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Ein Stück Stoff
1.
Im Radio laufen Nachrichten, irgendwas über Assad und den Westen, mein Vater brummt und dreht am Sendersuchlauf, bis er arabische Popmusik findet. „Endlich“, sagt er und streckt den Rücken durch, wahrscheinlich hat er wieder heimlich beim Taxifahren gelesen. Wenn er auf Fahrgäste wartet, sitzt er ganz in sich zusammengefaltet da, damit seine Kollegen nicht sehen, was er liest. Neulich lag das Buch auf dem Beifahrersitz. Als er meinen Blick sah, hat er es schnell ins Handschuhfach geschoben. Wie einen Porno. Aber ist ja auch komisch, ein Libanese, der Thomas Bernhard liest, ich glaub, sowas mag noch nicht mal der Leitner, und der ist Deutschlehrer.
Mein Vater seufzt, verzieht das Gesicht und streckt sich noch einmal, dann richtet er sich auf, zupft an den Manschetten seines Hemdes, bis sie exakt über den Handgelenken sitzen, und prüft seine Fingernägel. Das liebt er. Er sagt immer: Du kannst noch so sehr im Dreck wühlen für deinen Job, aber die Hände müssen sauber sein. Als er aufsieht und mich in der Tür stehen sieht, weiten sich seine Augen.
„So kannst du nicht gehen, Tochter. Nicht heute.“
Ich zucke mit den Schultern und greife nach meiner Schultasche.
„Basima.“
„Was?“
Mein Vater ist ein liebevoller Mann. Aber er versteht nichts.
„So gehst du nicht. Wenn du zum Praktikum gehst, ziehst du kein Hidschab an.“
„Warum nicht?“
Jetzt ist mein Vater mit dem Schulterzucken dran, scheint eine Familienkrankheit zu sein. „Weil du hier geboren bist“, sagt er. „Weil man mit Hidschab keinen Job bekommt. Weil du besser Deutsch als Arabisch sprichst. Weil du mit allen auskommen musst.“
Mein Vater hat die Weildukrankheit. So oft, wie er diese zwei Wörter wiederholt. Er glaubt, das macht ihn überzeugender. Aber es macht nur alles gleich.
„Ich komme mit allen aus, Vater. Mit allen.“ Ich betone jeden einzelnen Buchstaben. „Ich benehme mich so deutsch, das glaubst du nicht. Ich weiß sogar, dass ich religionsmündig bin. Deutsches Recht, Vater. Magst du doch so.“
Mein Vater schüttelt den Kopf und fängt an, seine Fingernägel über die Hose zu reiben. Ganz mechanisch. Ich muss lachen. An der Geschwindigkeit, mit der er das tut, kann man immer sehen, wie aufgeregt er ist und wie sehr er nach Worten sucht.
„Was ist nur in dich gefahren“, sagt er schließlich. „Du diskutierst mir die Ohren in den Kopf. Vor zwei Jahren wolltest du unbedingt blonde Strähnen haben und nun bedeckst du die Haare und redest wie ein Anwalt.“
„Ich hab heute Schule, Vater, kein Praktikum. Außerdem will ich eh Mathe studieren. Aber egal, ich zieh den Hidschab ab jetzt immer an.“
„Aber das brauchst du nicht, du kannst doch auch so gläubig sein. Außerdem machst du es dir selbst nur schwer.“
„Aber ich will zeigen, dass ich es ernst meine. Nicht wie du.“
„Was heißt hier wie ich?“
„Du trägst Allah nicht im Herzen.“
„Sei still, Basima. Die Zunge ist die Hebamme allen Unglücks.“
Ich drehe mich um, es ist zwecklos. Ich möchte noch etwas sagen, aber die Hände meines Vaters zittern, so dass ich Angst um ihn bekomme. Es regt ihn auf, wenn ich Widerworte gebe. Er ist gläubig wie ich. Aber er schämt sich dafür. „Wir sind Deutsche“, sagt er immer und hebt den Zeigefinger, als könnte der die Zerbrechlichkeit seiner Stimme verbergen. „Wir sind Deutsche. Ich habe so lange gebraucht, bis ich bleiben konnte. Zerstör es nicht, Tochter.“ Ich frage mich, wie zerbrechlich etwas sein muss, wenn ein Stück Stoff es zerstören kann.
Als ich unten auf der Straße bin, schau ich noch einmal nach oben zu unserer Wohnung. Meistens winkt mein Vater mir zu, wenn ich zur Schule gehe. Das macht er schon, seit Mama tot ist. Die Fassade sieht grau aus und rissig. Auf den meisten Balkonen steht Gerümpel oder Grillzeug. Unser Nachbar hat sogar einmal Hühner auf dem Balkon gehalten. Nur unserer ist voller Blumen. Ich drehe mich einmal um die eigene Achse, wenn ich wieder gerade stehe, ist mein Vater bestimmt da. Hoffentlich. Endlich tritt er mit einer Gießkanne auf den Balkon. Er winkt mir zu. Mit beiden Armen. Ein Schwall Wasser ergießt sich über die Fassade, es sieht aus, als wäre sie fleckig.
2.
Die U-Bahn ist voll heute, ich setze mich zu einer älteren Frau, die mich aus den Augenwinkeln mustert. Vielleicht glaubt sie, ich hätte das Selbstbewusstsein eines Sofakissens? Warum denkt sie so schlecht über mich und warum denke ich, dass sie so denkt? Schnell krame ich mein Handy raus und starre aufs Display. Mein Vater hat schon Recht, man braucht viel Mut, wenn man den Glauben ernst nimmt. Aber das will ich. Früher war ich nur ein Mädchen mit schwarzen Haaren, ich hätte Spanierin sein können oder Italienerin. Irgendwas. Aber ich wollte Basima sein. Die blonden Strähnen haben das nicht geschafft. Basima bin ich erst jetzt. Nur für alle anderen bin ich etwas Komisches geworden, das man anglotzen und beschämen darf.
Im Abteil neben mir sitzt ein Mädchen. Ihr Kopftuch ist schwarz, vor ihr steht ein riesiger Rucksack. Bestimmt eine Schülerin wie ich. Der Mann ihr gegenüber stiert sie an und brabbelt unverständliches Zeug, es klingt wie Bukkerweiber. Dann tatscht er dem Mädchen ans Bein und sagt: „Hehe, Heimfahrt?“
„Wie bitte?“ Die Stimme des Mädchens ist leise. Sie schaut nach unten auf ihre Knie.
„Nach Abschiebien.“ Der Mann zieht jede Silbe in die Länge, Spucketröpfchen spritzen. Er deutet auf ihren Rucksack, blickt sich stolz um und sucht die Blicke der Mitfahrer.
Niemand sagt etwas, manche grinsen. Das Mädchen hat sich in ihre Kleider zurückgezogen. Sie sieht jetzt noch kleiner aus und so, als hätte jemand sie geschlagen.
Ich umklammere mein Handy und schaue hoch. „Das macht man nicht“, sage ich, „man fasst niemanden an, das gehört sich nicht.“ Der Mann wendet sich ganz langsam zu mir um. Von seiner Unterlippe tropft Flüssigkeit. Ich vermeide seinen Blick, vielleicht ist er ja wie ein Hund, dem man nicht in die Augen schauen darf. Die Frau neben ihm blickt aus dem Fenster. Ganz interessiert, als gäbe es draußen lila Kängurus.
„Was hast du gesagt“, lallt der Mann und beugt sich noch weiter vor.
„Man macht das nicht, anfassen und so.“ Ich stottere und weiß nicht weiter. Wäre dieser Kerl nur eine Gleichung mit vier Unbekannten, ich hätte kein Problem mit ihm, aber Betrunkene?
„Bukkerweiber, das sei ihr. Isis und Kopp ab. Des macht ihr. Fort mit euch.“
Jedes Geraschel in der Bahn hat aufgehört, es ist ganz still. Als ob selbst die Bahn darauf wartet, was ich antworten werde.
Ich stehe auf, ganz langsam, und schiebe mich an dem Mann vorbei. Ich werde nicht weinen. Auf keinen Fall. Gleich kommt die Heddernheimer Landstraße. Da steige ich aus. Die letzte Station werde ich zu Fuß laufen.
Das Mädchen ist mit mir ausgestiegen. Ihr verschüchtertes Danke verdrängt einen Moment das Ziehen in meinem Bauch.
*
„Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen. Dir allein dienen wir und Dich allein flehen wir um Hilfe an. Führe*uns den rechten Pfad.“ Ich murmele die Sätze aus der Sure Al Fatiha vor mich hin, obwohl ich mich gar nicht auf das Gebet vorbereitet habe, aber die Worte beruhigen mich. Ich kenne das Ziehen. Es begleitet mich seit dem Tod meiner Mutter. Ich dachte immer, sie würde weiter leben, und wenn sie noch so krank ist. Dann starb sie. Von einem Moment zum anderen war da nur noch eine Hülle. Die Erwachsenen sagten, Basima ist noch ein Kind, sie wird darüber hinwegkommen. Das tat ich. Ich kam so gut darüber hinweg, dass ich gar nichts spürte. Keine Traurigkeit, kein schlechtes Gewissen, keine Angst vor dem Tod, nichts. Nur ein Ziehen. Die ganze Zeit. Erst als ich lernte zu beten, wirklich zu beten, mich in die Worte der Suren aufzulösen, da trat das Ziehen in den Hintergrund. Und dafür bin ich dankbar.
3.
Als ich vor der Schule ankomme, ist alles schon ruhig. Nur drüben an der Ecke zum Park lungert Nabil rum. Ich kenn ihn aus dem Matheclub. Aber seit neustem ist er nicht mehr im Unterricht, sondern sitzt auf der Bank beim Parkeingang. Wenn ein Lehrer ihn dort sucht, weil die anderen in der Klasse gesagt haben, „Nabil ist draußen und raucht“, freut ihn das wie ein kleines Kind. Er sagt immer: „Ich schwänz erst richtig, wenn jeder Lehrer mich mindestens einmal gesucht hat. Das bin ich mir schuldig. Und den Lehrern auch. Das hält sie frisch.“
Nabil sagt Dinge, die sich nicht jeder zu sagen getraut. „Sie verstehen uns nicht“, sagt er, „sie wollen es auch gar nicht. Sie treten auf uns, sie treten in Stücke, was wir glauben, und sie treten so lange, bis wir nur noch winzige, stinkende Bröckchen unter ihren Schuhen sind.“ Ich muss immer seinen Händen zuschauen, wenn er redet, er schafft Bilder damit, man sieht die Leute, von denen er spricht. Okay, er übertreibt, aber es ist so witzig, wenn er Deckert, den Ethiklehrer, den Kragen vom Hals diskutiert, wenn der irgendwas Blödes über den Islam sagt. Schade, dass Nabil nur noch kifft und schwänzt. Ich winke ihm zu und biege in den Gang zu meinem Klassenraum. Herr Leitner ist schon drin, es wäre sonst lauter, die Tür stünde offen und die Idioten aus meiner Klasse würden vor der Tür rumgockeln und sich gegenseitig mit Schwämmen und nassen Taschentüchern beschmeißen. Ich öffne, murmele „Entschuldigung, Herr Leitner“ und schlüpfe schnell an den Bänken vorbei zu meinem Platz. Im Vorbeigehen streife ich Emely über die Schulter. Sie wendet den Kopf und schickt mir ein kaum wahrnehmbares Lächeln. Emely ist meine beste Freundin, schon seit dem Kindergarten. Immer hat sie neben mir gesessen und meine Hand gedrückt, wenn etwas Neues kam, ob in der Grundschule oder hier. So lange ist das schon her mit unserer Freundschaft, da ist es ja kein Wunder, wenn sie neuerdings ein wenig durchscheinend geworden ist, so wie die Kleider der Puppen, mit denen wir als kleine Mädchen gespielt haben.
„Warum greifen die USA im Irak ein, warum zögern sie in Syrien? Was ist mit Israel im Spiel der Kräfte um den Nahen Osten?“, höre ich Leitner fragen. Ich schnaube, was soll das gestelzte Zeug? Die anderen haben keine Ahnung, weil sie Idioten sind. Die merken noch nicht mal, dass Leitner Krieg als Spiel bezeichnet. Für mich hat der Nahe Osten ein Gesicht. Saida, meine Oma aus dem Libanon. Ich muss immer noch an ihre weichen Hände denken, auch wenn ich erst sechs war, als sie im Julikrieg von israelischen Fliegern umgebracht wurde. Nichts mehr hat man von ihr gefunden.
„Naher Osten“, höre ich Erhan sagen, den Leitner aufgerufen hat, „Israel, ja, äh“, er stottert und weiß nicht weiter. Kein Wunder, was soll er auch sagen, wenn alles dort Gewalt und Asche ist? Afghanistan, Irak, Syrien, Libanon. Alles kaputt. Die Amis mussten es noch nicht mal selbst machen, hatten ihre Kettenhunde. Immer. Haben Revolutionen unterstützt, die aus blühenden Ländern Kohlehaufen machten. Und wenn sie wollten, haben sie ein Land gleich in die Steinzeit gebombt.
„Gewalt erzeugt Gegengewalt“, höre ich eine Stimme laut sagen und ich erschrecke, denn es ist meine. Leitner verstummt. Für einen Moment steht sein Mund offen. Dann fasst er sich: „Bitte Basima, du wolltest etwas sagen.“
Ich stehe auf und schaue umher. Hier erwartet keiner Politik von dem Matheclubmädchen mit den blonden Haarsträhnen.
„Ihr alle findet das doch richtig, wenn die Amis eingreifen. Die tollen Retter. Hat schon mal einer überlegt, wie die Menschen da jetzt leben im Irak? In Afghanistan? Ob die überhaupt geschützt werden wollten? Hat schon mal einer überlegt, was mit Menschen passiert, wenn sie sich dauernd verteidigen müssen, wenn sie dauernd vertrieben werden? Die Amis haben den IS doch selbst erzeugt.“
Ich setze mich und hole tief Luft, als hätte ich einen Dauerlauf gemacht. Alles ist still, dann setzt ein Murmeln ein. Basima, höre ich, du kannst doch nicht, und Basima, das stimmt nicht, Basima, Basima, Basima. Mein Name verbindet die Münder der anderen zu einem Singsang, der mir beweisen will, dass ich falsch liege. Und am lautesten sind die, die mir eigentlich zustimmen müssten, Erhan und Emely.
Ich habe keine Lust auf den Singsang, ich stehe noch einmal auf und fasse mit beiden Händen an die Tischkante. Der Kaugummibrocken darunter klebt schon, seit ich denken kann, ich reiße ihn ab und werfe ihn in Richtung Papierkorb. „Sogar hier werden Muslime schlecht behandelt“, sage ich laut. „Eine Klofrau darf Kopftuch tragen, das ist völlig normal. Aber wehe, ich will Lehrerin werden mit meinem Hidschab. Dazu hats erst mal eine Verfassungsklage gebraucht. Wieso, verdammt noch mal, braucht eine bescheuerte Christin keine Erlaubnis, wenn sie im Unterricht ein Kreuzchen um den Hals baumeln lassen will? Das ist ungerecht!“
Der Singsang wird zu Protest. Ich höre Kopftuchurteil, sehe die erhobenen Finger, bin erschöpft, lasse den Protest auf mich herabrieseln, schlucke die zornigen Worte meiner Klassenkameraden. Ich höre nicht mehr zu, ich bin doch ohnehin allein. Draußen vor dem Fenster sitzt ein Vogel. Ich wollte, ich wäre er.
4.
Kurz bevor ich hinter den anderen aus dem Klassenraum rausschlüpfe, höre ich Leitners Stimme. „Bleibst du bitte?“
Ich drehe mich um und stelle mich vor seinen Tisch, meine Arme vor der Brust verschränkt. Was will der?
„Basima, ich mache mir Sorgen um dich.“
„Nicht nötig.“
Ich glaube schon.“
„Ich nicht.“
„Es ist doch nur, ach Basima, du hast dich verändert.“
Auch von hier aus kann ich den Vogel sehen. Er starrt immer noch in die Klasse hinein. In Leitners Stimme schwingt wirklich so etwas wie Sorge mit.
„Und wenn? Sind meine Noten etwa schlecht? Hat sich jemand beschwert? Ist doch alles cool mit mir.“
Ich schieße meine Sätze ab. Vielleicht lässt er mich dann gehen.
„Nein, das ist es alles nicht. Es ist, ach Mädchen, warum trägst du plötzlich Kopftuch? Und dein Ausbruch eben. Das bist doch nicht du.“
Ich atme aus. Das macht mich alles so hilflos.
„Zwingt dein Vater dich dazu?“
„Herr Leitner!“
„Wer dann?“
Ich schüttele den Kopf und wende mich von ihm ab.
„Du hast dich von Emely zurückgezogen. Und deine Kleidung.“
„Das ist doch alles Privatsache, rennen Sie den anderen auch so hinterher, wenn die die Frisur wechseln?“
Ich wünschte, der Vogel würde mit seinem Schnabel gegen das Fenster klopfen.
„Komm, Basima, du machst das doch nicht von dir aus.“
Ich schweige. Soll er reden. Irgendwann wird er aufhören.
„Du bist die beste Matheschülerin, die ich jemals hatte. Hast Minirock getragen, dass ich dich einmal nach Hause schicken wollte, so kurz war der. Weißt du noch?“
Ja, ich weiß noch, wie aufgeregt er war, der Herr Leitner, und wie besorgt, ich lächele unwillkürlich in der Erinnerung daran. „Ach Herr Leitner, es ist doch nur der Hidschab. Warum gibt’s da so ein Geschiss drumrum? Erst mein Vater, jetzt Sie. Sind Sie nicht gläubig?“
„Nein, ja, aber darum geht’s doch auch nicht.“
„Sehen Sie, Sie wollen sich auch nicht rechtfertigen oder über das reden, was Sie glauben oder nicht. Warum muss ich das?“
„Ich trage ja auch kein Kopftuch.“
Ich stutze. „Das würd auch ganz schön blöd aussehen zu Ihrem Bart.“
Leitners Mundwinkel zucken, jetzt lacht er.
„Du hast so eine Art, Basima, einem das Wort im Munde rumzudrehen.“
„Das hab ich von Ihnen gelernt, Herr Leitner.“
„Nein, ich meins Ernst, Basima, wie vorhin, da hast du auf einmal den anderen Schülern die Haare vom Kopf geredet. Das war früher nicht so. Da hattest du nur Mathe im Kopf und bist mit Emely rumgezogen. Was hat dich so verändert?“
„Nichts.“
„Ich glaub dir das nicht. Irgendjemand tut dir nicht gut, Basima, ich merke das doch. Hast du vielleicht jemanden kennen gelernt? Vielleicht in der Moschee?“
Ich zucke mit den Schultern und starre aus dem Fenster, damit mir keine Tränen in die Augen steigen. „Verdammt noch mal“, ich versuche, meine zitternde Stimme unter Kontrolle zu bringen, „ich bin okay, ja! Lasst mir doch einfach meinen Glauben.“
„Die frühere Basima hätte nie ein Kopftuch getragen.“
Er legt seine Hand flach auf den Tisch, als hätte er ein Urteil gefällt. „Ich habe Verantwortung für dich, Basima. Ich werde deinen Vater anrufen und die Sache der Schulleitung melden. Die sehen dann weiter. Vielleicht wäre es gut, du sprichst mit jemandem, der das besser kann als ich. Jemand von dem Gewaltnetzwerk, da gibt es Imame.“
„Tun Sie, was Sie tun müssen.“ Ich drehe mich um, verabschiede mich nicht, gehe einfach nur raus. Es ist ein Gefühl der Betäubung. Wie wenn man beim Zahnarzt ist, und man weiß genau, noch tuts nicht weh, aber gleich kommt der Schmerz. Mit ganzer Wucht. Ich habe Leitner gemocht, mit seinen Baggys und dem heraushängenden Hemd, mit dem er auf jung macht, obwohl er älter ist als mein Vater. Immer etwas verpeilt und unausgeschlafen, aber so lieb. Ja. Er war mein Lieblingslehrer, der Leiti.
Auf dem Weg zum Schulhof gehe ich an zwei Lehrerinnen vorbei. Eine streift mich mit ihrem Blick. Beim Rausgehen höre ich noch, wie sie zu der anderen sagt: „Die werden immer mehr. Bei mir sind jetzt schon vier Kopftücher in der Klasse.“
5.
Draußen auf dem Schulhof suche ich nach Emely, Erhan stolziert an mir vorbei und tritt mir in den Weg.
„Wo ist Emely“, frage ich.
„Rauchen.“
„Ich könnte jetzt auch eine gebrauchen. Aber ich habe ja aufgehört.“
„Du hast wohl mit allem aufgehört?“ Er schlägt mit der Faust in seine flache Hand und grinst mir frech ins Gesicht.
Erhan, der Gockel, mit seinen feingerippten Unterhemden, die ihn zum türkischen Macho machen sollen, dabei sieht man einfach nur, dass die Löcher mit der Hand reingeschnitten sind. Stolziert hier rum auf dem Schulhof, den Brustkasten aufgeschwollen wie ein Masthähnchen.
„Hähnchen“, sage ich zu ihm, „pass auf, dass dich keiner in den Topf steckt.“
„Halts Maul, Nonne.“ Er spuckt auf den Boden, aber er bleibt neben mir stehen. „Was hat Leitner denn von dir gewollt? Meldet der dich jetzt?“
„Ist mir scheißegal.“
„Ist richtig.“
„Das ist richtig.“ Ich trete ihn voller Wucht gegen das Schienbein.
Erhan krümmt sich, hält mit beiden Händen das Schienbein fest und hüpft einbeinig herum.
„Ach schau mal an, ein Brathähnchen das tanzen kann. Kannst direkt in den Topf reintanzen, Brathähnchen.“
„Dumme Fotze“, brüllt er los, „du bist wirklich so ein bescheuertes Djihadweib.“
Ich bleibe vor dem hüpfenden Erhan stehen, stemme beide Hände in meine Seiten und lache. „Wenn du mich noch einmal so nennst, Feinripphähnchen, dann trete ich dich dahin, wos wirklich weh tut.“
Eine Traube bildet sich um uns. Irgendwo in der Menge steht Emely. Von hinten greift mich jemand um die Taille, an den Hintern, ganz fest, eine Stimme sagt, „ganz enge Muschis sollen sie haben, die Djihadweiber.“ Dann werde ich nach vorne gestoßen, direkt auf Erhan drauf. Mein Rock rutscht nach oben, meine Beine sind bloß, man kann bis zur Unterhose gaffen. Einer schreit: „Schnell Erhan greif zu bei deinem Schatz, bevor sie weg ist.“ Ich wälze mich von Erhan runter, streife den Rock über die Knie und reibe die schmerzenden Handgelenke. Von unten schaue ich auf die Beine der anderen, ich erkenne Emelys Schuhe, aber keine Hand streckt sich zu mir, um hochzuhelfen.
Als sich die Traube um mich herum auflöst, sehe ich durch die Beine der anderen Leitner, wie er auf uns zukommt. Sein Gesicht ist besorgt. Ich stehe schnell auf und gehe, bevor er mich noch einmal ansprechen kann.
6.
Als ich zur Tür reinkomme, ist mein Vater schon da. Er sitzt am Küchentisch und starrt auf die Tischplatte. Vor ihm steht ein Aschenbecher, randvoll mit Kippen. Er raucht sonst kaum.
„Wo kommst du jetzt her?“
„Ich war noch im Park und dann in der Moschee. War ein schwerer Tag heute.“
„Du gehst da nicht mehr hin. Es ist entschieden.“
„Das darfst du nicht verbieten.“
„Du bist ein Kind.“
„Und du hast nicht das Recht.“
Mein Vater schlägt mit der Hand auf den Tisch, so fest, dass der Schlag ein Echo in meinen Bauch wirft. Ich zucke zusammen. Mein Vater ist nie laut, nie.
„Dein Lehrer hat angerufen“, sagt er und sieht mich das erste Mal direkt an. In seinen Augen liegt etwas Eigentümliches, Schimmerndes. Wie damals, als Mutter ins Krankenhaus kam und der Arzt die Diagnose sagte. Mein Vater hat Angst. Aber vor welcher Diagnose? Ich bin doch gar nicht krank. Und dann weiß ich es, was anders ist als damals. Ich bin es, ich bin die Diagnose. Vor mir hat er Angst.
Ich gehe in mein Zimmer und schließe die Tür hinter mir.