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Ein Schmetterling auf Lechners Fuß

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01.07.2006
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Ein Schmetterling auf Lechners Fuß

Lechner steigt die Treppe hoch und tritt durch die Kellertür hinaus auf den Hof. In der kalten Morgenluft dampft das Blut an seinen Fäusten. Er geht langsam zum Brunnen, wäscht sich die Hände, jeden Finger einzeln, säubert gründlich die Nägel. Heute geht nichts mehr in ihm vor. Er kann nicht daran denken, was letzte Nacht geschehen ist, noch weniger vermag er es in Worte zu fassen.

Ruhig geht er zurück ins Haus, als er in die Stube tritt, schlägt er dem Herrgott im Eck ein Kreuz, er ist auch dessen Kind, ja, er ist dessen erstes Kind, der einzige Mensch auf der Erde. Es ist alles noch da. Die Rillen des Eichentisches, über die seine Hand jetzt fährt, der gestickte Polster auf der Bettbank, da ist noch der Abdruck seines Kopfes, der schiefe, blaue Kachelofen. Lechner friert. Hinter der Ofentür wartet die weißflockige Asche, er scharrt sie aus, schiebt Holzscheite hinein, zündet mit zerknülltem Zeitungspapier unter. Das vom Waschen und anderen Dingen nasse Hemd hängt er über die Schnur, die quer durch den Raum gespannt ist. Lechner setzt sich, zieht die Tischlade auf, nimmt das Buch heraus. Hart drückt er die Buchstaben ins Papier. Name: unbekannt, Geschlecht: männlich, Alter: ca. 10 Jahre, Gewicht: 27 kg, Fleisch: 5 kg, Innereien: 1,5 kg, Blut: 2550 ml, Zähne: 28. Er besinnt sich einen Moment, dann schreibt er noch in Klammer hinzu: Schöne, blonde Locken. Das streicht er aber wieder dick aus. So einer ist er nicht.
In der Stube wird es behaglich warm. Lechner streckt sich auf der Bettbank aus, sie ist etwas zu schmal für seinen massigen Körper, aber heute hat er keine Angst hinunterzufallen, heute schläft er sofort ein.

Lechner stampft durch die Straßen, gerne würde er alles unter seinen breiten Füßen zertreten und zermalmen, bevor er es schlucken und verdauen muss, aber durch ihn hindurch muss es, er scheißt die ganze Welt schwarz, er ist eine stählerne Scheißmaschine, bald wieder alles schwarz, innen und außen, doch da springt eine Szene in sein Blickfeld, eine Szene des Lichts und der Freude:

Auf einer Bank in der Fußgängerzone sitzt eine junge Mutter und gibt ihrem Kind die Brust. Die weiße Haut leuchtet wie die Sonne und Lechner fühlt die Milch in seine eigene Brust und in seinen eigenen Mund schießen, er ist Mutter und Säugling zugleich. Brust und Kind will er verschlingen, dem Kind mit Zähnen den Bauch aufreißen, die Zunge im kleinen, rosa Beutel versenken, er ruckt auf seinen Sohlen herum. Die Mutter schickt ihm einen unbehaglichen Blick, in Lechner ziehen wieder die Ketten an und er dampft weiter. Ihre Augen sind Pfeile in seinem Rücken, durchbohren ihn, Lechner wird schlaff, aus der Stahlmaschine wird ein Batzen aus Gestank, Rotz und zu weichem Fleisch. Er reibt sich über den Asphalt, kriecht schließlich ins Auto, er, der Kretin, die Missgeburt, der Wurm, elender, elender Wurm.

Zu Hause, vor dem Spiegel über der Kommode, rückt Lechner wieder seine auseinandergefallene Visage zurecht. Jedes einzelne Härchen wird studiert, zart streicht er die feinen Linien unter seinen Augen glatt, küsst langsam mit gespitzten Lippen seinen Zeigefinger. Alles normal. Da ist nichts Böses. Er ist normal.

Während des Kochens sieht er sich eine Talkshow im Fernsehen an und beginnt zu träumen. Er denkt sich aus, welche Fragen ihm die dicke Moderatorin stellen könnte.
Ob es beim Fleisch Unterschiede im Geschmack gäbe?
Und er würde sein Gourmetgesicht aufsetzen, den Kopf ein wenig schief legen und beim „O ja“ einen jubelnden Ton anschlagen.
„Ungesund ernährte, dicke Kinder schmecken modrig, wie Karpfen aus einem tiefen Teich, Kinder, die oft Gemüse bekommen, muss man nicht viel würzen, aber …“, dabei würde er seinen Blick durchs Publikum schweifen, ihn schließlich auf der Moderatorin ruhen lassen:
„Ungeliebte Kinder, und glauben Sie mir, ich merk das schon beim Anbraten, also ungeliebte Kinder schmecken mir am besten: Ihr Fleisch ist mürbe, weich, man braucht es nur mit der Zunge zu zerdrücken, leichter Wildgeschmack.“
Den Leuten im Publikum würde der Mund offen stehen bleiben, er würde von Erfahrungen sprechen können, die sonst niemand hat, er würde lügen wie gedruckt. In Wahrheit stiehlt er nur glückliche, gesunde Kinder.
Was so ein Kinderverzehrer isst, wenn er grad kein Kind hat, will die Moderatorin wissen. Ihr Ton ist sachlich und interessiert.
„Sich selbst“, aber es ist nur ein Witz, um die Leute in der Show zum Lachen zu bringen. Und wenn das Lachen abgeebbt wäre, würde er seine Hände gemütlich übereinanderlegen.

Als Lechner sich an den Tisch setzt, blickt er wieder in den Spiegel, hinter ihm gähnt die Stube wie ein Maul, das ihn verschlingen will. Wenn er nicht frisst, wird er gefressen werden, alles besteht nur aus ineinander verschlungenen, sich verschlingenden Mündern, und er kann die Welt nur mit seinem Mund, seinen Zähnen, seiner Zunge verstehen. In glücklichen Stunden gibt es keine Grenze mehr zwischen seinem und fremdem Fleisch.

Lechner geht auf die Jagd. Einige Tage lang hat er das Schulmädchen beobachtet. Er will es frühmorgens schnappen, für dreißig Sekunden schwebt es da durch eine enge Gasse, um den Weg in die Schule abzukürzen. Ja, es schwebt, niemals berührt es die fensterlosen Wände an den Seiten und seine Füße treten sanft und behutsam auf. Dreißig Sekunden sind genug, um diese Gazelle in seine Gewalt zu bringen. Lechner kann schnell sein, wenn er will.
Er wartet im Auto, wartet auf sie, auf die hübsche Kleine, die bald um die Ecke biegen wird. Neben sich seine Waffen: eine Decke und ein breiter Streifen Klebeband. Er liebt den Ausdruck „in die Gewalt bringen“, schmeckt ihm nach, berauscht sich daran, während er ein Stück vom Klebeband zieht und es mit den Zähnen abreißt. Da kommt sie! Er wird wieder ein Kind haben! Zuerst sieht er dabei seine beiden starken Arme, die den schmalen Körper umfangen, noch unklar, ob zärtlich oder nicht, dann drückt er immer fester zu, bis er keine Bewegungen der Gliedmaßen mehr spürt, nur das Pochen des Herzens, diesen Moment kostet er aus, will das andere Fleisch in sich hineindrücken.
Lechner steigt aus dem Auto, ein schnurrendes Uhrwerk, rasch, rasch, ihr nach, dem zarten Jungtier, er findet sich in ihren huschenden Rhythmus ein, wirft einen Schatten über sie, packt sie von hinten, verklebt ihr den Mund, hebt sie hoch, dreht sie zu sich, komm, komm, komm, meine Süße, komm heim, wickelt sie vollständig in die Decke, man weiß nicht, was Lechner ist, ein besorgter Vater mit einem kranken oder verletzten Kind auf dem Weg zum Arzt? Er hält es sicher, er hält es warm. Sie ist die Frucht an seinem Baum, ihr süßer Kindergeruch steigt ihm in die Nase. Ein Feuer wird angezündet in Lechner, gerne würde er die Decke wegziehen und ihr in den Nacken beißen. Sein Motor faucht, sprüht Funken, so rasch geht Lechner, er schwankt. Hier, seht her, Groß-Lechner hat was! Sie ist meins! Und: Ich bin harmlos, ich bin nichts, ihr bemerkt mich gar nicht. Nicht so schnell, nicht auffallen, Lechner! Er wird zu einer langsam sausenden Maschine, so sehr zerreißt es ihn.

Er hätte es gleich merken müssen! Sie hat sich doch überhaupt nicht gewehrt, kein Strampeln der Beine, kein Versteifen des ganzen Körpers, wie eine Wolke ist sie in seinen Armen gewesen, nicht schlaff, sondern noch immer, ja genau, schwebend, obwohl er sie so fest gehalten hat. Er hat ihr nicht einmal: „Wennst a Ruah gibst, gschiacht da nix!“ ins Ohr flüstern müssen.
Während der ganzen Autofahrt hatte sich das Bündel auf der Rückbank nicht bewegt, er hätte es gleich merken müssen, dass mit ihr etwas nicht stimmt! Und als er sie zu Hause ausgewickelt und ihr die Daunenjacke abgestreift hatte, sie ist sein Geschenk!, da waren die Ärmel ihrer Weste bereits rot gewesen. Er riss ihr das Pflaster vom Mund, die Haut ging in Fetzen mit, das halbe Gesicht eine Wunde … Sie schrie, nein, nicht nur vor Schmerz, sie schrie ihn an:
„Du darfst das nicht, bitte nicht, fass mich nicht an!"
Er sah, dass sie außer sich war, ihre Augen riesengroß, ja, Angst war da auch, aber vor allem Wut! Wut! Ein Kind war wütend auf ihn! Auf Lechner!
Er wich zurück.
„Wos is mit dia?“
„Ich bin doch ein Schmetterlingskind! Du darfst nicht! Lass mich in Ruh!“ Sie kreischte und schluchzte, roter Speichel und Rotz mischten sich.
„A wos?“
Aber sie achtete nicht auf ihn und auf die Kälte des Kellers, knöpfte die Weste auf, zog sich vorsichtig aus, die Bluse, das Unterhemd, ihre Arme waren mit riesigen, blutigen Blasen bedeckt, auch auf der Brust hatte sie welche, kleinere.
„Du musst da sofort was drauftun, sofort, sonst entzünden die sich ganz schlimm!“ Sie flehte nicht, sie befahl.
Lechner schwieg und rührte sich nicht. Sie hatte sich von allein ausgezogen, er hatte nichts tun müssen, aber er wollte sie gar nicht mehr anfassen, ihm graute vor ihr. Ihr Fleisch wollte er nicht. Er schob sich zur Tür hinaus, verriegelte sie und ging weg.

Lechner in Not. Es strahlt durchs ganze Haus, ihre Krankheit, die Stockflecken an der Wand sehen bedrohlich aus, nicht vertraut, die Zeitungsstapel im Eck scheinen einen durchdringenden Harngeruch auszuströmen und Lechners Zehennägel sind die gekrümmten, gelben Krallen eines Tieres. Alles ist falsch. Lechner will Erlösung, er will von dem Kind erlöst werden.
Sie wird von alleine sterben. Es ist nichts zu tun. Der Keller ist dicht. Das ist der Dreigesang, den er anstimmt. Aber was ist mit seiner Zufriedenheit? Wo soll er die jetzt hernehmen? Die Bettbank wartet auf ihn, er gibt ihr einen Tritt. Vielleicht dass ihr … also das da unten … vielleicht ist das ja noch gut … kann man vielleicht noch benutzen … Was sie jetzt wohl macht? Ob sie weint? Noch blutet? Schreit? Hunger hat oder Durst? „Der Herr ist dein Hirte, dir wird nichts mangeln, er weidet dich auf einer grünen Aue …“ Der wird sich schon um sie kümmern, wie Er es für richtig hält, obwohl … wert ist sie es ja nicht! „A sou a Kretinl!“ Er könnte ein Handtuch nehmen und über ihr Gesicht breiten, während er mit ihr was macht … Lechner schleicht die Kellertreppe hinunter und horcht. Nichts zu hören. Er will nur einmal schauen, seine rechte Faust umklammert das Handtuch. Als die Tür aufschwingt … sie stinkt, nach brandigem Fleisch und Eiter. In ihre Jacke gewickelt liegt sie am Boden. Er geht zu ihr, sie hebt den Kopf. Um ihren Mund Blasen, wie riesige gelbe Pickel, und nacktes rotes Fleisch, teilweise hängt die Haut in Fetzen, das ganze Gesicht ist geschwollen und dunkel. Nur ihre Haare und ihre Augen, funkelnd von Fieber, sind noch schön. Aber es ist zu wenig, das ist Lechner zu wenig, so kann er nicht.
„Bitte“, das Sprechen mit dem geschwollenen Mund fällt ihr schwer, er hört sie kaum. „Bitte, hilf mir! Bitte, bitte, hilf mir!“
Er wartet. Ist wohl jetzt kein Prinzesschen mehr, das ihn herumkommandiert!
Plötzlich berührt sie mit der Hand seine nackten Füße.
„Bitte, hilf mir, nimm mich mit, ich hab solchen Durst, bitte, bitte, bitte! Es tut so weh!“
Vom Fuß aufwärts läuft ihm eine Gänsehaut, es ekelt ihn an bis ins Herz hinein, Lechner hebt den Arm und schlägt mit dem Handtuch auf sie ein, wie auf Ungeziefer, das man nicht berühren will, immer wieder, immer wieder.

Es war einmal ein kleiner Junge, der einer großen Königin diente und diese Königin hieß Mutter. Andere Menschen als die beiden gab es nicht in diesem Reich. Der kleine Junge war nur ein Stallbursche, ein Küchenjunge, ihr Narr, aber trotzdem kümmerte sich die Königin sehr um ihn. Für ihn zweigte sie Essen ab, das eigentlich für die Schweine bestimmt war und in einem Kübel vor sich hingärte, sie fütterte ihn mit eigener Hand, bis er nicht mehr konnte. Wenn dem Jungen kalt war, weil er sein Bettzeug nass gemacht hatte, dann wärmte sie ihm den Bauch, nein, etwas weiter unten, mit einem glühenden Schürhaken und manchmal umarmte sie ihn, gab ihm die Brust, obwohl da keine Milch mehr war, und ließ ihn in ihrem Bett schlafen.
Eines Tages wurde der Junge sehr krank und er konnte vor Schwäche nicht aufstehen. Die Königin wollte ihm helfen und zog ihn am Arm aus dem Bett, aber seine Knie knickten ein und er fiel auf den Boden. Königin Mutter bemühte sich, ihn aufzurichten, schlug ihn, bis ihr der Arm weh tat, er griff nach ihren Füßen, aber es half nichts, sie musste den Faulpelz auf dem kalten Boden liegen lassen und da blieb er die ganze Nacht.
Am nächsten Morgen wachte er auf und ein Wunder war geschehen: Der Junge war auf einmal groß und stark. Und er zog hinaus in die Welt und bestand zahlreiche Abenteuer. Er tötete Vögel und Katzen und sogar den großen Bernhardiner des Nachbarn. Jetzt konnte er heimkehren und die Königin heiraten. Er fasste sie fest um den Hals, da war er der König.

Lechner geht durchs Fegefeuer, weißglühend brennt es ihm zuerst die Haut und dann das Fleisch von den Knochen, leicht wie Asche liegt er auf der Bettbank, viel ist nicht übrig geblieben von ihm, aber es genügt.

Erdäpfelpüree, das wird das Richtige sein. Und Tee, schöner, heißer Kamillentee. Oder doch Kaffee mit viel fetter Milch drin? Während er alles zubereitet, summt er vor sich hin.
Über die Bettbank breitet er die weiche, gute Decke, den gestickten Polster schüttelt er auf, riecht daran, dreht ihn um. Als er bei ihr unten ist, schläft sie. Behutsam hebt er sie hoch, er wünscht, er hätte weichere Hände, wie leicht sie ist, ihr langes, blondes Haar fließt ihm über die Arme.
Hier oben sieht sie doch gar nicht so schlimm aus. Die Schwellung im Gesicht scheint zurückgegangen zu sein. Er säubert die Badewanne von seinem Dreck, lässt heißes Wasser einlaufen, langsam, ganz vorsichtig lässt er sie hineingleiten, sanft löst er ihr die verklebte Unterwäsche und die Strumpfhose vom Körper. Als er sieht, dass sie überall Wunden hat, besonders an den Armen und auf den Schultern, seufzt er: „Oarms Hascherl, wird jo olls wieda guat!“
Während er ihr das Gesicht wäscht, schlägt sie die Augen auf. Sie beginnt zu schreien.
„Na, na, hob ka Oungst, i tua da nix mehr, i wüll da jo nua wos Guats!“
Er erkennt seine eigene Stimme nicht mehr, so dunkel und warm und heimelig. Beruhigend streichelt er ihr die Wange, sie wendet das Gesicht ab:
„Bitte nicht!“
In Lechner wogt eine süße Welle.
„Sogst ma dein Nouman?“
Sie wimmert.
Er steht auf und holt den Tee.
„Kumm, trink amol, muast jo scho an Duascht hobn!“
Sie kann nicht alleine trinken, ihre Hände zittern zu stark. Er muss es machen, er muss sie laben und füttern, er ist der, auf den es jetzt ankommt, er wird ab jetzt immer für sie da sein, er hat ein Kind!
Auf jede Wunde tupft er schwarze Zugsalbe, was anderes hat er nicht, als Letztes bestreicht er ihr Gesicht, zart, zart, zart, er fühlt sich linkisch, sie ist ein Schmetterling, das darf er nicht vergessen, sie hört mit dem Wimmern auf, sieht ihm ins Gesicht, jetzt ist er es, der sich abwendet.
„Ich heiße Marie. Und du?“
„I bin da Le… Franz haß i! Wüllst a bissl fernschaun? Und donn schau ma weidda!“
Mit einem weißen Flanelltuch bedeckt er nun ihre Blößen, bettet sie auf die Bank, schaltet den Fernseher ein, sucht nach einer bunten Sendung.
Das Kind auf der Bank schläft ruhig ein, vor dem Fenster hüpfen die Vögel, und die Katzen streifen frei durch die Gegend, der Vater macht alles sauber, setzt sich dann zu ihr, bewacht ihren Schlaf, nimmt jedes Zucken ihrer Augenlider wahr. Lechner ist glücklich, wenn er sie berührt.
„Und jetzt die 9-Uhr-Nachrichten: Von der seit Dienstag als vermisst gemeldeten, achtjährigen Marie Kammerer fehlt nach wie vor jede Spur. Der Fall ist besonders tragisch, weil das Mädchen an einer seltenen, genetisch bedingten Hautkrankheit leidet, der sogenannten Schmetterlingshaut. Diese Krankheit bewirkt, dass die Haut bei geringster mechanischer Belastung Blasen bildet oder reißt. Wunden und Schmerzen sind die Folge. Die Mutter des Kindes richtete sich in einer dramatischen Fernsehansprache an …“

Es wird nichts. Lechner sieht keine Details mehr im Spiegel, nur einen Mann mit feisten Backen und unstetem Blick. In seinen Augen ist nichts zu finden, weil – er muss was tun. Das ist doch nichts, das kann er doch. Er schiebt seine Hand unter ihren Kopf, die andere legt er ihr leicht auf die Brust, spürt ihr Herz schlagen, schnell und sicher zupacken, er denkt, er muss ihr den Hals umdrehen, es knackt, schwer war es nicht.

Im Vorzimmer das schwarze Telefon an der Wand. Er kann es sagen.
„I bin´s, da Lechna! I hob des Mädal umbrocht. Hob ia den Hois umdraht. Mi hot´s holt daboamt, des oame Hascherl. Jetzt keinnt´s mi huln kumman. I bin a fetta Fisch!“

Lechner nimmt Marie in die Arme, legt sich mit ihr auf die Bank. Ihr Blut sickert noch durch das Flanell, nässt ihm die Brust, dringt durch die Haut, füllt sein Herz. Sein Mund braucht nichts mehr.

 
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Tachs

Nochmals gestehe ich das ich eher zum Lesen als zum Kommentieren tauge.
Geschweige denn zum Verbessern tauge- höchstens als Leserin-Emotionalität verzeiht viel ( ganz eher - bei Dean bei Shepard sogar bei King und- ich schreibe das mit Absicht klein..bin ich zumindest in der Übersetzung auf Fehler gestoßen.) ( RS )
Hoffe ich darf trotzdem hier bleiben- habe noch nicht alles durch...

Dieses ist so abgrundtief traurig- und auch wieder schön, da er durch dieses kleines Mädchen...nein Schmetterling...damit aufgehört hat.
Wenigstens das-totalst berührend.
Lieben Dank dafür

 

Hallo Andrea H.,
alle Achtung, du hast Mut, Fantasie für zehn und eine wirklich wuchtige Sprache. Ich habe diese Geschichte erst in dieser Liste gelesen, sie hat mich vom ersten Satz an so richtig eingenommen. Anfangs dachte ich noch, er hat eine Kuh geschlachtet, es war so eine bäuerliche Szenerie mit dem dampfenden Blut an den Händen, schon da hätte man was ahnen können, aber nein, so ganz richtig noch nicht. Und als du dann den Lechner hast Buch führen lassen, da springt man noch mal ein Zeilchen höher, weil man es nicht glaubt. Eigentlich wollte ich da die Geschichte weglegen, aber es ist deine unglaubliche Sprache, die dichte düstere Atmosphäre dieser Geschichte und dein Mut, diesen schrecklichen, rohen Menschen so beobachtend und "unmoralisch" zu schildern, die halten einen derartig bei der Stange, dass man absolut nicht aufhören will zu lesen.
Unmoralisch mein ich so: Natürlich dringt das Schreckliche, das er tut und zu dem er geworden ist, aus allen Poren des Textes, aber es spricht für sich selbst, du reibst es dem Leser nicht unter die Nase. Und so wird dann die Szene, als das kleine Mädchen von ihm geschlagen wird und genauso erbramungswürdig vor ihm liegt, wie er dereinst, zu einer Schlüsselszene. Andrea, ich kann mir vorstellen, dass es sehr viele Leute gibt, die diese Stelle nicht gut finde, oder zumindest nicht nachvollziehbar oder unlogisch, aber ich fand es gut, dass du ihn auch verletzlich bzw mit einer gewissen Empathie gezeigt hast. So roh und ungeschlacht und schrecklich er auch immer sein mag.
Das mag daran liegen, dass das meine persönliche Sichtweise auf Menschen ist. Ich glaube es nicht, dass ein Mensch als Lechner geboren wird. Und von daher mag ich Geschichten, die das Vielschichtige zeigen, das auch in einem Lechner steckt, es ist wahrhaftiger.
Treib mich ja normalerweise mehr im Horrorbereich rum, da ist das was anderes, da gibt es Monster, aber in den realistischen Geschichten, da haben meist die Menschen selbst die Monster erschaffen, und die Monster sind die Menschen.
Ach je, ich seh schon, das versteht jetzt wieder kein Schwein, weil ich mich einmal rund um den Erdball gebrabbelt habe, sieh es mir nach, es liegt einfach daran, dass deine Geschichte mich sehr nachdenklich gemacht hat, sie berührt einen sehr und macht einfach ein bisschen fassungslos. Das ist als ganz großes Kompliment gemeint. Es gibt hochdotierte Autoren, die das längst nicht so gut hinkriegen.
Viele Grüße Novak

 
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Hallo Seelchen, du machst deinem Nick alle Ehre! ;) Warum solltest du nicht bleiben dürfen, auch wenn du nur liest und kommentierst, ist das doch schon sehr viel! :)
Freut mich, dass du es schön gefunden hast!


Hallo Novak!
Ach, ich weiß nicht, ob da wirklich Mut dazu gehört, denn ich bin eine eher ängstliche Person. ;) Fantasie schon, ja. :)
Das mit dem Buchführen hab ich aus irgendeiner realen Serienkiller-Geschichte genommen.

Eigentlich wollte ich da die Geschichte weglegen, aber es ist deine unglaubliche Sprache, die dichte düstere Atmosphäre dieser Geschichte und dein Mut, diesen schrecklichen, rohen Menschen so beobachtend und "unmoralisch" zu schildern, die halten einen derartig bei der Stange, dass man absolut nicht aufhören will zu lesen.
Da sind viele Sachen drinnen, die mich sehr freuen: Dass du erkennst, dass dieser Mensch roh ist, nämlich auch im Sinn von "unbehandelt". Dass du siehst, dass ich hier nichts verurteile und natürlich besonders, dass du nicht zu lesen aufhören wolltest.
Und so wird dann die Szene, als das kleine Mädchen von ihm geschlagen wird und genauso erbramungswürdig vor ihm liegt, wie er dereinst, zu einer Schlüsselszene. Andrea, ich kann mir vorstellen, dass es sehr viele Leute gibt, die diese Stelle nicht gut finde, oder zumindest nicht nachvollziehbar oder unlogisch, aber ich fand es gut, dass du ihn auch verletzlich bzw mit einer gewissen Empathie gezeigt hast. So roh und ungeschlacht und schrecklich er auch immer sein mag.
Ja, allerdings, das ist die Schlüsselszene und ja, es war mir wichtig zu zeigen, dass er noch nicht ganz verloren ist.
So unverständlich war dein Kommentar gar nicht. ;)

Und weil ich mich über die zahlreichen Kommentare so freue, gibt es hier ein Foto von dem Haus, das mich unter anderem zu dieser Geschichte angeregt hat:


Foto

Gruß
Andrea

 

Hallo Andrea H.

Wow.

Ich habe deine Geschichte bereits vor Tagen gelesen und ich muss gestehen, für jemanden, der selbst zwei Kleinkinder hat, geht sie arg ans Eingemachte. Dabei klang die Überschrift so harmlos ...

Name: unbekannt, Geschlecht: männlich, Alter: ca. 10 Jahre, Gewicht: 27 kg, Fleisch: 5 kg, Innereien: 1,5 kg, Blut: 2550 ml, Zähne: 28. Er besinnt sich einen Moment, dann schreibt er noch in Klammer hinzu: Schöne, blonde Locken. Das streicht er aber wieder dick aus. So einer ist er nicht.

Die weiße Haut leuchtet wie die Sonne und Lechner fühlt die Milch in seine eigene Brust und in seinen eigenen Mund schießen, er ist Mutter und Säugling zugleich. Brust und Kind will er verschlingen, dem Kind mit Zähnen den Bauch aufreißen, die Zunge im kleinen, rosa Beutel versenken, er ruckt auf seinen Sohlen herum.

Ob es beim Fleisch Unterschiede im Geschmack gäbe?
Und er würde sein Gourmetgesicht aufsetzen, den Kopf ein wenig schief legen und beim „O ja“ einen jubelnden Ton anschlagen.
„Ungesund ernährte, dicke Kinder schmecken modrig, wie Karpfen aus einem tiefen Teich, Kinder, die oft Gemüse bekommen, muss man nicht viel würzen, aber …“, dabei würde er seinen Blick durchs Publikum schweifen, ihn schließlich auf der Moderatorin ruhen lassen:
„Ungeliebte Kinder, und glauben Sie mir, ich merk das schon beim Anbraten, also ungeliebte Kinder schmecken mir am besten: Ihr Fleisch ist mürbe, weich, man braucht es nur mit der Zunge zu zerdrücken, leichter Wildgeschmack.“
Den Leuten im Publikum würde der Mund offen stehen bleiben, er würde von Erfahrungen sprechen können, die sonst niemand hat, er würde lügen wie gedruckt. In Wahrheit stiehlt er nur glückliche, gesunde Kinder.

Sie wird von alleine sterben. Es ist nichts zu tun. Der Keller ist dicht.

„Bitte, hilf mir, nimm mich mit, ich hab solchen Durst, bitte, bitte, bitte! Es tut so weh!“
Vom Fuß aufwärts läuft ihm eine Gänsehaut, es ekelt ihn an bis ins Herz hinein, Lechner hebt den Arm und schlägt mit dem Handtuch auf sie ein, wie auf Ungeziefer, das man nicht berühren will, immer wieder, immer wieder.

Er schiebt seine Hand unter ihren Kopf, die andere legt er ihr leicht auf die Brust, spürt ihr Herz schlagen, schnell und sicher zupacken, er denkt, er muss ihr den Hals umdrehen, es knackt, schwer war es nicht.

Diese Stellen gingen mir durch Mark und Bein, ich habe teilweise mit Gänsehaut gesessen und überlegt, ob ich weiterlesen solle. Doch dein Text zog mich mit. Ich konnte nicht aufhören, bevor ich den Ausgang nicht kannte.

Deine Figuren sind sehr deutlich charakterisiert und Lechners Sprache ist das Tüpfelchen auf dem I. Ich glaube, diesen Typ kann jeder klar und deutlich vor sich sehen.

Zusammenfassend ist es für mich eine wirklich gelungene Geschichte (Zumindest hoffe ich, dass sie der freien Fantasie entsprang.), die, wie ich denke, so funktioniert, wie sie es soll.

Handwerklich wirklich eine große Leistung.

LG
Nachtschatten

 

Hallo Andrea,

ich habe deine KG gerade gelesen, weil sie prämiert wurde. Da fiel mir beim Lesen ein, daß ich sie schon einmal vor Längerem gelesen hatte und jetzt meine Meinung dazu fällig ist. Deine Beschreibungen gehen mir definitiv an die Nieren, die Frage, welche ich mir stelle, ist nur, ob das als Kriterium ausreicht für eine Spitzen-Geschichte und ich denke nicht. Wenn ich mir eine halbverweste Ratte auf der Straße ansehe, dann werde ich genauso unangenehm berührt. Du arbeitest also mit diesem Ekel-Effekt auf der einen und den hinreichend bekannten Psychopaten- Allgemeinplätzen auf der anderen Seite (Du beschreibst in einer Mischung aus Priklopil und Fritz Haarmann, garniert mit den gerade beliebten morbide-inzestuösen Bayern-Klischees). Die einzige Überraschung ist das Schmetterlingskind, wobei Deine Beschreibung dessen Krankheitsbilds schon wieder das Ekelgefühl hervorruft.
Deine scheinbare Lust am Detail (der gekochte und gefressene Junge hatte blonde Locken), die durch den Protagonisten spricht, widert mich an! Übrigens bei jedem Schreiber, der sich allzusehr am Abschlachten seiner Opfer weidet. Das ist immer wie so ein effektheischender Hollywood-Thriller oder ein Computerspiel. Wo wird da noch die Phantasie des Lesers angesprochen, wenn alle Bilder vorgegeben sind? Das man sich als Unbeteiligter daran weidet ist allzu menschlich und altbekannt (mittelalterliche Hinrichtungen, Sensationslüsternheit, die Aufnahmen der zerstückelten Opfer von Jack the Ripper etc., etc.). Ich meine, diese unbedingt auch zur Abstumpfung und umgekehrt zum Übertrumpfen angelegte Art des Geschichtenerzählens sollte einmal wieder überwunden werden. Sonst haben wir eine Situation, wo der gewaltsame Tod eines Kindes nur noch dann mehr als ein müdes Achselzucken hervorruft, wenn er möglichst spektakulär geschieht. Die Geschichte "Psychopatischer Massenmörder wird durch Opfer überrascht und geläutert" ist nicht übel, ich hätte den Plot aber mehr auf die psychologische Schiene verlagert, auf Dialoge und die Details der Leserphantasie überlassen.

 

Hallo Nachtschatten!

Diese Stellen gingen mir durch Mark und Bein, ich habe teilweise mit Gänsehaut gesessen und überlegt, ob ich weiterlesen solle. Doch dein Text zog mich mit. Ich konnte nicht aufhören, bevor ich den Ausgang nicht kannte.
In der deutschen Klassik wurde diskutiert (im Rahmen der Rhetorikkritik), ob diese Art den Leser zu faszinieren in Ordnung ist, nämlich direkt auf seinen Körper zu wirken. Weil der Geist dann zu einem freien Urteil nicht fähig ist. Man korrumpiert sozusagen den Leser, indem man körperliche Reaktionen hervorruft, denen er sich nicht entziehen kann. Heutzutage wird das im Allgemeinen als Effekthascherei abqualifiziert. Mein zentrales Thema ist aber der Körper, oder besser gesagt, den Körper in jeglicher Hinsicht einzubinden. Das heißt, deine Reaktion freut mich. ;)
Deine Figuren sind sehr deutlich charakterisiert und Lechners Sprache ist das Tüpfelchen auf dem I. Ich glaube, diesen Typ kann jeder klar und deutlich vor sich sehen.
Das freut mich!
Zusammenfassend ist es für mich eine wirklich gelungene Geschichte (Zumindest hoffe ich, dass sie der freien Fantasie entsprang.), die, wie ich denke, so funktioniert, wie sie es soll.
Nein, entspringt leider nicht ganz der freien Fantasie, man kann unglaubliche Geschichten finden im Internet.


Hallo Felix-Florian!

Natürlich ruft die Geschichte Ekel hervor, ich finde nichts Schlimmes dabei, beim Leser körperliche Gefühle hervorzurufen, ich finde, das gehört dazu, aber ich weise entschieden zurück, dass ich mich als Schreiberin dieser Geschichte am Abschlachten der Opfer weide! Es gibt keine einzige Szene in der Geschichte, in der das Abschlachten GEZEIGT wird. Der Mord am Ende hat nichts Effektheischendes. Der Fokus der Geschichte liegt eben nicht auf der Darstellung von Gewaltszenen, sondern auf dem Selbstgefühl des Mörders. Deswegen geht der Vorwurf, dass hier ähnlich wie in Hollywoodfilmen mit schockierenden, deutlichen Gewaltszenen gearbeitet wird, ziemlich daneben.

Natürlich habe ich für meine Geschichte recherchiert und natürlich habe ich typische Merkmale von Serienmördern übernommen, aber ich denke, dass diese Innenschau eines Mörders kein hinlänglich bekanntes Klischee ist, sondern etwas Neues, ein Versuch sich auszudenken, wie das Innere eines solchen Menschen aussehen könnte.

Vielen Dank euch beiden für eure Kommentare!

Gruß
Andrea

 
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Böse,

liebe H.,

und dunkel bist du. Schickst einen Schmetterling, um uns zwischen deine Zeilen zu locken. In Lechners Maul und zwischen seine Zähne, oh, sie sind hässlich: Sein Eintrag ("Hart drückt er die Buchstaben ins Papier"), der Grausamkeit messbar macht, die Logik des Kinderfressens, die Illusion von Kontrolle über seine Taten, auch ein wenig Stolz und Selbstreflexion. Der Auftritt in der Talkshow ("dicke Kinder schmecken modrig, wie Karpfen aus einem tiefen Teich"), diese absurde Realität, die öffentlichen Augen, die Tränen, die insgeheim lachen und sich freuen: Ja! Ein Kinderfresser! Erzähl uns mehr von dir, schreib eine Biographie, wir schlürfen deine Suppe, während wir sie lesen, zeig uns mehr von dir, wir hassen dich, aber vor allem bewundern wir dich! Der Ritt ins Märchenschloss der Vergangenheit ("Andere Menschen als die beiden gab es nicht in diesem Reich."), diese Rückblende, die er Marie auch vorm Schlafengehen hätte erzählen können und vermutlich wäre sie eingeschlafen und hätte von einer schönen Kindheit geträumt, weil es sich so anhört. Würde man Lechner fragen, wie seine Kindheit war, würde er gewiss nicht "fürchterlich" oder "verstörend" antworten, sondern "märchenhaft" und da tanzt du an einem Abgrund vorbei, dieses ewige Hindeuten auf das frühere Ich, dieses Erklärende, so wars nicht, so wars, deswegen ist es so, deswegen ist er so, du tanzt zu diesem Abgrund und vielleicht auch noch ein bisschen weiter, aber du stürzt nicht, nein. Hier vielleicht: "Und er zog hinaus in die Welt und bestand zahlreiche Abenteuer.", weil es dann ja kommt, das Bezwingen der Ungeheuer und das hat auch so etwas Stimmiges: Na klar murkse ich den Hund ab, der ist gefährlich, böse - sterblich. So bleibt seine Erinnerung an die Kindheit ein Märchen, das nachhallt in ihm. Auch seine "Mutter"sprache, der Dialekt, der mir wahrlich die Gänsehaut ins Trommelfell gebracht, weil meine Mutter so spricht und weil sie auch noch jemanden kennt, der Lechner heißt, zum Glück eine Frau. Aber die Sprache in seinem Kopf und die Sprache aus seinem Mund fliegen mit verschiedenen Flügeln, und er spricht erst ein wenig später, bei der Talkshow freilich nicht Dialekt, weil er DENKT, sehr geschickt gelöst an dieser Stelle, aber dann, wenn er spricht, das erste Wort (hätte er geschwiegen ...) es macht ihn unendlich dumm in diesem Moment. („Wos is mit dia?“) Zugleich ziehts ihn - Lechner - in unser Wohnzimmer; man knipst das Licht an und es wird dunkel, weil er neben einem sitzt. Weil er, wenn er "das Maul hält", ist, wie die meisten Jemands da draußen. Hab auch nicht übersehen, wie du ihn religiös gemacht hast, unseren werten Schmetterlingssammler. Doch aufspießen - aufspießen kann er Marie am Ende nicht - und meine Vorredner haben davon gesprochen, dass er da realisiert, dass es Menschen gibt, die auch leiden, auch Hilfe brauchen, aber das glaube ich nicht so sehr. Dürften seine vorherigen Opfer auch nach Leid und Hilflosigkeit geschmeckt haben. Es ist, wie sie ist. Sie bleibt ein Schmetterling, obwohl sie nicht mehr auf der schönen, hellen, bunten Blume sitzt, sondern auf Lechners Fuß, dem hässlichen, dunklen und bösen Fuß. Sie bleibt sie und viele Tiere, die ihre Beute ganz verschlingen, müssen sie erst andauen. Und ich glaube, das macht auch Lechner, indem er ihnen Angst macht. Die Angst ist seinen Opfer Säure, und dieses Mädchen ("des oame Hascherl") scheint immun dagegen; anfällig für die leiseste körperliche Berührung (und freilich hat es mich gefreut, wie du Medizinisches in Prosa streust), aber unantastbar, was Lechners Bisse in ihre Seele angeht. Sie bleibt sie. Und so kann er sie nicht verschlingen, so muss er sie töten und sich stellen, auch weil sein Spiegel- und Weltbild zusammenbricht und ihm diese Scherben kein Glück bringen werden, wie ihm nie irgendetwas Glück gebracht hat, diesem Kretin, dieser Missgeburt, diesem Wurm, diesem elendem, elendem Wurm.

markus.

 

Hey Glass,

Der Ritt ins Märchenschloss der Vergangenheit ("Andere Menschen als die beiden gab es nicht in diesem Reich."), diese Rückblende, die er Marie auch vorm Schlafengehen hätte erzählen können und vermutlich wäre sie eingeschlafen und hätte von einer schönen Kindheit geträumt, weil es sich so anhört. Würde man Lechner fragen, wie seine Kindheit war, würde er gewiss nicht "fürchterlich" oder "verstörend" antworten, sondern "märchenhaft"
Also das ist schon ein ziemlich zynisches Märchen ... undenkbar, das einem Kind zu erzählen und eindeutig NICHT märchenhaft, hoff ich doch. Ich denke, Lechner bewertet seine Kindheit in überhaupt keine Richtung. Ich hab diesen märchenhaften Ton hier gewählt, einerseits um einen kindlichen Bezug zu haben und andererseits um dem märchenhaften Ton den krassen Inhalt entgegenzustellen und dadurch eine unangenehme Diskrepanz herzustellen.
und da tanzt du an einem Abgrund vorbei, dieses ewige Hindeuten auf das frühere Ich, dieses Erklärende, so wars nicht, so wars, deswegen ist es so, deswegen ist er so, du tanzt zu diesem Abgrund und vielleicht auch noch ein bisschen weiter, aber du stürzt nicht, nein. Hier vielleicht: "Und er zog hinaus in die Welt und bestand zahlreiche Abenteuer.", weil es dann ja kommt, das Bezwingen der Ungeheuer und das hat auch so etwas Stimmiges: Na klar murkse ich den Hund ab, der ist gefährlich, böse - sterblich. So bleibt seine Erinnerung an die Kindheit ein Märchen, das nachhallt in ihm.
In welchen Abgrund stürze ich denn? :)
Aber die Sprache in seinem Kopf und die Sprache aus seinem Mund fliegen mit verschiedenen Flügeln, und er spricht erst ein wenig später, bei der Talkshow freilich nicht Dialekt, weil er DENKT
,
ja, genau, er erhöht sich in seinem Tagtraum
Doch aufspießen - aufspießen kann er Marie am Ende nicht - und meine Vorredner haben davon gesprochen, dass er da realisiert, dass es Menschen gibt, die auch leiden, auch Hilfe brauchen, aber das glaube ich nicht so sehr.
Der Vergleich mit einer Situation aus seiner Kindheit bringt ihn erstmals dazu, das Leid dieses anderen Menschen nachzufühlen. Also ich hoff schon, dass das so rüberkommt, dass er hier erstmals was realisiert.
Die Angst ist seinen Opfer Säure, und dieses Mädchen ("des oame Hascherl") scheint immun dagegen; anfällig für die leiseste körperliche Berührung (und freilich hat es mich gefreut, wie du Medizinisches in Prosa streust), aber unantastbar, was Lechners Bisse in ihre Seele angeht. Sie bleibt sie. Und so kann er sie nicht verschlingen
,
schön gesagt!

Ich danke dir für deine fast nacherzählenden und fein interpretierenden Worte!

Gruß
Andrea

 

In welchen Abgrund stürze ich denn?
Eines Menschen Abgründe in einer Rückblende durch eine gestörte Kindheit zu erklären, hat oftmals einen faden Beigeschmack. Und in dem Abgrund, in den Schriftsteller bei so etwas stürzen können, liegen verbrauchte Klischees oder einfach eine billig konstruierte Motivation für den Protagonisten. Und in diesen Abgrund stürzt du nicht.

So viel zu dem einzigen Fragezeichen, liebe H..

Beste
markus.

 

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