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Ein Tag in Salzburg

jbk

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17.06.2003
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Ein Tag in Salzburg

„Jedes Mal, wenn die wärmenden Strahlen der frühen Sonne über die Gipfel der Berge steigen und die Stadt zu neuem Leben erwacht, breitet sich eine ganz besondere Stimmung in den Gassen und auf den zahllosen, ineinander versponnenen Plätzen. Es ist eine gemischte Stimmung, welche ich empfinde, die mit jedem neuen Morgen erwacht: einerseits ist die Vorfreude groß, wieder einmal all das Wunderschöne und Künstlerische, das ganz besondere Flair in ihr mit dem Erwachen des Tages zu erleben, andererseits befällt mich jetzt schon wieder eine Art Missmut, wenn ich an die Ströme von Touristen denke, die tagtäglich in Gruppen daherkommen, die mit Kamera und kurzen Hosen bewaffnet durch die Straßen strömen, vor den zahllosen Kirchen kurz halten, ihre Fotos knipsen, um so Erinnerungen an die Stunden in dieser Stadt digital festzuhalten. Es ist diese Konsummentalität, die in ihrem Verhalten deutlich zum Vorschein tritt: hineinkommen in die Stadt, knipsen, möglichst viel, egal was, damit man zuhause etwas zum Vorzeigen hat. Damit man auf dem Computer oder im Fotoalbum Erinnerungen konservieren, zeigen kann, man war einmal da, und dann zu glauben, man hat die Stadt wirklich erlebt. Im Fastfood- Stil von einer Sehenswürdigkeit zu anderen hasten, am besten alles an einem Tag beglotzt zu haben- ist ja egal, man hat ja im Nachhinein immer noch die Möglichkeit, alles auf sich wirken zu lassen, wenn man sich dann die Bilder betrachtet.
Für mich sind diese Touristenströme ein Sinnbild der menschlichen Mentalität: keiner nimmt sich mehr die Zeit, etwas vor Ort zu erleben, etwas auf sich wirken zu lassen. Im Akkord wird die Stadt konsumiert. Schnell muss alles gehen, viel muss man sehen- darüber hinaus verliert man genau das Eine, das wirklich Wichtige aus den Augen: sich Zeit zu nehmen, für sich und seine Umwelt.“

Stefanie schloss ihr Tagebuch. Kurz nach dem Aufstehen hatte sie sich heute Morgen hingesetzt und ihre Eindrücke der letzten Zeit aufgeschrieben. Es war Sonntag. Seit genau zwei Wochen nun lebte sie in Salzburg. Solange schon hat sie eine Anstellung an einer kleinen Schauspielbühne, die sie nach einer für sie mühekargen Prüfung angenommen hatte. Es war nicht leicht gewesen, aus Deutschland nach dem Abitur weg zu ziehen, weg von den Familie, den Freunden, um hier in der Ferne ein eigenes Leben zu führen. Als sich aber die Möglichkeit bot, hier eine durch Gelder unterstützte Schauspielausbildung anzufangen, stand ihr Entschluss fest. Die Stadt kannte sie aus früheren Fahrten mit dem Leistungskurs Deutsch hierhin. Damals schon gefiel ihr der Flair der Stadt, ihr reifer Charakter mit den alten Kirchen, den engen Gassen, den im alten und neuen Stil erbauten Brücken über die Salzach, den vielen Bühnen der Schauspielstadt, den kleinen Cafes und Bars- eben das Gesamtbild. Das alles hätte sie so vielleicht gar nicht kennen gelernt, wäre ihr damaliger Lehrer nicht ein erfahrender Stadtwanderer gewesen und hätte sie auf kleinen Pfaden und Wegen, abseits der Touristenströme, in die Geheimnisse eingeweiht, ihr Orte gezeigt, die malerisch- melodisch, ja romantisch wirkten und in die sie sich sofort verliebte. Er zeigte ihr Salzburg bei Tag und Nacht- des nachts liegt immer ein blau- goldener Schimmer über der Stadt, und wenn man einen Berg hinaufsteigt, zu einer Mauer aus altem Stein kommt, sich darauf setzt und über die Stadt blickt, die da unten mit den zwiebelkuppligen Kirchtürmen liegt, dann erfüllt dies einen mit einer magischen Stimmung.
Fast jeden Abend, seitdem sie hier lebte, hatte sie sich die Zeit genommen und sich auf den Weg zu dieser Mauer gemacht. Es war fast schon ein Ritual, denn wenn sie da oben saß, auf die Stadt blickte, reflektierte sie den Tag, kam zu Ruhe, zur Besinnung. Und gerade jetzt, im Sommer, wenn in der abendlichen, noch warmen Luft sich der Duft vom Harz der Tannen breitet, dann und wann das Gebell eines Hundes zu hören ist, fast nie eine Menschenstimme, immer auch Vogelzwitschern, sich der Himmel in diesen wunderbaren Farben zeigt: immer dann wusste sie, dass es eine gute, für ihre Seele besondere Entscheidung gewesen war, hier nach Salzburg zu ziehen.

Sie stand auf von ihrem Tisch aus Plastik, den sie von zu Hause mitgenommen hatte. Es war mit das Einzige Stück, das sie neben der Stereoanlage und etwas Geschirr mitgenommen hatte. Sie wohnte hier in einer Zwei. Zimmerwohnung, die sie mit Glück bekommen hatte. Zum Frühstück würde sie in der Stadt etwas essen. Sie ging ins Badezimmer, duschte sich, seifte ihren Körper, der etwas unterhalb dessen einzugliedern war, was man allgemein leicht pummelig nennt, machte sich ihre Haare, die mittellangen hellbraunen, putzte sich die Zähne, die strahlend weißen und ging alsbald außer Haus. Die Wohnung lag etwas außerhalb vom Zentrum, das über einen langen, von Bäumen umstandenen Weg zu erreichen war. Auf diesem Weg traf man morgens selten andere Personen außer sich selbst. Sich selbst aber konnte man jeden Morgen hier treffen, in dem man sich die von Wäldern dicht bewachsenen Berghänge hinaufschauen sah, bis zum Gipfel, der dann und wann, sogar heute, in ein schimmerndes Weiß gehüllt war. Gerade jetzt, im Herbst, war es äußerst besinnlich, diesen Weg zu gehen. Es fielen die mit dem Pinsel des Herbstes bemalten Blätter auf den Weg und raschelten immer dann, wenn Stefanie ihre Schuhe durch sie gleiten lies. Das Rascheln der auf dem Boden liegenden Blätter war ein wunderbarer Kontrast zum Fallen derselben, wie sie fand. So erlebte sie den Herbst auf zweierlei Weise: einmal passiv- geräuschvoll beim Durchschreiten der Blätter, dann auch aktiv- lautlos, wenn sie ihnen beim Fallen zusah. So manch Wunder der Natur hatte sie erst in letzter Zeit kennen und lieben gelernt. Ist denn das Leben eines Schauspielers nicht ebenso wie der Herbst: oftmals in den schönsten Farben schillernd, von Applaus bestimmt, wenn man auf der Bühne steht. Dann auch still und einsam, wie ein fallendes Blatt im Wind, wenn man seine Texte zu lernen hat, was sich durchaus lang hinziehen kann? Sie spürte es jedes Mal, wenn sie zu dieser Jahreszeit den Weg entlang ging: eine tiefe Verbundenheit zur Natur und eine tiefe Empfindung ihrer selbst.

Der Weg endete in eine kleine Straße, die man noch einen halben Kilometer entlang gehen musste, bevor man in die Innenstadt gelangte. Auf diesem Weg waren vor allem die Häuser sichtbar, die auf den Hängen rund um die Stadt, zwischen den Tannen und anderen Nadelbäumen hervor luckten. Stefanie stellte sie sich als den Innbegriff der Romantik vor: einsam inmitten des Waldes gelegen, auf einer Lichtung gebaut, in die der Mond silberschwarz seine Schatten auf den Rasen malt und geheimnisvoll, gar magisch, durch die Fenster ins Haus hinein scheint. An einem eben solchen Abend knistert ein Feuer im Kamin und wärmt die urigen Räume, die völlig mit Holz ausgekleidet sind. Eine Couchgarnitur steht unweit von der Feuerstelle, dazwischen liegt ein weißes Fell aus Wolle, auf das der Mond scheint. Den Raum erfüllt ein Duft von Orangenöl und leidenschaftlicher Liebe. Würde sie doch in einem solchem Haus wohnen, inmitten von reiner Natur, in einem Haus ganz nach dem Geschmack ihrer Fantasie, in ihrem Traumhaus. Natürlich mit demjenigen, den sie lieben würde. Doch wo sich derjenige momentan aufhält, wo sie ihn finden konnte, das wusste sie nicht. Lediglich wusste sie, wie er sich anhörte. Tief und eindringlich sollte seine Stimme sein, Worte flüstern, die sie erregten. Gut riechen würde er, eben diesen besonderen Duft zwischen Treue und absoluter Erregung versprühen. In seinen braunen Augen könnte sie versinken und alles Schöne dieser Welt darin gespiegelt sehen. Ihm von ihrem Tag erzählen können, sei er fantastisch oder fatal gewesen. In seinen Armen einschlummern und in die süßesten Träume verfallen. All das ging ihr durch den Kopf, als sie den Weg Richtung Innenstadt entlang ging.

Im Zentrum angekommen, bewegte sie sich zu einem Platz, den sie besonders in ihr Herz geschlossen hatte. Über einen alten Boden wanderten ihre Schritte, einem Boden aus festgetretenem, rostfarbenen Sand, der einen Platz so groß wie ein halbes Fußballfeld säumte. Inmitten dieses Platzes stand eine steinerne Figur, uralt. Eine Person ritt auf einem Pferd, das sich in die Höhe bäumte. Stand man im richtigen Winkel, so konnte man sehen, das eine in das Gemäuer eingemauerte, goldene Krone sich direkt über dem Mann auf dem Pferd befand. Diese Szenerie versprühte immer ein Gefühl von Erhabenheit, von Größe und von Tradition. Irgendwie berührte dieses Bild das Innere von Stefanie. Schon Mozart und Trakl, Hoffmansthal und Handke mochten dieses Bild gesehen haben, es in sich aufgenommen haben als ein besonderes dieser Stadt, als etwas Außergewöhnliches, was den meisten schnellen Blicken der Touristen verborgen blieb. Das Gemäuer, in welches die Krone eingefasst war, gehörte zum Dom, der in direkter Nähe zum Rösserbrunnen stand.
Stefanie ging in den Dom und setzte sich auf eine Bank in der Mitte. Gerade spielten zwei Orgeln ihre Lieder. Während sie den Tönen und Melodien lauschte, bemerkte sie, dass ihr Spiel zuerst recht gegensätzlich klang. Sie konnte keine Harmonie feststellen in dem Konzert; zu anders klang jeder Ton im Zusammenspiel. Doch nach einiger Zeit- sie hatte die Augen geschlossen und sich auf das Spiel konzentriert- begannen die so verschieden klingenden Spielen sich zu verbinden, eine Harmonie der Gegensätzlichkeit einzugehen, ein konträres Eigenleben zu entwickeln. Stefanie erinnerte das, als sie es erkannte, an die Situation, die in der Seele eines Genies, sei es nun ein musikalisches, poetisches oder schauspielerisches. Es erinnerte sie an den nimmer enden wollenden Kampf zwischen den Gefühlen und der Realität, zwischen der Innen- und der Außenwelt, die im ständigen Streit miteinander liegen, sich so gar nicht verstehen wollen, doch in einer wundersamen, erst auf den zweiten Blick zu erkennenden Art und Weise zusammenfinden, um dann ihre ganze Schönheit und Einzigartigkeit zu offenbaren.
Einmal so zu spielen können, sich seiner Gefühle und Äußerungen so sicher zu sein, dass man sie als scheinbar streitend, am Ende aber doch genial verbunden präsentieren zu können: das war es, worauf sie hinarbeiten wollte, was ihr Ziel war und all die Entbehrungen rechtfertigte.
Und- so merkte sie es Tag für Tag ein wenig mehr- es war ein Glück, nach Salzburg zu ziehen, in diese Stadt, wo die Bandbreite der Genialität immer wieder in den verschiedensten Formen aufblitze, sich zeigte, offen oder erst auf den zweiten Blick.

Stefanie verlies nach dem Spiel der Orgeln den Dom zu einem Bäcker, wo sie sich eine Stulle mit Salami und einen Kaffee holte. Ein ausgiebiges Frühstück war nicht drin, denn das Geld war knapp bemessen und musste gespart werden. Sie setzte sich an einem Tisch, der vor der Bäckerei stand, aß ihr Brötchen und sah den Leuten nach, die sich mittlerweile wieder wie Ameisenstraßen durch die Stadt bewegten. Neben den üblichen Einheimischen, die schnell, fast regungslos in ihrer Mimik, desinteressiert durch die Gasse gingen, waren auch solche dabei, die an jedem Geschäft hielten und in die Schaufenster blickten. Das waren solche Leute, die nicht in der Masse eines Touristenstromes durch die Gasse quollen, sondern auf eigene Faust die Stadt erkunden wollen. Stefanie mochte sie schon um einiges mehr als normale Touristen ,auch weil gerade jene Leute es waren, die zu den Aufführungen allabendlich erschienen. Sie brachten ein wenig mehr Verständnis für das Besondere der Stadt mit, gingen langsamer durch die Gassen, schauten länger in Schaufenster und auf Sehenswürdigkeiten, nahmen Kultur in den verschiedensten Formen an. Man merkte es ihnen an, dass sie wirklich interessiert waren, die Seele der Stadt zu erblicken, anstatt sie in Manier von Fastfood- Junkies zu konsumieren.
Stefanie beobachtete genau die Leute, die an ihr vorbei gingen. Besonderen Wert legte sie auf die Mimik der Menschen. War dies eine in ihrem Charakter manifestierte Verhaltensweise, ein Charakterzug eines Schauspielers, gerade auf die Mimik, auf das individuellste eines Menschen zu achten? In den Gesichtern, die während der halben Stunde, in der sie im Cafe saß, vorbeigingen, sah sie Lebensgeschichten gespiegelt. Jede Bewegung, sei sie vom Auge, vom Mund oder der Nase, entging ihrem Beobachtungstalent nicht. Schon seit langem hatte sie festgestellt, dass das Gesicht die emotionale Visitenkarte eines jeden Menschen ist: auf ihr finden sich die guten wie schlechten, freudigen wie schlimmen Ereignisse wieder. Heute war ein sonniger Tag, wenige Menschen hetzten gestresst durch die Straßen, viele gingen den Tag relaxt an. Einzig ein alter Mann, der auf dem Boden saß, kam ihr Fehl und doch genau richtig am Platz vor. Es war eine Person, die allgemein hin als Bettler bezeichnet werden würde. Lang und ungepflegt waren seine Haare, bräunlich seine Zähne. Seine Art, auf dem Boden zu sitzen, war in ihren Augen weder störend noch anstößig. Es war ein Mann, der in seinem Leben nur Pech erlebt haben mag, der nun in der Gasse sitzt und wartet, bis wieder ein Tag unter freiem Himmel sich dem Ende neigen möge. Zwischen den ganzen Hochglanzschaufenstern und Personen war er ein absoluter Kontrast. Und wenn die Gendarmerie vorbeikommen würde, sie würde ihn sofort des Platzes verweisen.
Doch warum? Bestimmt nicht, weil sich die Einheimischen um ihn die Nase rümpfen würden. Er war auf seine Art einer von ihnen. Es waren die Touristen, die sich über solche Gestalten beschwerten, die sie nicht angemessen fanden in einer Stadt, die so von Kultur und Schönheit strotzt. Insofern fand sie es genau richtig, dass der Bettler dort saß und zeigte, dass er ebenso zum Bild der Stadt gehörte wie alles andere. Er ergänzte es auf seine Weise.
Sie stand auf, nachdem sie aufgegessen und ausgetrunken hatte. Zwanzig Cent waren von den vier Euro für das Frühstück noch übrig geblieben. Sie ging zu dem alten Mann, der müde dasaß und legte sie in eine kleine, blecherne Dose. Er sah zu ihr auf, in seinen kleinen, hellgrünen Augen blitze ein Funkeln auf. Sie blickte ihn für zeitlose Sekunden an, er hielt ihrem Blick stand. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen und Wangen, dann machte sie sich auf den Weg zur Salz- Burg, die hoch über der Stadt auf einem Berg lag, den man über steinerne Stufen besteigen konnte.

Auf dem Weg nach oben kamen ihr drei Mönche in ihrer Kuttentracht entgegen. Sie waren schon alt und ihre Bärte waren weiß. Die Mönche gehörten zum Bild der Stadt wie all die Kirchen und Kloster das Stadtbild prägten. In ihrer ruhigen, ausdauernden, von Glauben bestimmten Art waren sie Stefanie sympathisch. Sie hatten ihr Leben Gott gegeben, sich in seinen Dienst gestellt, wissend, dass sie die richtige Entscheidung für sich getroffen hatten. Sie mögen wohl entgegen der Meinung ihrer Eltern und Freunde sich für ein solches Leben entschieden und jeden Tag, sei er auch noch so schwer, daran festgehalten haben.
„Hallo Brüder“ sagte sie, als die Mönche gerade vor ihr standen. „Ein schöner Tag, den Berg zu besteigen“.
„Hallo mein Kind, gesegnet seiest du.“ kam als Antwort. „Wahrlich, der Herr hat uns wieder einmal einen Tag voller schöner Momente beschert.“
„Waren sie oben auf der Burg“, wollte Stefanie wissen.
„Ja, wir besteigen jeden Morgen den Berg, bevor wir unsere Gebete sprechen. Das bringt uns näher zu Gott, und nebenbei, es hält uns bei Kräften.“, sagte einer der drei.
„Ist dort oben so wenig los, wie ich vermute?“
„Ja, mein Kind. Noch sind nur wenige Menschen da oben, denen der Blick auf die Stadt an einem solchen Morgen gewährt ist.“
„Das ist schön. Danke.“
„Gern geschehen, Gott sei mit dir.“
Sie gingen weiter ihre Wege.
Stefanie kam an der Burg an. Sie ging durch das große Tor aus Stein, hinein in den Innenhof. Dort stand ein einzelner Baum, umrundet von einem hölzernen Sitzkreis, wo sie sich kurz nieder lies und ihre Füße entspannte. Der Baum war schon einige hundert Jahre alt, so schätzte sie aus seiner Größe. Schon viele Generationen vor ihr mögen die Menschen unter diesem Baum Schatten gespendet bekommen haben. „Was dieser Baum wohl schon alles mit angesehen haben mag?“ dachte sie. Die Burgherren, Bedienstete, die ihre Arbeit hier verrichteten. Belagerer. Später dann, als die Burg in den Besitz der Stadt überwechselte, auch normale Menschen. Schriftsteller wie Handke oder Trakl, die an diesem Baum kurz Ruhe gesucht haben. Und jetzt, in unserer Zeit, wohl mehr und mehr Touristen. Da waren sie wieder, die Touristen, die sie als leidigen Teil dieser Stadt empfand. Sie stand auf und ging zur Burgmauer. Von hier aus konnte man den Großteil der Altstadt überblicken. Von unten wuchsen zahllose Kirchtürme ihr entgegen, alte Häuser sah sie und das Geflecht der Plätze, die ineinander übergingen. Dort unten floss die Salzach in ruhigem Bogen. Sie lies ihren Blick auf dem Gewässer ruhen. Jede Stadt, so dachte sie, die groß und schön und alt ist und Charakter hat, hat auch einen Fluss, der durch sie fließt. Paris kam ihr in den Sinn, London auch. An München dachte sie. „Hatte St.Petersburg nicht auch einen Fluss? Auf jeden Fall aber diese unzähligen Kirchtürme, die in das morgendliche Blau des Himmels ragten…“
Ihre Assoziationen wanderten durch die Städte, die sie kannte, persönlich besucht oder aus Erzählungen erlebt hatte. Die Sonne spielte mit den Wellen, legte ihnen ihre funkelnden Lichter auf. Für einige Zeit weilte Stefanies Blick auf dem Wasser, während in ihr der Strom der Erinnerungen floss.

Es musste etwa eine Stunde vergangen sein, als sie wieder aus sich auftauchte. Die Sonne stand nun schon hoch am Himmel und so langsam füllte sich auch die Burg mit Menschen. Touristen. Stefanie stand von der Mauer auf und ging. Sie mochte es nicht, wenn sie ihren Gedanken und Bildern nachhing, beobachtet zu werden.
Ihr nächstes Ziel war der Mirabellgarten. Ein alter Garten, der etwas abseits des Zentrums lag, in dem, wied er Name schon sagt, Mirabellbäume wachsen, aber auch viele andere Baumarten. Ein gepflegter, zu einem Muster geschnittener Rasen war im vorderen Teil des Gartens zu sehen. Er lag direkt neben einem Herrensitz, in dem oft Hochzeiten gefeiert wurden. Einige Tierfiguren waren über den gesamten Garten verstreut, Wildschweine und Pferde. So ziemlich in der Mitte stand ein imposanter Springbrunnen, zu dem Stefanie hinging. Sie setzte sich und schaute dem Wasser zu, das in einer Fontaine in die Höhe schoss und mal plätschernd, dann rauschend wieder in den Brunnen zurücksprang. Schaute man dem Wasser bei Gegenlicht zu, so sah man einzelne Tropfen, wie sie sich aus der Menge heraus kristallisierten. Schaute man ihnen länger zu, so konnte man in den Genuss kommen, mit Hilfe ihrer ein wahres Tropfenkonzert zu erleben. Sie sprangen in einer Art rhythmischer Melodie herauf, herunter, durcheinander. Scheinbar dominierte das Chaos, dann aber wieder die Ahnung einer Gleichmäßigkeit in ihren Bewegungen. Sie sangen, die Tropfen, die Wasser, während sie sprangen, dachte sich Stefanie erfreut. Ihrem Spiel konnte sie lange Zeit zusehen, zuhören und sich dabei einfach nur gut fühlen.
Sie ging weiter durch den alten Garten, hin zu einer steinernen Tafel, in der ein Gedicht eines Sohnes der Stadt, von Trakl, verewigt worden war. Sie stand vor der Tafel und las langsam und bedächtig die Verse:

Musik im Mirabell

Ein Brunnen singt. Die Wolken stehn
Im klaren Blau, die weißen, zarten.
Bedächtig stille Menschen gehen
Am Abend durch den alten Garten.

Der Ahnen Marmor ist ergraut.
Ein Vogelzug streift in die Weiten.
Ein Faun mit totem Auge schaut
Nach Schatten, die ins Dunkel gleiten.

Das Laub fällt rot vom alten Baum
Und kreist herein durchs offne Fenster.
Ein Feuerschein glüht auf im Raum
Und malet trübe Angstgespenster.

Ein weißer Fremdling tritt ins Haus.
Ein Hund stürzt durch verfallene Gänge.
Die Magd löscht eine Lampe aus,
Das Ohr hört nachts Sonatenklänge.

Ein leichter Schauder lief ihr beim Lesen über den Rücken. Das Gedicht hat eine solche Bandbreite von Stimmungen, von heiter bis tief betrübt, erlöst allein durch das Hören der Sonatenklänge. Hier, im Mirabellgarten, hat er gedichtet. Man muss Trakl und seine Poesie nicht mögen, dachte sie, aber sie hat etwas Eindringliches. Die Bilder, die er poetisch entwirft, sind voller Ausdruckskraft und vermitteln eine ganz eigene, individuelle, aus der Seele des Dichters stammende Stimmung. Es war mittlerweile Nachmittag. Sie würde noch einmal hierhin kommen, am Abend, um den Garten zu dieser Zeit auf sich wirken zu lassen. Irgendwann einmal.
Mit den Reimen im Gedächtnis wanderte sie weiter, schaute sich um, lies die Natur auf sich wirken. Sie war heute schon viel umhergewandert, fiel ihr auf, hatte viele Seiten der Stadt gesehen, in sich aufgenommen, empfunden. Langsam machte sie sich auf den Rückweg, sie hatte noch einige Seiten Text auswendig zu lernen.
Auf dem Weg nach Hause musste sie eine Brücke überqueren. Es war eine der älteren, von der aus man vile andere Brücken, neuere zumeist, sehen konnte.
In der Mitte der Brücke blieb sie stehen und schaute auf das ihr entgegen fließende Wasser, das bewegte, wellende. Tief atmete sie ein, begleitete die klare Luft an ihren Nasenflügeln vorbei, die im Windzug kälter werden, tief hinein ins Innere, behält sie dort für einen zeitlosen Moment bei geschlossenen Augen, öffnet dann die Lippen und lässt sie ruhig und gleichmäßig ausströmen, blickt dann wieder auf das Wasser und nimmt die fließende Strömung in sich auf, während der nächste Atemzug den Blick begleitet.
Eine Art meditative Stimmung breitete sich so in ihr aus, sie gedachte an ihren Tag, was sie alles erlebt hatte.
Mit dieser Stelle würde sie anfangen, hier auf der Brücke stehend, den Tag an sich vorbeiziehen sehen: so würde der nächste Eintrag in ihr Tagebuch beinnen.

 

Hallo jbk!
Eine schöne "Aufnahme" von Salzburg, hat mir gut gefallen. Ich bin Stefanie gerne gefolgt und habe - abseits der Touristenströme - Salzburg noch einmal gefühlt. Ich war eine der zweiten Sorte der Touristen :) und auch ich habe mich über die grossen Massen der Touristen genervt, denn durch sie ging viel von der Atmosphäre verloren. Du aber hast die Schönheit Salzburgs, auch mit ihren stillen Eckchen wunderschön beschrieben.

Besonders die Szene mit dem Bettler hat mir gut gefallen, die Gegensätzlichkeit der Touristen und den Einwohnern - Stefanie noch als etwas dazwischen, noch nicht ganz zugehörig aber auch nicht mehr fremd. Ein schöner Text!

Eine Kleinigkeit, die mich gestört hat:

und ging alsbald außer Haus. Die Wohnung lag etwas außerhalb vom Zentrum...
Eines würde ich ersetzen, z.B. "Die Wohnung lag etwas vom Zentrum entfernt".

Lieber Gruss,
Marana

 

Hallo Marana,

mit einer Antwort auf diesen Text habe ich gar nicht mehr gerechnet... muss wohl an Susi und ihrem Inventur-Thread liegen :)

Die Geschichte entstand ein halbes Jahr nach meiner ersten Salzburgfahrt. Und das beste ist: in zweieinhalb Wochen machen wir vom Abikurs ne Abschlussfahrt dahin!!! :D

Dann werden wohl die einen oder anderen Erinnerungen wieder zu Papier gebracht. Und von dort ist es bis nach kg.de nicht allzu weit.

Gruß :D
Jan

 

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