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Ein Regenbogen für Tina und Benjamin

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14.09.2001
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Ein Regenbogen für Tina und Benjamin

"Mama, da draußen ist ein Regenbogen!", jubelte die kleine Tina, während sie zu ihrer Mutter gelaufen kam. Ihr Bruder Benjamin rannte hinterher.
"Das ist ja toll", antwortete die Mutter. Sie backte gerade Plätzchen. Der Vater kam in die Küche und fragte: "Wollen wir den Regenbogen einfangen?"
"Ach, mein Lieber", sagte die Mutter, "das ist doch eine verrückte Idee. Das geht nicht."
Tina und Benjamin aber klatschten in die Hände. Sie fanden, dass es eine sehr gute Idee war. Der Vater nahm eine Dose Puderzucker. "Damit können wir den Regenbogen fangen", sagte er. "Kinder, holt drei kleine Spiegel. Die brauchen wir auch."
Tina und Benjamin holten drei Handspiegel. Danach gingen sie mit ihrem Vater auf die Wiese vor dem Haus. Weit hinten, über dem Wald, stand der Regenbogen. Er war hell und hatte prächtige Farben. Der Vater sagte: "Der Regenbogen rennt vor uns weg, wenn wir ihn ansehen. Wir müssen rückwärts zu ihm gehen und dürfen ihn nur in unseren Spiegeln sehen."
Sie stellten sich nebeneinander in eine Reihe und gingen langsam rückwärts zum Regenbogen. Sie hielten ihre Spiegel so, dass sie den Regenbogen darin sehen konnten. Der Regenbogen rannte nicht weg. Er blieb über dem Wald stehen. Vorsichtig setzte Tina abwechselnd einen Fuß hinter den anderen. Es war nicht einfach, rückwärts zu gehen, während man in einen Spiegel sah. Auch Benjamin strengte sich an. So liefen sie durch die Wiese, während Bienen und Schmetterlinge über den Blumen kreisten. Schließlich erreichten sie den Wald und gingen hinein.
"Wir müssen nun nicht mehr rückwärts laufen", sagte der Vater. "Der Regenbogen kann uns nicht mehr sehen, er hat seine Augen ganz oben. Er sieht uns nicht mehr, weil wir unter den Bäumen sind."
Der Vater nahm alle drei Spiegel in seine große Hand. Dann gingen sie weiter. Bald schon sahen sie ein Bein des Regenbogens zwischen den Bäumen stehen. Es leuchtete in allen Farben. "Wir müssen ganz leise sein", sagte der Vater. Er gab jedem seiner Kinder etwas Puderzucker in die Hand. "Ihr müsst das auf den Regenbogen streuen", erklärte er. "Dann kann man ihn anfassen."
Tina und Benjamin schlichen sich leise von zwei verschiedenen Seiten an. Sie versteckten sich manchmal kurz hinter Baumstämmen, weil sie Angst hatten, der Regenbogen könnte sie doch noch sehen. Tina wollte den Regenbogen unbedingt fangen. Sie war eine Jägerin. Sie umklammerte den Puderzucker fest, weil sie kein Körnchen verlieren wollte. Dann kam sie hinter einem Baumstamm hervor und warf den Puderzucker auf das Bein des Regenbogens. Er jaulte auf. Der Vater rief ihnen zu: "Ihr müsst ihn festhalten!"
Tina packte zu. Dann kam auch Benjamin hinter einem Baum hervor gesprungen und hielt den Regenbogen fest. Fast wäre der Regenbogen entkommen, doch dann kam der Vater dazu und griff ihn ebenfalls. Nach ein paar Minuten wurde der Regenbogen schwächer. Der Vater kniete sich auf ihn und nahm einen dornigen Ast vom Waldboden. Er wickelte den Regenbogen straff um den Ast. Der Regenbogen schrie. Benjamin hüpfte und klatschte in die Hände. "Wir haben ihn gefangen!", freute er sich. Der Vater lachte und wedelte mit dem Ast. Ein kleines Stück vom Regenbogen war nicht aufgewickelt und flatterte lustig wie eine Fahne. Während sie über die Wiese zurück gingen, heulte der Regenbogen. "Wollen wir ihn töten?", fragte Tina. Sie hatte einen großen Stein in der Hand. Der Vater sagte: "Ja, warum nicht? Schlag fest mit dem Stein drauf."
Während ihr Vater den Ast auf dem Boden festhielt, hieb Tina mit dem Stein auf den Regenbogen. Bei jedem Schlag quiekte er wie ein Ferkel. Doch Tina hatte nicht genug Kraft.
"Lass mich das machen!", rief Benjamin. Er nahm den Stein in beide Hände und schmetterte ihn auf den aufgewickelten Regenbogen. Als der Stein den Regenbogen traf, spritzte etwas Wasser in ihre Gesichter. Alle lachten. Doch der Regenbogen wimmerte noch. Da nahm der Vater den Stein in seine behaarte Hand und schlug damit so fest zu, dass der Ast zerbrach. Wieder spritzte Wasser. Nun machte der Regenbogen kein Geräusch mehr. Sie gingen im Sonnenschein zurück zum Haus, von wo der Geruch frisch gebackener Plätzchen kam. Die Mutter begrüßte sie: "Oh, da seid ihr ja endlich. Und ihr habt wirklich den Regenbogen!"
"Ich habe ihn zuerst gefangen!", rief Tina. "Kriege ich dafür ein Plätzchen?"
"Aber natürlich", sagte die Mutter und gab Tina ein Plätzchen. "Aber die anderen kriegen auch eines."
So aßen sie fröhlich die Plätzchen und erzählten dabei von ihrem Abenteuer.
"Aber was machen wir jetzt mit dem Regenbogen?", fragte Benjamin.
"Ich könnte einen Schal daraus machen", schlug die Mutter vor.
"Ich könnte ein Sprungseil daraus drehen", schlug Tina vor.
"Wir könnten ihn in die Mikrowelle tun", schlug Benjamin vor.
So beratschlagten sie, doch sie kamen zu keiner Entscheidung. Irgendwann wurden sie müde und legten sich schlafen.
Der nächste Tag brachte neue Abenteuer, und so vergaßen sie den Regenbogen.
Einige Tage später fand Tina ihn in einer Schublade. Er war grau geworden. "Papa, Papa, der Regenbogen hat keine Farbe mehr", sagte sie aufgeregt.
"Ach, der Regenbogen. Ich kümmere mich darum", sagte der Vater.
Später, als Tina und Benjamin draußen spielten, nahm der Vater den Regenbogen und warf ihn in die Mülltonne.

 

Dann arbeite ich mich mal weiter chronologisch durch die Kommentare ...

Hi Chutney,

was für eine beeindruckende Geschichte! Sie ist so raffiniert gemacht, dass sie für mich schockierener ist, als so mancher Splatterhorror.
Beim Schreiben hatte ich auch ein sehr ungutes Gefühl und fand die Geschichte fast zu krass. Aber das habe ich auf persönliches Empfinden geschoben. Schön, dass du auch so empfindest. :)

Für Jugendliche und natürlich Erwachsene halte ich sie für sehr geeignet. Letztlich passieren die meisten Grausamkeiten dieser Welt ja tatsächlich nicht aus einer Not heraus, sondern z.B. aus einem Konsumverhalten, das ähnlich ignorant gegenüber den Folgen für Schwächere ist, wie in deiner Geschichte beschrieben.
So ist es leider.

Diese Geschichte hat einen geradezu abgründigen Tiefgang.
Harhar, danke. :baddevil:

Gruß
Leif

 

Hej Leif,

puh, schon die Namen der Kinder haben in mir die schlimmsten Befürchtungen geweckt, was den weiteren Verlauf der Geschichte angeht.

Die ganze Regenbogenthematik finde ich sehr gut gewählt. Für mich bringt das eine Nimm-was-Du-kannst-Haltung gut auf den Punkt. Auch insofern schön, weil ein Regenbogen noch weniger Wert besitzt als Luft und Wasser jeweils einzeln für den Menschen haben. Als optisches Phänomen (auch wenn er im Laufe der Geschichte Beine und einen Körper bekommt) ist er praktisch wert- und nutzlos.

Was mir aufgefallen ist: Als fieser Kontrast zu der Brutalität mit der der Regenbogen erbeutet wird, eignet sich die Plätzchen reichende Mutter sehr.
Mich befördert die aber in so eine Werbemutti-Zeit und wird damit dem Bild, was Mütter heutzutage von sich haben oder was ihnen gesellschaftspolitisch angetragen wird in meinen Augen nicht gerecht. Aber okay ... es geht nicht in erster Linie um Mütter ...

... aber der Vater als aktiver Bösnickel und die Mutter mit dem passiven Part ... es wäre schön gewesen, wenn es da irgendeinen Bruch gegen hätte ... aber okay, es geht nicht in erster Linie um Eltern, ich seh das jetzt ein ...

Hat mir gut gefallen. Würd ich bestimmten Kindern ab einem bestimmten Alter sogar vorlesen - und ihnen danach viele Fragen stellen wollen.

Gruß
Ane

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi dotslash,

Ha, erwischt, Leif.
Klasse gemacht, der Text kommt sehr subtil daher, als Wolf im Schafspelz quasi.
Danke, das freut mich.

Denn auch ich muss mich hinterfragen: Warum löst erst der dornige Ast bei mir ambivalente Gefühle aus, und nicht schon das Einfangen dieses zarten Lichtwesens, dessen Schönheit sich vor allem aus der Distanz voll entfaltet.
Vermutlich, weil wir an Spiele wie diese schon so gewöhnt sind.

Danke für diese kluge, zum Weiterdenken anregende Geschichte.
Sehr gern. Ich bedanke mich hiermit auch für diesen Dank.

Bei der Biotonnen-Frage bin ich klar auf Linie Bea Milana/Peeperkorn. Mülltrennung wäre ein falsches Signal und würde den Schluss versauen.
Zwar nicht vor den Kindern, aber einfach ab in den Müll damit, ohne nachzudenken, passt. :D
Das ist ein ganz heißes Eisen. Die Tonnenfrage könnte man auch in einer Umfrage klären. ;)

Es freut mich, dass dir die Story gefallen und auch wie geplant gewirkt hat.

Gruß
Leif


edit: Statt eines neuen Beitrags, um die Story nicht unnötig zu pushen:

Hallo Herr Schuster,

Die beste Kindergeschichte, die ich je gelesen habe. Leo Tolstoj wäre sehr neidisch auf sie.
Das verstehe ich zwar nicht ganz, aber danke. Was nun wirklich eine gute Kindergeschichte ausmacht, ist, finde ich, nicht allzu gut definiert.

Nur bei Tinas Frage, nach Töten des Regenbogen werde ich gezwungenerweise stutzig und frage mich, ob es sich hier dabei doch nicht um eine Monsterfamilie handelt. Und an dieser Stelle würde ich sagen: Ja, es ist eine Monsterfamilie - also, keine echten Menschen.
Das ist ein interessanter Gedanke.

Mir ist schon klar, was deine Geschichte vermittelt: dass wir selbst zu Vernichtern unserer Umwelt/Umgebung, zu Mördern unseres Glücks werden - bewusst und zielstrebig. Meines Erachtens sind wir es aber nicht. Ich tendiere mehr dazu zu sagen, dass wir es mehr aus "Unwissenheit", Verdrängung der Tatsachen, Kurzsichtigkeit, wegen dem inneren Faulenhund machen. Also, Tinas gezielte bewusste Frage mit dem implementierten Wunsch, den Regenbogen zu töten, muss meiner Meinung nach gegen Unterbewusste/Versehentliche ausgetauscht werden. Wie es oft bei den Kindern der Fall ist, wenn Haustiere versehentlich gequällt oder aus Versehen umgebracht werden: Danach wundert sich man, warum das Kätzchen nicht mehr aufsteht und mitspielt.
Im Wesentlichen gebe ich dir da recht. Tina verhält sich brutaler als normale Kinder. Da die Geschichte nur einen Ausschnitt aus ihrem Leben zeigt, kann es auch auf eine untypische Erziehung zurück zu führen sein. Daher finde ich es nicht so völlig unplausibel, auerßdem ist die Schockwirkung beim Leser wertvoll.

Wenn es so bleibt, wie es ist (Wunsch nach Töten), dann entsteht bei mir gleich die Frage, ob der Regenbogen etwas GEfährlicheres darstellt, eine Plage zum Beispiel. Wie Kaninchen in Australien, die man wahllos tötet, auch zum Spaß. Oder, ob es sich bei dieser FAmilie um eine homophobe Untergrundsbewegung handelt, die alles totschlägt, was mit perversen sexuellen Orientierung zu tun hat...
Deine erste Idee finde ich sogar überlegenswert als Basis für eine andere Geschichte oder fiktive Welt. Die zweite wäre eine etwas weitere Deutung, aber durchaus möglich, siehe ernst offshores Kommentar.

Oder eine Familie, die den Vertrag mit dem allmächtlichen Gott, seit Noahs Zeit, um jeden Preis kündigen möchte.
Auch das ist interessant assoziiert. Das müsste man dann aber irgendwie am Ende oder in der Pointe erwähnen. Für die nicht so bibelfesten Leser: http://www.bibel-online.net/buch/luther_1912/1_mose/9/.

Wenn Du mehr Freude seitens der Kinder im Vorfeld der (für den LEser unmöglich erscheinenden) Begegnung mit dem Regenbogen plazierst, dies mehr als ein Fangspiel darstellst, mehr als sinnliches Märchen, wäre es eine Spitzenleistung: z.B. Tina: "Ach ich freue mich so! Ich liebe Regenbogen über alles in der Welt!" Oder dass der REgenbogen im Streit zwischen den Kindern "versehentlich" verletzt wird...
Auch das wäre möglich und würde die Dramatik sicher steigern. Tatsächlich könnte man dadurch die Geschichte wirklich kindertauglich und lehrreich machen. Das wäre natürlich eine ganz andere Variante, die ich neu schreiben würde, statt die jetzige Variante anzupassen.

Die Geschichte ist auf jeden Fall äußerst sehr gut. Jeder kann seine eigene Schlüsse daraus ziehen.

(Ansonsten) äußerst gerne gesehen!

Herr Schuster

Danke für diese abschließenden, schönen Worte. :)

Gruß
Leif

 

Also schreibe ich doch einen neuen Beitrag. Ein weiteres Mal kann ich den vorherigen Beitrag nicht bearbeiten, der ist schon arg unübersichtlich.

weil deine Intention und meine Reaktion so gut harmonieren und mich aber ziemlich irritiert, muss ich nochmal nachhaken. :shy:

Ist es nicht üblich, vor allem bei Kurzgeschichten, alles und jedes genau zu erwägen und wirken zu lassen?

Natürlich, ich erwarte nichts Anderes. Aber ich persönlich fand es bemerkenswert, mit was für einer Feinheit und auf welche Art du das siehst.

Es ist jetzt auch mir klar, dass diese Geschichte nicht nur zeigen, sondern verstören will. Aber Mitleid erregt der gefangene, misshandelte Regenbogen bei mir eben ganz und gar nicht, weil es eben derart abstrakt ist, dass es völlig verfremdet und ich eine extreme Distanz aufgebaut habe. Zu allen Protagonasten und dem ... Regenbogen.
Ein schönes Beispiel dafür, wie unterschiedlich wir Menschen sind. Mir persönlich tut der misshandelte Regenbogen leid. Und ich könnte es mir nicht anders vorstellen.

Na gut. Aber ich würde diese Geschichte weder kaufen, noch vorlesen. Auch nicht hübsch illustriert. :D
Dann gib mir das Geld eben einfach so. :naughty:

Dank und Gruß
Leif

 

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