habt, was euch den Rücken freihält. Ich sag euch, wenn ich erst hier raus bin, dann..."
Der Kurze hob seinen Finger.
"Du wirst aus dieser Sache niemals lebend herauskommen", sagte er. Der Mann mit den hohen Wangenknochen schaltete sich ein.
"Noch niemand hat dies überlebt. Wir machen unseren Job. Und wir machen ihn gut. Wenn wir fertig sind, ist die Welt ohne Bösen und alle Menschen können friedlich miteinander leben."
Reinhardt zog eine Augenbraue hoch.
"Seid ihr etwa Kommunisten?"
Der Typ mit der Halbglatze lachte auf.
"Ich hab' gehört, Nixon hat das Selbe gesagt, als wir ihn geholt haben", kicherte er. Der Kurze fuhr fort.
"Nun ja, das werden wir eigentlich nicht erleben. Aber wir machen das Leben erträglich. Es gab mal so einen 11jährigen letztes Jahr, der hat darüber nachgedacht, Atomwaffen in Spielzeugartikel einzubauen um dann durch kleine Kinder die Welt zu zerstören. Wenn wir ihn nicht erledigt hätten, wäre die Erde morgen vielleicht nur ein Haufen Asche!"
Des Vertreters Gesicht färbte sich weiß.
"Ihr tötet Kinder... Und ihr sagt, ich wäre das Böse! Ich töte keine Kinder! Werdet ihr euch am Ende selbst umbringen, weil ihr Böses tut!?"
Der Lange zuckte die Achseln.
"Nein. Der Zweck heiligt die Mittel."
"Ich versteh euch nicht", sagte Reinhardt, "ich versteh euch wirklich nicht."
Der Typ mit der Halbglatze schaute auf seine goldene Armbanduhr. Der Zeiger stand auf 10 Uhr.
"War schön mit dir zu plaudern", sagte er, "aber wir müssen los. Ein Typ in der Schweiz hat eine Pumpgun gekauft, Gott weiß, was er damit anfängt. Die Pflicht ruft, mein Lieber."
Die Männer standen vom Sessel auf. Einen Moment lang dachte Reinhardt, er würde verschont bleiben. Doch der Kurze zog seine Pistole und richtete sie auf ihn. Ein recht leiser Schuss fiel. Leiser als der Schuss des .38er Revolvers, dachte Reinhardt. Plötzlich rissen seine Gedanken. Von seinem Bauch aus breitete sich eine Eiseskälte auf den ganzen Körper aus. Etwas zog schrecklich in der Magengegend. Die vier Männer kamen zu ihm rüber, packten ihn an den Schultern und zogen ihn zu der Treppe. Er würde sich wehren, doch er war zu schwach. Er brach in Schweiß aus, wurde müde.
Ich will schlafen.
Schlafen...

Zweiter Tag. Als Reinhardt erwachte, fühlte er sein Herz höher schlagen als je zuvor. Er war am Geländer der Treppe festgebunden. Es war eine sehr professionelle Fessel. Entkommen ausgeschlossen. Außerdem war er angeschossen. Die Wunde schaute ihn an. Sie schien ihn auszulachen. Er bemerkte mit Grauen, dass die ganze Treppe rotbraun gefärbt war von seinem trockenen Blut. Er würde verbluten. Sehr bald. Doch die Wunde schien sich vorübergehend geschlossen zu haben, kein roter Saft floss mehr. Vielleicht war er aber schon leer, dachte Reinhardt. Er lachte hysterisch auf. Ihm ging es nicht sehr gut. Sein Kopf kippte zur Seite um. Wenn er all seine Fehler bereuen und für seine Sünden um Vergebung bitten würde, vielleicht würde er dann überleben, verschont werden. Aber verdammt noch mal, das war nicht der richtige Augenblick zu bereuen! Oder vielleicht doch? Aber er wollte es nicht. Der Schlafgott Morpheus legte wieder seinen Schleier um den Vertreter...
Es war Mittag(vermutete er), als er wieder erwachte. Den Rest seines Lebens wollte er damit zubringen, zu schreien und Wanderlieder zu singen. Gab es eine Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand ihn hörte und befreite? Scheiße, nein! Er war der einzige Mensch im Umkreis von einem halben Kilometer. Er brüllte in den letzten Stunden seines Lebens laut in die Einsamkeit.

Dritter Tag. Er war sehr früh aufgewacht. Es war noch dunkel. Neue Lebensenergie durchfloss ihn, er zog und zerrte an seinen Fesseln, versuchte, sich vielleicht doch zu befreien. Trotz des Hungers und der Wunde fühlte er sich stark. Doch bald verfloss die Kraft und die Wunde platze wieder auf. Blut floss aus seinem geschwächten Leib. Es ging aufs Sterben zu. Ein kalter Windzug durchlief das Haus. Die Wohnzimmertür quietschte und klopfte ohne Unterlass. Gestern tat sie es auch, doch er hatte geschlafen. Heute hörte er sie kaum, sein Gehör erstarb letztendlich. Er sah schon Fliegen um seine Wunde kreisen und das Blut lecken. Oder waren es nur Einbildungen? Sein Körper war taub geworden, er spürte keinen Schmerz. Der Geist bereitete sich auf das Ende vor. Wenn eines sicher war, dann war es, dass der Himmel keine Seelen von solch vergammelten Körpern annahm. Nicht an jenem Tag. Reinhardt lachte auf. Er wusste nicht warum. Er lachte laut auf, in seinen Augen kam die Dunkelheit. Doch er lachte, als die letzten Tropfen Blut aus seinem Leib flossen. Er lachte einfach.
"Herr Reinhardt? Herr Reinhardt, ein Paket für Sie!", rief eine ferne Stimme. Der Vertreter riss die Augen auf, sah aber nichts.
"Es ist offen!", hörte er sich sagen, doch seine Stimmeklang fremd. Der Postbote kam die Treppe heraufgeschossen und sah den Blutteppich, der sich über die Stufen gelegt hatte. Den angeschossenen Ludger Reinhardt. Die Fliegen um das Fleisch. Beinah wäre er in Ohnmacht gefallen, aber er musste sich zusammenreißen.
"Ich hole Hilfe!", rief er letztendlich und rannte zu seinem Postwagen zurück. Kaum fünf Minuten später lag Reinhardt auf der Intensivstation im Stadtkrankenhaus. Die halbe Blutbank wurde geleert, um dem Waffenvertreter das Leben zu retten.
Ihr habt es vermasselt, dachte er. Hitler habt ihr erledigt, aber in mir habt ihr euren Meister gefunden. Die GBE... Ihr habt versagt. Die Gesellschaft BESSERE ERDE hatte versagt.

Vierter Tag. Eine hübsche Krankenschwester betrat die Intensivstation. Sie hatte eine tolle Figur und feuerrotes Haar. Mehr konnte er von seinem Bett aus nicht erkennen.
"Herr Reinhardt? Sie haben Besuch!"

Die Gesellschaft BESSERE ERDE versagte nie.


4. April 2002


Waldemar Schleicher

DRIVE BY


Der schwarze BMW stand genau am Anfang der Fußgängerzone, geparkt am EDEKA-Laden. Der Fahrer, Fabian Juther, drehte sich hinter zu Roland Timczeck, der auf dem Rücksitz saß, seine AK-103 streichelnd.
"Bist du sicher?", fragte Juther. Meuchelmörder, kam ihm in den Sinn, wir sind zwei feige Meuchelmörder. Aus der Dunkelheit greifen wir an und in die Dunkelheit verschwinden wir. Heute morgen hing ich noch fest in einem Drive In, und gleich geht es mit einem Drive By weiter. Abwechslung pur.
"Ja.", antwortete Timczeck kurz angebunden. Seine Stimme war verzerrt, als würde er versuchen, einen Weinkrampf zurückzuhalten.
Don't drink and drive.
"Er hat meine Familie zerstört...", fuhr er fort, von Dramatik getrieben.
"Meine Mutter muss jetzt jeden..." Der Satz ging in einem dicken Schluchzer unter. Timczecks Augen wurden klarer, entschlossener. Er hob den Kopf.
"Schmitt wird für alles, für alles, was er meiner Schwester angetan hat, heute. Hier und jetzt wird abgerechnet."
Es war vier Uhr nachmittags. Dr. Schmitt war um diese Uhrzeit für gewöhnlich gerade nach Hause gegangen, aber nicht, ohne vorher einen Fuß in "Kühn's Backwaren" zu setzen. Die Brötchen holte der Anwalt stets nach der Arbeit.
Und da würden sie ihn erwischen. Vor der Bäckerei würde der schwarze BMW vorbeisausen, unerkannt würde Timczeck seine Rache in das 100er-Magazin seiner AK-103 packen, abdrücken. Nur ein unkenntlicher Haufen zerschossenen, blutigen Fleisches würde auf dem Kopfsteinpflaster vor "Kühn's" liegen bleiben, wenn der schwarze BMW wieder so unerkannt verschwand. Wie er kam, so ging er. Aus der Dunkelheit zurück in die Dunkelheit. Ein perfektes Drive By.
"Kühn's Backwaren" waren etwa in der Mitte der Mühlenstraße, an deren Anfang Juthers Wagen jetzt stand. Gegenüber der Bäckerei war ein Marktplatz, an dem die Friedensgasse vorbeiführte. An der Ecke Mühlenstraße - Friedensgasse stand die Mühle, ein altes Gebäude, umfunktioniert zum Rathaus. Eine ruhige Gegend. Ab der Bäckerei, kaum zweihundert Meter weiter, war Dr. Paul Schmitts Büro. Ein unauffälliges, sauber gehaltenes Schild weiste darauf hin. Dann ging die Mühlenstraße noch gut einen Kilometer weiter, um dann in die Honeckerstraße zu münden. Die Wohnung des unglaublichen Dr. Schmitt lag auf der von der Bäckerei entferntesten Seite des Marktplatzes.
Egal wie man es nahm, Timczeck musste die Augen offen halten, wenn er seine Rache wollte. Es war nicht so, dass er blutrünstig war, nein - er wollte NUR den einen. Den Anwalt. Den Feind. Er würde zielen, treffen, und verschwinden. Seelenheil. Es war nur fair. Dr. Paul Schmitt hatte eine Familie zerstört. Roland Timczeck würde nur ihn. Damit wären sie mehr oder weniger quitt.
Fabian Juther drehte den Schlüssel im Zündschloss und die Kiste sprang an. Er schaute durch den Rückspiegel in Timczecks Augen. Er nickte. Juther fuhr los.
Kurz blickte Roland auf sein Gewehr und die fünf 30er-Ersatz-Magazine. Er lud sein Geschütz. Langsam näherte sich der Wagen, stets innerhalb der Geschwindigkeitsbeschränkungen. Timczeck ließ das Fenster hinten auf der rechten Seite des BMWs herunterfahren. Auf der Seite, auf der Dr. Schmitt die Bühne betreten würde. Auf der Seite, auf der er sie verlassen würde.
In der Ferne wurde der unverkennbare Aushang der Kühnschen Bäckerei sichtbar, ein Brätsel. Das Aushängeschild war über all die Jahre dunkelbraun geworden, was eine bittere Ironie erzeugte. Juther sah eine Gestalt in schwarzen Maßanzughosen, verhüllt durch einen beigen Echtledermantel. Juther legte einen höheren Gang ein. Beschleunigte.
Timczeck atmete tief durch. Der Lauf der Kanone lugte aus dem offenen Fenster.
Es ging los.
Kaum noch vier Wagenlängen, und der BMW würde direkt vor Schmitt stehen.
Drei.
Zwei.
Timczecks rechter Zeigefinger verkrampfte am Abzug. Nichts. Schnell entsinnte sich der Schütze und entsicherte.
Schüsse fielen. Vier. Fünf. Sieben.
Schmitt taumelte einige Schritte zurück.
Timczeck lächelte.
"Erledigt", flüsterte er und verschwand ins Innere des BMWs.
Der Anwalt richtete sich auf, zog eine kleine Beretta aus dem Ärmel. Die Hinterscheibe des Wagen zersplitterte an drei Stellen. Dr. Schmitt schrie.
"Er lebt noch", sagte Timczeck hastig, "er lebt noch, dreh bei, er lebt noch!"
"Nein!", rief Juther.
"ICH WILL MEINE RACHE!" schrie Timczeck ihn an. "ICH WILL IHN TOT SEHEN, HEUTE NOCH!"
Juther riss das Auto rum. Er beschleunigte. Timczeck ließ das Fenster auf der linken Seite herunter und beugte sich heraus. Der Anwalt feuerte. Die Kugel sauste knapp an Timczecks Ohr vorbei und schlug durch die Karosseriedecke.
Die AK-103 entließ einen Schuss. Zwei. Drei folgten. Der Anwalt fiel auf den Boden, hob seinen rechten Arm und schoss den vorderen linken Reifen auf.
"BASTARDE!", stieß Schmitt heraus, gurgelnd. Das Blut floss ihm den Rachen herab.
"Er WILL einfach nicht abtreten!", schrie Timczeck auf den Advokat, "Dreh den Wagen, Fabi, er will einfach nicht verrecken!" Timczecks Augen waren geweitet. Sehr sogar. Er sprang wieder zum rechten Fenster, als Juther den BMW drehte. Die Reifen quietschten. Schmitt stand auf. Er wechselte schnell das Magazin der Beretta.
"BASTARDE!", schrie er wieder, doch der Ton ging im Blut unter. Er spuckte einen Ballen auf die Pflastersteine und schoss. Der Beifahrersitz schluckte drei Kugeln. Die Motorhaube bekam einen hässlichen Kratzer ab.
Timczeck zielte wieder. Er feuerte Salve für Salve auf den Anwalt. Die Beretta fiel aus den zerschossenen Fingern und rutschte auf den Boden. Mit der heilen Hand fasste Schmitt sich an den Bauch. Ein Geschoss drang durch die Hand, zerfetzte die Därme.
Timczecks Augen weiteten sich. Ein Lächeln wuchs.
Drei Kugeln zerschmetterten des Anwalts Kopf. Die Glasvitrine von Kühn’s zersprang.
Der BMW fuhr weiter, an zwei Passanten.
Der Schütze ließ seinen Finger nicht vom Abzug. Er lachte auf. Die Passanten gingen unter im Kugelhagel und fielen stöhnend neben Schmitts Kadaver zu Boden.
Timczeck feuerte abermals auf die Leichen ein, die sich in einer Blutlache über das Kopfsteinpflaster ausgebreitet hatte. Dann zog weiter nach vorn und erwischte eine junge Frau. Es knallte zweimal. Sie starb.
Er riss die AK-103 weg vom rechten Fenster und rutschte zum anderen. Das Magazin war zur Hälfte geleert. Juther hatte schnell gewendet, unter quietschenden Reifen, um in die Friedensgasse zu stürmen. Auf dem Marktplatz standen drei Polizeiwagen.
Die zweite Hälfte des 100-Schuss-Magazins verpulverte Timczeck in zehn Sekunden. Er sah die Körper der Polizisten zusammensacken. Wahnsinn in den Augen. Sie waren geweitet und fast so schwarz wie die eines Hundes geworden.
"Was machst du da?", schrie Juther.
"Fahr weiter auf der Mühlenstraße!", wies ihn Timczeck zu recht. Es war nicht Timczeck. Der Mann, der auf dem Rücksitz das Gewehr neu lud, war ein mordlustiges Tier. Ein Grinsen auf den Lippen. Juther drehte erneut und bretterte mit Tempo 100 durch die Fußgängerzone.
Timczeck steckte seinen Oberkörper aus dem Fenster und zielte auf eine pummelige Frau am Straßenrand.
Sie sackte leblos zusammen.
Im Rückspiegel sah Juther gerade noch vier Polizeiwagen aufkreuzen, als Timczeck, die AK erneut durchgeladen, die hintere Scheibe in Scherben schoss und auf die Bullen ballerte. Er verfiel in einen Rausch. Den Juther nicht teilte. Er würde nun alles dafür geben, nochmal im selben BMW am Drive In festzuhocken und sich den Streit eines fetten Hungersleidenden anzuhören. Aber er war auf der Fußgängerzone. Und Timczeck schoss auf alles, was sich bewegte oder nicht.
Dutzende Schüsse, Schreie. Timczeck lachte auf. Und schoss weiter.
Aus dem Augenwinkel sah er auf der linken Seite der Straße einen Passanten, der versuchte, seine Schulterknochen durch die Schusswunde wieder ins Fleisch an den rechten Platz zu drücken. Die Knochenfragmente lugten wie Puzzleteile hinter der blutroten Hand hervor. Juther übergab sich auf seinen Schoß. Es hätte schlimmer kommen können. Ach ja, richtig, es WAR schon schlimmer gekommen, mit schlimmer hatte es angefangen - mit seinem Freund seit Schulzeiten Roland Timczeck, der gerade Menschenmassen erschoss.
Der Schütze, mit dem Oberkörper durch die hintere Scheibe geschlüpft, saß auf der Rücksitzlehne, halb im Wagen, halb außerhalb. Er drehte sich nach hinten, schoss, traf einen Fahrer der Bullen. Der Polizeiwagen drehte nach rechts ab und fuhr gegen die Wand. Zwei blutverschmierte Beamte krochen aus dem Wrack. Sie krochen auf dem Boden. Zweimal kurzes Knallen, die Kriechenden rührten sich nicht. Timczeck drehte seinen Körper, um nach vorne zielen zu können. Das Wagendach war ihm nun genau im Bauch. Ein Schuss. Eine Frau am linken Straßenrand, ein kleines Mädchen an der Hand führend, taumelte zu einer Hauswand und schmierte daran herunter. Das Mädchen begann zu weinen.
Juther hasste Timczeck. Schulfreund hin oder her, jetzt hasste er ihn. Außerdem ging ihnen die Mühlenstraße aus. Juther hatte nicht vor, weiterzufahren. Nicht mehr. Die Rache ging ZU WEIT. Es war keine Rache mehr, nicht mehr DIE Rache, die es sein sollte. Es war... Timczecks Entertainment. Er hatte Spaß am Töten.
Timczeck hatte nicht begriffen, was vor sich ging, als der schwarze BMW ruckartig bremste - und das Karosseriedach ihm am Bauch die Luft wegschnitt. Sein Oberkörper klappte vor, sein Gesicht zerschmetterte auf dem Wagendach.
Der BMW überschlug sich. Timczecks Leib, angequetscht vom Gewicht des Wagens, rührte sich nicht mehr. Er war tot.
Fabian Juthers Gesicht, angegriffen von Hunderten von Glassplittern, die ihn zerschneiden wollten. Das Dach des BMWs drückte ihm auf den Schädel. Seine Lunge entließ ein leidiges Stöhnen.
Mit einem Gefühl, als würden seine Augen aus dem Kopf treten, wenn nicht etwas passierte, gab der Rest Juthers auf. Wenn ein Mensch eine Seele besaß, wäre das der Moment, an dem sie ihn verließ.
Und er dachte an den Idioten mit den Sommersprossen, der ein Problem mit Fetten hatte. Ans Drive In. An Timczeck.
Er hatte ihn gestoppt.
Ans Drive By.
Meuchelmörder. Aus der Dunkelheit gekommen, angegriffen...
...und ins Flutlicht des Stadions verschwunden, wo Abertausende mit dem Finger auf sie zeigten.
Massenmörder.
Spaß am Töten.


5. Juni 2002

 

Moin Creeper,

sicher das du dich nicht im Genre verirrt hast? Mir kam die Geschichte eher wie eine Satire vor. Zumindestens habe ich mehr gelacht als mich gegruselt.
Ansonsten hast du sehr schön beschrieben wie er langsam den Verstand verliert und das auch sehr gut mit seinem Artikelthema verbunden. Das er sich jetzt durch das Wasser kämpft um zu überleben. Nur die Selbsterkenntnis das er verrückt ist würde ich raus lassen. Dem Leser ist das schon längst klar und Verrückte bemerken das im Allgemeinen nicht.

Was mich auch stört sind die Geldsummen im Mittelteil. Der Laptop sollte teuer und nicht 2000€ wert sein. Und seine Ersparnisse sind durch die Fahrt fast erschöpft, und nicht von 10 000€ sind noch... Das läßt dem Leser mehr Freiraum es sich noch schlimmer vorzustellen. Zumindestens bin ich ins grübeln gekommen, ob er eigentlich mit so viel Geld gar kein schlechtes Leben führt.

Klasse finde ich wie du die bekannten Werbesprüche

Von Schnürsenkeln für Schnürsenkel.
so verdreht hast, das sie einerseits lustig sind, andererseits den Wahnsinn von Klaus widerspiegeln.

Die einzige Ungereimtheit, die mir aufgefallen ist, sind die Reaktionen vom Wachpersonal. Wenn diese Psychatrie 30km abseits aller Straßen ist, wird bestimmt kein Penner zufällig vorbei kommen. Außerdem kann man Verrücken ihren geistigen "Knacks" an ihrem Blick ansehen. Und gerade Wachpersonal von einer Psychatrie sollten sich damit auskennen. Zumindestens sollten sie ihn ernst nehmen.

Aus dem Schluß hättest du noch ein Bischen mehr machen können. Was für ein Ziel verfolgt er? Sucht er noch nach Harry oder hat nur Hunger?

Alles in allem guter Einstieg bei kg.de. Herzlich wilkommen :prost:

(Das wurde mir doch auch vor nicht einmal 24h gepostet :confused: :D )

 

Erstmal muss ich mich anschließen! :prost:

Nach viereinhalb Wochen fischten die Retter am 19. Februar den Postboten Harry Kunze aus dem Wasser. Lebend.
Jo schon klar, da hätten wir dann das achte Weltwunder! :D
"Der Todesflug - was wirklich geschah"
Ich hätte mir die Zeitung mit dem Aufmacher am ehesten gekauft. Klingt viel besser als der Rest.

Am besten fand ich jeweils die Verse, besonders:

Halleluja,
Heut' gibt's Soja,
Und Suppe voll mit Bärenblut.
Das tut gut.
außerdem fand ich das mit dem Wasser echt cool. Erst steht es ihm bis zu den Knien und dann steigt es immer mehr, bis es dann zu einem Fluss wird. :D

Das Ende ist cool, erinnert mich so an Splatterfilme, die ich mal gesehen hab, bzw. Zombiefilme. Deine Geschichte hat mir jedenfalls richtig gut gefallen, den Anfang fand ich zwar nicht so spannend, aber der Rest ist klasse! :)
Kompliment!

Grüße,

Fallen Angel :rotfl:

[Beitrag editiert von: The FallenAngel am 06.04.2002 um 12:24]

 

Danke, Leute, ich hab mein Bestes getan. Und an Jack Lyric:
Du hast schon recht, aber das mit den Wachen ändere ich nicht. Den Rest habe ich berücksichtigt.

Und an Fallen Angel:
DER TODESFLUG - WAS WIRKLICH GESCHAH habe ich nicht genommen, weil es wirklich nichts damit zu tun hat, dass Kunze ein Interview gibt.

[Beitrag editiert von: Creeper am 06.04.2002 um 14:40]

 

Hi Creeper,

also ich muß ehrlich zugeben, daß mir diese Geschichte wirklich nicht gefallen hat. Als Horrorgeschichte zumindest mal gleich gar nicht. Eher noch als Satire - da könnte man sie durchgehen lassen... ;)

Zu dem, was mir nicht gefallen hat; sie ist wirklich viel zu langatmig. Ich hätte gut und gern ein paar Absätze überspringen können (beim Lesen)und es hätte gar nichts ausgemacht... ;) Und dann gefällt mir allein schon die Geschichte ansich nicht - dafür kannst Du aber nichts, muß man dazu sagen! ;)

Nevermind, Deine andere Story fand ich besser.

Gruß!
stephy

 

Hallo, Moderatoren? Das Volk will mich von hier weghaben, könntet ihr mich also in die Satire verschieben? Danke.

 

Hallo Creeper,
bitte am Besten einen der Mods (hier: Pain, Pandora, Ben Jockisch, raven) per PM oder Mail um die Verschiebung. So wirst Du am schnellsten erhört.

Und nimm die Verschiebung nicht persönlich.

Ugh

 

Hallo Bibliothekar,

Ich schick ihnen 'ne Mail. außerdem nehm' ich niemals etwas persönlich. Genausowenig wie ich mich langweile. Tu ich auch nie. Ich habe ein Gehirn, das unterhält mich köstlich.

 

So, hiermit habe ich die Geschichte noch an einigen Stellen korrigiert und sprachlich flüssiger gemacht.

Sajonara,

Creeper

 

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