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- 04.08.2001
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Ein Pakt und von der Schwierigkeit, ihn einzuhalten
Da ich weiß, dass dies hier nicht dem entspricht, was jeder erwartet, sage ich vorweg, was dieses Stück für mich ist. Ich würde es als eine Art Horror-Melodram bezeichnen, wobei die Betonung auf Melodram liegt. Dankeschön.
Juli des Jahres
Kein Lüftchen regte sich in dieser Sommernacht. Dieselben schweißtreibenden Temperaturen wie in der letzten Nacht. Und in der Nacht zuvor, ebenso wie der davor und der vorhergehenden. Immer dasselbe Bild, keine Veränderung.
Hagen öffnete die Tür zu seinem Haus vorsichtig und bemühte sich, kein Geräusch zu machen. Maria würde schon schlafen, das war in Ordnung.
Nachdem er sie sanft geschlossen hatte, lehnte er sich erschöpft von innen gegen die Tür und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Die Hitze hatte die Gegend seit Wochen im Griff, kaum noch Erinnerungen an den letzten Regen. Die Erde war mit der Zeit knochentrocken geworden, das Laub an den Bäumen welkte, das Gras verbrannte. Es lag eine Apathie über dem Land, eine lähmende Trägheit, die nichts mit Ruhe gemein hatte, sondern mit Tod und Ersticken.
Er zog das Shirt über den Kopf, während er langsam durch das stille Haus ging, ohne Licht zu machen. Maria hatte alle Fenster geöffnet, doch die Gardinen hingen schlaff herunter, keine Kühlung, nur Hitze, welche die Luft selbst jetzt noch flirren ließ.
Im Bad endlich knipste er eine Lampe an und gab sich keine Mühe mehr, leise zu sein. Wenn seine Frau schlief, würde sie ihn hier nicht hören können.
Nachdem er sich vollständig entkleidet hatte, stieg er unter die Dusche und drehte das kalte Wasser an. Während die Tropfen an seinem Körper abperlten, dachte er, dass es sich so anfühlen musste, wenn man draußen im Regen stand, wenn der Himmel sich öffnete. Er genoss die Abkühlung.
Vor kaum 30Minuten noch war er unterwegs gewesen auf seinem Land. Er war mit seinem alten Landrover über die Weiden gefahren und hatte sich davon überzeugt, dass alles ruhig war. Dass kein Wild sich in den ohnehin schon mickrigen Maispflanzen aufhielt, dass das Vieh unbehelligt in den Unterständen schlief. Er hatte noch einmal die Zäune kontrolliert, war hochgefahren bis zum Fluss, der kein Fluss mehr war, eher ein Bach und dessen schmutzig-trübes Wasser kein bisschen mehr floss, nur noch stand und wie die gesamte Natur zu warten schien.
Alles hing zusammen! Wenn es nicht bald regnete, wenn der Fluss nicht schnellstens neue Nahrung bekam und nicht endlich wieder zu fließen begann, dann wäre die Hoffnung gänzlich verloren. Nicht nur für das Ufer, das immer trostloser wurde und kaum noch Leben zeigte. Die ganze Region hier war auf das Schicksal des Lebensspenders angewiesen.
Jeder größere Hof in der Gegend litt unter der Hitze und der Trockenheit. Der Mais wuchs nicht, er schien zu harren und auf den nächsten Guss zu warten. Das Vieh teilte sich immer weniger Wasserstellen und die paar, die noch übriggeblieben waren, waren verdreckt, stanken fürchterlich und die Entstehung von Krankheiten ließ sich nicht mehr lange vermeiden.
Das Gras auf den Wiesen hatte jede Saftigkeit verloren. Die Flächen waren braun, niedergetrampelt und die Stellen, an denen der graue Sandboden hervortrat, wurden immer größer.
Er trocknete sich ab, während er in die Küche ging. Er zog sich nichts an, jedes Kleidungsstück war zuviel und es war niemand hier, den es stören würde.
Aus dem Kühlschrank nahm er sich ein Bier und einen Teller mit Sandwichs, den Maria ihm vorbereitet hatte. Er setzte sich an den Tisch, nahm sich die Zeitung vor, aß langsam die Brote und trank zwischendurch Schluck um Schluck sein Bier.
Er musste sich etwas einfallen lassen, das war klar. Er konnte nicht so tun, als würde die Lage besser, wenn er mit seinem Fahrzeug über die Ländereien fuhr und das Elend inspizierte. Jedes Mal wenn er an den Rindern vorbeikam, hatte er den Eindruck, als blickten sie hoffnungsvoll zu ihm herüber und erwarteten von ihm eine Besserung der Lage. Aber er konnte keinen Regen zaubern. Er war nicht in der Lage, die Wolken, die dann und wann am Horizont vorbeizogen, zu halten und zum Abregnen zu zwingen, niemand konnte das.
Er schaute nur genauso hilflos wie all die anderen Bauern auf das einst blühende Leben seines Heimatortes und zermarterte sich das Hirn nach Lösungen.
Er hörte durch das Fenster eine Grille zirpen. Seltsam, dachte er bei sich, sie muss schon die ganze Zeit hier gewesen sein. Sie war ihm nicht aufgefallen, er hatte sie nicht gehört. Dabei war das Insekt so etwas wie das Sinnbild dieses Sommers geworden. Keine Nacht verging, ohne dass dieses Zirpen gleich nach Sonnenuntergang bis in die Morgenstunden zu hören war, Totenstille, kein Geräusch – nur diese Grille.
Er stand auf und nahm sich noch eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Er schlug den Lokalteil der Zeitung auf und schaute ihn flüchtig durch. Alle klagten über die Hitze. Die Temperaturen waren einzigartig für diesen Landstrich, noch niemals vorher hatte man einen derartigen Sommer erlebt.
Ein Geräusch ließ ihn hochschrecken. Ein kurzes Scharren, als würde etwas über den Fußboden geschleift.
Die Grille war ruhig, alles still, atemlos lauschte er.
Maria kam um die Ecke, nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet, und trat in die Küche.
„Maria!“ Erleichtert ging er auf sie zu und nahm sie in die Arme. „Hast du mich erschreckt. Ich glaubte, du schläfst.“
„Nicht möglich“, sagte sie leise. „Die Hitze.“
Als er Anstalten machte, sich von ihr zu lösen und sich wieder an den Tisch zu setzen, flüsterte sie: „Komm mit ins Bett! Es nutzt nichts, wenn du dir hier den Kopf zermarterst.“
Er nahm einen tiefen Schluck und starrte sie an. Er hatte versucht, es sie nicht merken zu lassen, wie er litt unter der Lage.
„Ich meine, auch wenn du hier sitzt und grübelst, wird kein Regen kommen. Genauso gut kannst du mit ins Bett kommen und dich endlich ausschlafen.“
Als er noch immer sitzen blieb: „Hagen, bitte! Warum quälst du dich unnötig? Du bist nicht Schuld an der Lage, und sie wird nicht besser, wenn du hier sitzt und dir Vorwürfe machst.“
„Ich bin verantwortlich für die Farm“, stieß er hervor. Leise setzte er hinzu: „Und für diese Familie, auch wenn sie nur aus uns beiden besteht.“
Vor drei Jahren hatten sie geheiratet, und er war optimistisch gewesen, Maria und sich mit dem ernähren zu können, was der Hof abwarf. Er hatte sich sogar auf ein Baby gefreut, doch nun schien alles zu scheitern. Die Farm, die er von seinem Vater übernommen hatte, lief nicht und drohte jetzt, bei den Verlusten, die er zu erwarten hatte, vollkommen unrentabel zu werden. Wenn das Gehöft unterging, war er Schuld, dann hatte er versagt und niemand konnte ihm diese Last abnehmen.
Und dann das Baby!
Es schien, als wäre er nicht einmal dazu fähig, als hätte Gott beschlossen, dass er es nicht wert sei, sich fortzupflanzen. Seine Gene hatten nichts zu bieten, das sich lohnte, an die nächste Generation weitergereicht zu werden.
Ein organischer Schaden war dafür nicht verantwortlich, jedenfalls soweit das feststellbar war.
„Weiterprobieren“, hatte der Arzt süffisant lächelnd geraten. „Irgendwann klappt es.“
„Es wird regnen“, sagte Maria leise, aber mit Nachdruck. „Bestimmt!“
„Aber wann?“ Er trank den letzten Rest des Bieres und räumte die Flasche und das Glas fort. „Dass es regnen wird, ist gewiss. Irgendwann bricht der Tag an. Natürlich! Doch wie lange wird das dauern? Wann wird diese...“ – er spie das Wort förmlich aus – „...Hitze vorbei sein? Wann hat die Qual ein Ende?“
„Hast du denn gar keine Hoffnung?“
„Hoffnung? Bei dieser Lage? Vor einem Monat, da hatte ich noch Hoffnung, da war ich mir gewiss, dass es noch rechtzeitig regnen würde. Vor einem Monat, ja. Niemand, kein Mensch hat damit gerechnet, dass diese Hitze und die Trockenheit so lange anhalten würde. Alle waren davon ausgegangen, dass es rechtzeitig regnen würde. Das hat es ja auch.“ Er lachte bitter auf. „Aber nicht hier bei uns.“ Er nahm seine Frau bei der Hand und während sie sich weiter unterhielten, gingen sie langsam nach oben ins Schlafzimmer.
„Das Grauenhafteste an unserer Situation“, fuhr er fort und flüsterte dabei, obwohl niemand sie hören konnte. „Das Schrecklichste ist, dass es hundert Kilometer weiter munter vor sich hin regnet. Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, doch es war keiner darunter, der mir erklären konnte, warum das so ist, warum die Nachbarorte außerhalb dieser Hundertkilometerzone normales, durchschnittliches Wetter haben. Gut, die Hitze ist dort ebenso wie bei uns, aber der Regen, der Regen! Er scheint unser Gebiet zu meiden, die Wolken machen einen Bogen um unser Land!“
Es berührte ihn eigenartig zu sehen, wie zerwühlt Marias Bett war und seines dagegen unberührt, glatt und rein. Er setzte sich aufs Bett und atmete geräuschvoll aus.
„Es wird regnen“, probierte es Maria noch einmal. Sicher morgen schon, spätestens übermorgen, du wirst sehen.“
Stumm schüttelte er den Kopf.
Um ihn abzulenken sagte sie: „Am Rande der Dreenstedt-Weiden soll jemand campieren.“
Er erwiderte nichts, blickte sie jedoch fragend an.
Sie merkte, dass er interessiert war und fuhr fort: „Ein merkwürdiger Mann, so erzählt man sich im Dorf, steht dort mit einem alten Wohnmobil.“
„Was denn, dort draußen? Was soll das denn?“
Die Dreenstedt-Weiden grenzten nicht unmittelbar an ihre Ländereien, ein dichter Kiefernwald lag dazwischen. Deshalb hatte Hagen davon nichts mitbekommen.
„Seit einigen Tagen steht er wohl schon dort, sitzt den ganzen Tag vor seinem Fahrzeug und scheint zu warten.“
„Und was sagt Dreenstedt dazu?“
„Ach“, sie lächelte und legte einen Arm um Hagens Schulter. „Du kennst doch den alten Muffelkopf. Dem ist das egal.“
„Wie dem auch sei“, erwiderte Hagen, während er sich zu seiner Frau hinüberlehnte. „Ich werde mir den Bruder morgen mal ansehen. Kann eh nicht viel tun bei dem Wetter.“
Damit rückte er näher heran und gab seiner Frau einen langen Kuss.
Mai des folgenden Jahres
Hagen stand in dem Zimmer, das einst ihr Schlafraum gewesen war und blinzelte in die Vormittagssonne. Der Tag versprach, wieder prächtiges Wetter zu bringen. Er hatte die Rinder soweit versorgt und wollte sich nun möglichst bald zusammen mit Jacques, seinem einzigen Angestellten, daran machen, den Mais auszusäen. Der Boden war schon einigermaßen warm und nicht allzu feucht, günstige Bedingungen. Und die mussten genutzt werden.
Ihr gemeinsames Schlafzimmer lag jetzt genau einen Raum weiter, er war zwar größer, aber wenn es mal dazu kam, hatten sie beide hier drinnen die Morgensonne genossen. Das würde jetzt jemand anderes tun können. Durch die Ecklage dieses Zimmers hatte man fast den ganzen Tag über die Sonne hier drinnen. Genau richtig für ein Kinderzimmer.
Maria war mit der Kleinen in die Stadt zum Arzt. Eine Routineuntersuchung, die das Baby im ersten Lebensjahr noch öfter über sich ergehen lassen müsste. Eigentlich hatte sie schon zurücksein sollen, Hagen wartete nur darauf, seiner Frau und seiner Tochter „Guten Tag“ zu sagen. Er war schon früh aus dem Haus heute morgen, nichts Besonderes also, und sie hatten sich noch nicht gesehen.
Im Licht der Sonnestrahlen sah er Staubflusen wie feiner Nebel über dem Kinderbettchen wirbeln. Hinauf und hinunter, vollkommen planlos und nicht vorhersagbar war ihr Tanz über der leeren Wiege. Es kam ihm bedeutungsvoll vor, doch er vermochte nicht zu sagen, weshalb.
Dann kamen beide nach Hause. Er hörte die Tür unten klappen und im selben Moment schon die Stimme seiner Frau, die zärtlich mit der Tochter sprach. Schritte auf der Treppe, langsam, zögernd, als hätte sie nebenbei noch etwas zu tun, und dann trat sie ein.
Sie lachte, während sie ihre Jacke abstreifte und auf den Boden gleiten ließ. Ihr Gesicht war gerötet, wohl von der Anstrengung, die Kleine zu tragen, die sie im Arm hielt. Er ging sofort auf sie zu, küsste sie und nahm ihr die Tochter ab. Das Kind hatte fast geschlafen und schlug jetzt träge die Augen auf. Sich in Sicherheit wissend, klappte die Kleine die Augen wieder zu und schlief endgültig ein. Er lächelte und gab ihr einen leichten Kuss auf die Wange. Dann zog er ihr vorsichtig das Jäckchen aus und legte sie in ihr Bettchen.
„Was hat Doktor Klaasen gesagt?“, fragte Hagen leise.
Maria lächelte und erwiderte dann: „Alles in Ordnung. Die Kleine entwickelt sich vollkommen normal. Wir können zufrieden sein, sagt er. Alle kamen sie und standen herum und wollten die Kleine bewundern. Und sie freuten sich, dass es doch noch geklappt hat und viel Glück, na ja, du weißt schon, bla-bla-bla!“
Sie gingen hinunter und tranken draußen, auf der Terrasse, Kaffee. Hagen hatte nicht viel Zeit, er wollte die Aussaat möglichst bald beendet haben. Doch er wollte auf keinen Fall die wenigen Minuten, die er mit Maria verbringen konnte, verkürzen oder mit sinnlosen Grübeleien verbringen. Es standen ihnen ohnehin einige Monate bevor, in denen ihre gemeinsame Zeit recht rar sein würde.
Sie plauderten über belanglose Sachen. Die Zeit war entspannt geworden, die Sorgen kleiner. Nachdem sich im letzten Jahr ganz unverhofft und ohne Vorankündigung die Spannungen gelöst und das große, das wirklich große Elend im letzten Augenblick abgewendet wurden, indem sich mir nichts dir nichts ein Regengebiet über die Ländereien schob und seine erlösende Last drei Tage und Nächte lang abwarf, war Hagen wieder lockerer geworden. Er grübelte weniger, sein Gesichtsausdruck lockerte auf, er war nicht mehr ständig abwesend. Als Maria ihm dann mitgeteilt hatte, dass sie schwanger sei, das es endlich geklappt hatte, da war sein Glück perfekt gewesen. Vergessen waren die sorgenvollen Stunden, in denen er sich Gedanken gemacht hatte um seine und die Zukunft seiner Frau. Es schien wieder zu laufen und die Verantwortung, die er einst übernommen hatte, schien ihm nicht mehr gar so schwer.
„Kannst du dich noch an den seltsamen Alten erinnern, der letztes Jahr draußen auf den Weiden für ein paar Tage sein Wohnmobil aufgestellt hatte?“, fragte Maria, während sie ein Frühstücksei köpfte.
Er hielt in seiner Kaubewegung inne und fragte tonlos: „Was ist mit ihm?“
Sie ließ sich Zeit, bestreute das Ei sorgfältig mit Salz und aß dann zufrieden davon. Sie schluckte und: „Nun, er ist wieder da. Dieser komische alte Mann. Er hat sein Domizil an derselben Stelle aufgeschlagen wie im letzten Jahr.“
Ohne den Blick vom angebissenen Frühstücksei Marias zu wenden und ohne die Tonlage im Geringsten zu senken, fragte Hagen leise: „Tatsächlich?“ Seine Kiefer mahlten.
„Ja, seltsam, nicht wahr?“ Sie schien Hagens Reaktion nicht zu bemerken. „Auf genau demselben Platz, mit eben jenem Gefährt, das er im letzten Jahr benutzte. Ich habe ihn ja nur von Weitem gesehen, aber ich kann mir lebhaft vorstellen, wie er angezogen war. Er war ja mindestens eine Woche das Hauptgesprächsthema im Dorf. Obwohl er ja nach zwei Tagen mir nichts dir nichts über Nacht wieder verschwunden war.“
„Am Tag, nachdem du mir von ihm erzählt hast“, bemerkte er völlig in Gedanken verloren. „Genauer gesagt, in der Nacht darauf.“
Sie sah ihn nur kurz erstaunt an, bevor sie fortfuhr: „Hast du ihn gesehen?“
„Flüchtig.“
„Und, wie fandest du ihn?“ Sie versuchte beiläufig zu klingen.
„Ich fand ihn...“, er suchte nach Worten. „...unheimlich.“
„Na ja“, meinte sie enttäuscht. „Unheimlich nun nicht gerade. Er kam mir eher ein bisschen albern vor in seiner Aufmachung.“
„Seine Kleidung, ja. Aber wärst du ihm nahe genug gekommen...“
Marias Interesse war endgültig geschürt. Es passierte nicht viel hier in dieser ländlichen Gegend. Das Kind war nicht Ablenkung genug und so war dieser Vorfall als Abwechslung hochwillkommen.
Doch sosehr sie sich auch mühte, etwas Genaueres von Hagen zu erfahren, er blieb merkwürdig verschlossen bei dem Thema.
Kein Wort verlor er mehr über diesen seltsamen Mann.
Stunden später war er mit Jacques beschäftigt bei der Maisaussaat. Er hatte vor, das Gemüse vollständig am heutigen Tage auszubringen und sie kamen gut voran.
Spät am Abend, es war schon dunkel und die beiden schweren Fahrzeuge hatten alle verfügbaren Scheinwerfer eingeschaltet, hatten sie ihr Tagwerk vollbracht.
Die beiden Männer standen am Feldrand neben den Traktoren und verabschiedeten sich voneinander, als eine scharfe Stimme vom Weg oben kommend sei herumfahren ließ.
„Hagen Traufenberg! Ich bin gekommen, deine Schuld einzufordern.“
Totenstille. Kein Laut.
Der Wind schien erstorben.
„Wer ist da?“
„Du weißt, wer ich bin. Du hast mich erwartet.“
Jacques ging zu seinem John Deere und drehte den Suchscheinwerfer in die Richtung, in der er den Rufer vermutete.
Oben auf dem Weg vor dem Wald, keine 30 Meter entfernt, stand er: Ein Mann mit einem schweren, schwarzen Ledermantel, der bis auf die Erde reichte, sogar auf dem Boden auflag. Sein Alter war auf diese Entfernung schwer zu schätzen, ein Bart, der ihm kraus bis auf die Brust hing, verdeckte den größten Teil seines Gesichts. Auf dem Kopf trug er einen Stetson, ebenfalls schwarz und ledern.
Er schien kein bisschen geblendet von dem starken Licht. Ohne zu blinzeln starrte er Hagen an.
„Was reden Sie da“, stammelte der. „Was reden Sie denn da für einen Unsinn?“
„Keinen Unsinn, Hagen. Das weißt du genau. Du wirst dich nicht darum drücken, deine Schuld zu bezahlen.“ Und dann donnernd und von überall herkommend: „Nicht wahr, Hagen?“
Damit schloss der Fremde den Mantel mit einem kühnen Wurf, drehte sich um und wurde alsbald von der Dunkelheit verschluckt.
Hagen und sein Gehilfe standen einige Minuten stumm und starrten in die Finsternis dem Alten hinterher.
Jacques fand als erster seine Fassung wieder.
„Wer war das?“, fragte er mit brüchiger Stimme. „Was war das?“
„Kümmere dich nicht darum, Jacques. Diese Sache geht dich nichts an.“ Hagen drehte sich um und stieg auf seine Zugmaschine. Über die Schultern zu dem anderen Mann gewandt, rief er: „Vergiss diesen Vorfall! Mach jetzt Feierabend. Fahre nach Hause und lege dich ins Bett! Morgen haben wir beide viel zu tun!"
Juli des Jahres
Maria war schnell eingeschlafen, nachdem sie voneinander gelassen hatten.
Hagen hatte noch lange wachgelegen, ins Dunkel gestarrt und nachgedacht. Er hatte gespürt, wie sich Schweiß immer wieder neu gebildet hatte und seinen Körper hinuntergelaufen war.
In der Phase des Dämmerzustandes, zu dem Zeitpunkt, kurz bevor er hinüberglitt, hatte er einen Entschluss gefasst, der ihm in diesem Moment des Schwebens nicht ein bisschen abwegig vorkam oder gar fantastisch. Vielmehr erschien er ihm als einziger Ausweg aus dieser fast hoffnungslosen Lage.
Am Mittag des folgenden Tages dann, als alles wieder ermattet von der drückenden Hitze zurückgezogen in Häusern und Höhlen lag und ruhte, stieg er in seinen Landrover und fuhr los, trotzdem ihm sein Vorhaben jetzt, bei Tageslicht besehen, reichlich naiv und unrealistisch vorkam.
Er fuhr langsam durchs Dorf und keine Menschenseele war zu sehen. Flirrend lag die Hitze über der Straße, Staub wurde aufgewirbelt, als er darüber fuhr.
Er kam vorbei an seinen Maisfeldern. Wo sonst sattgrün die vorherrschende Farbe war, hatte sich braun und gelb dazwischen gemischt. Die Pflanzen standen gebeugt unter der brütenden Sonne wie alte Männer. Er wandte den Blick ab.
Ein ähnlicher Anblick bot sich ich auf den Weiden. Kaum Gras mehr fürs Vieh, schon gar nicht saftig. Die Rinder standen dichtgedrängt unter einer Gruppe von kahlen Bäumen. Wieder schauten sie ihm nach und er meinte stummen Vorwurf in ihren Augen sehen zu können.
Er musste durch einen Kiefernwald fahren und der leise Motor seines Fahrzeuges war das einzige Geräusch, das er hörte. Das flackernde Licht der Sonne, das sich Bahn brach durch die dichten Baumkronen, verbreitete eine fiebrige Unruhe, die sich sofort auf ihn übertrug. Seine Hände verkrampften sich um das Lenkrad, so dass er Hindernissen auf dem Waldweg kaum vernünftig ausweichen konnte.
Dann öffnete sich der Wald, das Licht wurde gleißend und übergangslos konnte er sein Ziel sehen – das Wohnmobil des Alten.
Mai des folgenden Jahres
Auch wenn Hagen zu Hause mehrere Flaschen Bier hinuntergestürzt hatte und meinte, sich damit Müdigkeit angetrunken zu haben, konnte er in dieser Nacht kein Auge zutun.
Mit rasendem Herzen lag er in seinem Bett und dachte nach.
Der Alte war zurückgekehrt, so wie er es damals angekündigt hatte. Er war wiedergekommen und hatte die Begleichung der Schuld gefordert. Hagen hatte nicht für möglich gehalten, dass dies passieren könnte.
Eine Schuld war eine Schuld, so einfach war das. Er hatte etwas bekommen und nun musste er dafür bezahlen. Er konnte auch nicht in Klädens Geschäft seinen Wocheneinkauf tätigen, ohne dafür den Preis zu entrichten.
Nicht, dass er die Schuld abgelten musste, bereitete ihm Nöte. Er war sich im Klaren darüber, dass er zahlen musste, dass er zahlen würde. Er würde nicht umhinkommen, das zu tun.
Die Art des Preises ließ ihn nicht schlafen. Auf einem feuchten Kissen warf er sich von der linken auf die rechte Seite, auf dem Rücken ebenso sehr wie auf dem Bauch liegend quälten ihn die Gedanken. Er suchte nach Lösungen, indem er aufstand und durch das Haus wanderte, er ging hinaus, setzte sich auf die Bank und rauchte im lauen Mondschein eine Zigarette. Was sollte er tun?
Soweit ging seine Verzweifelung, dass er seine Frau, dass er Maria weckte, ihr mit tränennassen Augen alles erzählte und danach erleichtert aufatmete, als sei eine Last von ihm genommen.
Juli des Jahres
Zaghaft klopfte er an die Tür des Gefährts. Es war ein handelsübliches Wohnmobil, ein wenig verrostet zwar, doch ohne Zweifel fahrtüchtig und gangbar.
Er stand direkt in der Sonne, so musste es kochend heiß sein im Inneren. Statt einer Antwort öffnete sich die kleine Tür wie von selbst und schwang nach innen.
„Hallo.“ Er hatte ein Kratzen im Hals, die Zweifel an seinem Vorhaben wuchsen stetig. Noch einmal „Hallo! Ist jemand zu Hause?“
Die Stimme, die leise und schnarrend erklang, ertönte hinter ihm, direkt an seinen Ohren. „Ich habe Sie erwartet, mein Freund.“
Hagen schnellte herum, doch da war niemand.
Aus dem Inneren des Wagens kam ihm eine Person entgegen. Sie hielt ihm die Hand hin und machte eine Bewegung, er solle eintreten.
Er konnte die Person nicht vollständig erkennen, es war dunkel in dem Raum. Als die Gestalt näher kam, sah er die seltsame Aufmachung.
Trotz der Hitze trug der Alte einen schweren Ledermantel, der bis auf den Fußboden reichte. Ein lederner Stetson auf dem Kopf und ein dichter Bart im Gesicht.
Hagen schätzte, dass der Mann die siebzig schon hinter sich gelassen hatte.
„Nun kommen Sie schon rein“, sagte er ungeduldig und zog ihn fast schon unsanft in den Wohnwagen.
Dämmrige Gelassenheit. Es war kühl hier drinnen, kühl und weitaus größer, als das Vehikel den Anschein gemacht hatte. Eigentlich war es schon unwahrscheinlich, wie weiträumig der Innenraum des Caravans war.
Als Hagens Augen sich an das Schimmerlicht gewöhnt hatten, das durch fast verschlossene Luken fiel, konnte er erkennen, dass der Alte fast zwanzig Schritte brauchte, um bis an die andere Seite zu gelangen, wo über die ganze Front ein Wandschrank stand, der auch nicht gerade klein war. Das Ganze hier machte eher den Eindruck einer finsteren Höhle, als ein sauberes, aufgeräumtes Wohnmobil. Fast hätte er erwartet, ein Feuer in der Mitte des Raumes zu sehen.
Der Alte knipste eine müde Deckenleuchte an, die es kaum fertig brachte, Licht in die hintersten Winkel zu senden.
„Setzen Sie sich, Hagen Traufenberg!“ Damit wies er auf einen Klappsessel, der in die Seitenwand eingelassen war.
Ohne sich darüber zu wundern, woher der Alte seinen Namen kannte, nahm er Platz. Dann starrten sie sich an.
Das fahle Licht spiegelte sich in dem schwarzen Ledermantel, den der Mann auch jetzt noch nicht abgelegt hatte.
„Ich bin gekommen, Sie um Rat zu bitten“, begann Hagen stockend.
„Ich weiß“, sagte der Alte lächelnd und stand auf. Er drehte sich um seine eigene Achse, wie um Hagen zu gefallen. Und Hagen sah, dass der Mantel des Alten von einem Moment auf den anderen voller Tropfen war – er war regennass! Und auf dem Boden, zu seinen Füßen, hatte sich eine Pfütze gebildet.
Hagen war verwirrt, er wusste nicht, wieweit er hier drinnen seinen Sinnen vertrauen konnte. Er sah eine Fliege durchs Zimmer schweben, konnte erkennen wie ihre Flügel flirrten. Sie setzte sich auf den Mantel seines Gegenüber und kein bisschen war davon zu sehen, dass sie behindert wurde durch Feuchtigkeit und Nässe.
„Ich glaube“, sagte er schüchtern, während er sich halb erhob, „ich glaube, ich irrte mich, ich habe Träumen nachgehangen und war der Realität entflohen.“
„Sie wollen Ihre Farm retten, nicht wahr?“ Der Alte war, ohne dass Hagen etwas bemerkt hatte, aufgestanden und zu ihm herübergeschwebt. Sanft, fast zärtlich drückte er ihn zurück auf seinen Sitz. „Das kann ich verstehen. Man klammert sich an jeden Halm, sei er auch noch so dünn. Ein Mann sollte sich nicht dafür schämen müssen, dass er alles versucht, seine Familie zu ernähren.“
„Es ist seltsam.“ Hagen starrte vor sich hin. „Es ist, als sollte meine Familie ausgerottet werden, was ich aufbaute, will irgendjemand niederreißen.“
„Du hast eine Verantwortung.“
„Oh ja, das habe ich. Und sie wiegt schwer.“
„Du hast eine Wahl getroffen, eine gute Wahl. Ich will dir zeigen, wie gut sie ist.“ Damit stand er auf und Hagen kam es so vor, als schwebe der Alte unter seinem Mantel einige Zentimeter über dem Boden. Er breitete die Arme auseinander und wandte das Gesicht nach oben. Mit geschlossenen Augen murmelte er eine leise Litanei in Richtung Decke.
Und dann passierte das, was Hagen im Innersten seines Herzens erhofft, aber niemals erwartet hatte. Sein Glauben in diesem Moment war so stark, er hatte plötzlich Hoffnung und die Gewissheit gefunden, das Richtige getan zu haben. Über ihren Köpfen, nur wenige Zentimeter unter der Decke, schwebte eine kleine Wolke, schwarz und bauchig, aus der kleine Miniaturblitze zuckten und aus der jeden Moment Regen fallen wollte.
Hagen war nicht überrascht. Er sah hinauf und wusste, er hatte alles richtig gemacht. Und als dann tatsächlich dicke Tropfen, zunächst einzeln, dann in einem dichten Schleier herabfielen, da war er froh, hierher gekommen zu sein.
Sie sahen beide schweigend zu, wie die Wolke leer regnete und sich eine große Pfütze auf dem Boden bildete, die langsam unter die Tür hinaus ablief. Als dieses Schauspiel vorbei war, als von der Wolke nicht mehr als ein nasser Fleck an der Erde übrig war, da kam der Alte auf Hagen zu. Er hatte einen Bogen Papier in der Hand, in der anderen einen Stift.
„Komm“, sagte er vertraulich. „Du brauchst nur zu unterschreiben.“
Mai des folgenden Jahres
„Das Kind?!“
Marias Augen waren groß und das Entsetzen in ihnen hatte im Nu den Schlaf vertrieben. „Du hast unser Kind verkauft?“
Hagen wand sich unter ihren Blicken. Er war verzweifelt, auch weil seine Frau ihn so anschaute.
„Maria“, entgegnete er kläglich. „Es ist nicht so! Ich meinte, wir würden nie Kinder haben können, nicht im Traum hätte ich geglaubt, dass du schwanger werden würdest.“
Dem Entsetzen folgte die Fassungslosigkeit. „Wie konntest du!“ war lange Zeit das Einzige, was sie zu sagen imstande war. Sie schaute ihn nur an und schwieg.
„Maria, versteh! Wir standen vor dem Ruin, wir hatten nichts mehr und ich ging davon aus, dass wir niemals Kinder bekommen könnten.“
„Was willst du tun?“ Ihr Ton war hart.
„Ich werde nicht unser Kind weggeben.“
„Natürlich nicht.“ Sie lachte bitter. Sie stand auf und ging hinüber ins Bad. Schweren Schrittes folgte er ihr. Sie stand vor dem Spiegel, blickte hinein und runzelte die Stirn.
„Was hast du getan?“, fragte sie tonlos. „Es war so schön. Wir begannen gerade, eine Familie zu sein. Ich habe nur gekostet vom Glück.“
Tränen liefen über ihr Gesicht, hilflos stand er im Türrahmen, unfähig, ein Wort zu sagen.
Maria drehte sich um und ging langsam auf ihn zu. Als sie ihn in die Arme nahm, konnte er nur noch haltlos schluchzen.
Aus dem Kinderzimmer drang Babygebrabbel.
„Die Kleine ist wach“, sagte Maria und ging davon.
Der Tag war heiß, die Sonne hatte eben den Zenit erreicht. Maria war fertig mit allen anfallenden Arbeiten, die Hausarbeit war getan, die Kleine versorgt. Der ganze Vormittag war wie hinter einem Schleier vergangen. Sie hatte sich beschäftigt, war abgelenkt und musste nicht nachdenken.
Hagen war bei einer Viehauktion. Der Termin stand schon seit Monaten fest und so war er früh am Morgen mit dem Landrover aufgebrochen und würde erst am späten Abend zurück sein. Bis dahin wäre die Sache erledigt.
Sie hatte noch eine ganze Zeit nachgedacht, nachdem sie ihren Entschluss gefasst hatte. Hagen hatte sich kleinlaut und widerwillig verabschiedet und sie hatte sich auf einen Stuhl in der Küche gesetzt und Möglichkeit um Möglichkeit durchdacht und gegeneinander aufgewogen. Und sie war immer wieder zu der Variante zurückgekehrt, die sie ins Auge gefasst hatte, als sie im Bad gestanden hatte und mit feuchten Augen Hagen ihr gegenüber.
Sie zog im Arbeitszimmer ihres Mannes die unterste Schublade des Sekretärs auf und entnahm ihr ohne Zögern einen schweren Armeerevolver, den Hagen seit Jahren dort aufbewahrte. Mit fachmännischem Griff – die Waffe war gut geölt und in bestem Zustand – ließ sie die Trommel herausschnellen und überzeugte sich davon, dass der Revolver geladen war. Vier Kugeln in der Trommel, das sollte für ihre Zwecke reichen.
Sie ging hinüber ins Kinderzimmer und beugte sich über die Wiege. Sie hauchte ihrer schlafenden Tochter einen Kuss auf die Wange und verließ dann ohne noch einmal zurückzublicken das Haus.
Er war schon mindestens zwanzig Minuten um den Bullen herumgeschlichen, hatte das Tier von allen Seiten begutachtet, hatte den Besitzer beobachtet und jede seiner Gesten studiert. Er war zu dem Schluss gelangt, dass dies hier erstklassige Ware und der Verkäufer ein ehrlicher Mann war.
Das Ganze war nur an einer winzigen Stelle fehlerhaft. Hagen brauchte als allerletztes einen Bullen – er war überhaupt nicht auf die Zucht spezialisiert.
Er hatte anderes im Kopf, als Rinder und Schweine, Gerätschaften oder die Preise dafür. Nichts außer einem Pakt und dessen Einlösung beschäftigte sein Hirn.
Schon auf der Fahrt hierher hatte er an nichts anderes denken müssen, als an Marias vorwurfsvollen Blick. Nicht ängstlich oder traurig, nein, der blanke Vorwurf lag in ihren Augen.
Nun sie also auch, hatte er gedacht. Jetzt habe ich sogar meine Frau enttäuscht. Doch natürlich war er nicht gewillt, seine Frau so einfach aufzugeben. Und auch nicht seine Tochter. Der nächste Gedanke war die Frage nach einer Lösung des Problems.
Es war eine Tatsache, dass er eine Leistung erhalten hatte. Wie das auch immer geschehen war, der alte Mann hatte es geschafft, es regnen zu lassen. Monatelang hatte der Ort gestöhnt unter der Hitze, eine Rettung war nirgends zu sehen gewesen. Und dann kam der Alte daher und hatte Leben sprießen lassen. Hagen war überzeugt davon, dass er der Auslöser gewesen war für das Regengebiet, das sich direkt nach seinem Besuch in dem Wohnwagen über den Ort schob.
Er musste den Alten bezahlen, soviel war sicher, er hatte sich seinen Lohn verdient. Und wenn er Herr über Leben war, so hatte er auch die Macht über den Tod.
Doch niemals würde er seien Tochter hergeben – natürlich nicht.
Solcherart waren seine Gedanken, als er auf dem Auktionsgelände eintraf und sie änderten sich kein bisschen, als die Versteigerung ihren Lauf nahm.
Als der Besitzer des Bullen misstrauisch wurde, in dem Moment, in dem er sich gerade entschlossen hatte, Hagen anzusprechen, fiel diesem die Lösung für sein Problem ein. Er sah deutlich vor sich, wie er seine Tochter retten konnte, seine Frau zurückgewinnen und überdies sein Leben wieder in den Griff bekommen konnte.
Und er sah, dass er gewaltig geleimt worden war, dass man ihn bis jetzt zum Narren gehalten hatte. Doch nun hatte er alles durchschaut.
Er drehte sich um, ließ den Bullen und seinen Herrn stehen und rannte zum Wagen. Wenn er das Gaspedal ordentlich durchdrückte, konnte er in weniger als zwei Stunden zu Hause sein.
Er würde Maria erzählen, was er herausgefunden hatte und dann würde er zu dem alten Magier fahren und ihm seine Meinung sagen.
Maria stand am Rande des Waldes, sah hinüber zu dem Wohnwagen, der dort einsam stand und presste die Handtasche, in der schwer der Revolver steckte, gegen ihre Brust. Sie zitterte leicht und ihr Atem ging flach.
Eine Weile stand sie so da und beobachtete das Gefährt. Es bewegte sich nichts, weder drinnen noch draußen, davor. Es herrschte eine unheimliche Ruhe und sie fragte sich, ob ihr Plan wirklich so gut war. Doch dann fasste sie sch ein Herz und ging strammen Schrittes hinüber.
Vor der Treppe, die zum Wohnwagen hinauf führte, war eine Feuerstelle angelegt – in der Mitte schwarze, halbverbrannte Holzstücken und darum, in einem Kreis, Feldsteine. Als sie näher kam, sah sie Weißes zwischen Asche und dem Holz hervorschimmern. Sie meinte, Knochen zu erkennen, war sich aber nicht sicher.
Als sie sich niederhockte, um ihren Verdacht zu prüfen, ging oben die Tür des Wohnwagens. Erschreckt stand sie auf und wich einige Schritte zurück. Im Eingang stand ein stämmiger Alter in einem tiefschwarzen glänzenden Ledermantel, der bis auf die Erde reichte. Ein ebenso schwarzer Lederhut, ein dichter grauer Bart und misstrauische kleine Augen. Dem Klang nach, als er langsam die Stufen hinunterstieg, musste er schwere Stiefel auf den Füßen haben.
Auch sein Ton war geprägt von Misstrauen. „Wer sind Sie?“, fragte er, als er ihr nur noch wenige Schritte gegenüberstand.
Sie war starr vor Angst, und sie konnte feine Äderchen unter seiner wächsernen Haut erkennen.
„Sie haben Ihre Hand ausgestreckt“, spie sie aus, als sie den ersten Schrecken überwunden hatte.
Der Alte blickte sie nur fragend an.
„Sie sind dabei, mein Leben zu ruinieren!“
„Gute Frau!“ Seine Stimme war ruhig. Er hob die Hand.
„Fassen Sie mich nicht an“, kreischte sie und sprang zurück.
Einige Momente standen sie sich schweigend gegenüber.
„Meine Tochter...“
Seine Mine erhellte sich.
„... sie verlangen von mir...“
„Ja?“
„Niemals!“ Eine Feststellung. „Was fällt Ihnen ein?!“
„Ihr Mann kam im letzten Jahr zu mir und bat mich um Rat. Er war verzweifelt, seine Lage schien aussichtslos.“
Allmählich beruhigte Maria sich wieder.
Er fuhr fort: „Wissen Sie, im Allgemeinen suchen mich Menschen auf, wenn ihre Lage ausweglos scheint. Niemand hat den Mut, mich um Rat zu fragen. Meine Fähigkeiten“ – er spie einen gelben Schleimbatzen auf den Boden, direkt vor ihre Füße – „werden angezweifelt. Die Menschen sind ungläubig geworden.“
Maria ging vorsichtig einige Schritte rückwärts. „Worin... worin bestehen Ihre Fähigkeiten?!
Noch einmal zog der Alte hoch und holte von innen einen großen Klumpen Auswurf und spuckte ihn auf die Erde.
„Man schätzt meine Arbeit heute nicht mehr besonders. In früheren Jahren -...“damit beugte er sich leicht vor und seine Stimme nahm einen vertraulichen Ton an „... das war lange vor Ihrer Zeit, Gnädigste – nahmen die Menschen mich ernst, sie glaubten an mich und an das was ich tue. Meine Dienste wurden oft in Anspruch genommen, ich wurde zu Rate gezogen bei vielerlei Problemen. Die Leute vertrauten mir und ich habe, mit Verlaub, dieses Vertrauen nicht missbraucht. Und ich war es gewohnt“ – plötzlich steigerte sich die Lautstärke seiner Stimme um das Mehrfache, bis zum donnernden Brüllen – „dass man mich entlohnt für meine Dienste.“
Maria wich weiter zurück, sie wurde von Schrecken geschüttelt und vermochte sich kaum zu beherrschen.
„Ich bin ein Händler, gnädige Frau“, fuhr der Alte in ruhigem Ton fort. „Ich verkaufe und andere kaufen von mir, ich glaube, diese Sprache verstehen Sie. Und für die Ware verlange ich eine Preis.“
„Mein Kind!“
„Ich habe einen gültigen Vertrag in der Hand. Es ist alles festgelegt, einschließlich des Preises für mein Tun. Und hier, schauen Sie“ – damit zog er aus der Innentasche seines Mantels ein verschmutztes Stück Papier und wies mit dem Zeigefinger auf eine Stelle darauf – „hier ist die Unterschrift Ihres Mannes.“
„Nein!“
„Aber ja doch! Schauen Sie hier.“
„Der Vertrag ist ungültig! Wir können unseren Teil der Abmachung nicht einhalten. Wir werden ihn nicht einhalten.“
Er schaute verwundert. Eine Weile sagten beide gar nichts, starrten sich nur an.
Dann fragte Maria leise: „Was bringt Sie dazu, anderen Menschen die Kinder wegzunehmen?“
Er öffnete die Arme. „Ich bitte Sie, meine Gute.“ Er wirkte jetzt gar nicht mehr greise. Maria hatte im Gegenteil sogar den Verdacht, dass der Bart, der den größten Teil des Gesichtes bedeckte, nur angeklebt und falsch war. „Sie wissen doch sehr gut, wer ich bin und was ich mache.“
„Wir werden den Vertrag nicht einhalten“, wiederholte sie trotzig.
„Sie stehen in meiner Schuld“, brüllte er.
Der Alte kam dichte, sie wich zurück. Er zog einige Schritte nach, sie ging nach hinten. Doch plötzlich war er bei ihr, sie konnte sich nicht erinnern, gesehen zu haben, wie er die Distanz zu ihr überwand. Ganz dich schwebte sein Gesicht neben dem ihren, und sie konnte seinen schlechten Atem riechen. Dann sah sie einen fetten Käfer durch seinen Bart krabbeln. Er verschwand im Gewirr der grauen Haare und sie stieß einen spitzen Schrei aus.
Der Alte packte ihren Hinterkopf, hielt ihn fest, so dass sie ihn nicht wegbewegen konnte.
Dann sprach er mit leiser, drohender Stimme: „Es gibt Mittel und Wege, Gnädigste, und sie können gewiss sein, dass ich diese Mittel einsetzen werde.“
Damit ließ er sie los und sie prallte zurück.
Sie hatte nicht die geringsten Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Drohung. Mit zitternden Händen öffnete sie ihre Tasche, die sie bis dahin an ihren Körper gepresst hatte. Sie holte den schweren Revolver hervor und mit beiden Händen hob sie ihn und richtete ihn auf den Mann.
Der lachte. „Ich kann in Ihren Augen lesen, dass Sie mich wirklich töten wollen. Nur zu!“
Sie drückte ab. Es klickte nur, kein ohrenbetäubender Knall, kein Rückstoß, den sie erwartet hatte. Nur dieses müde Klicken.
Der Alte lachte schallend.
Sie drückte noch einmal ab – Klick.
Das dröhnende Lachen schien von überall her, von allen Seiten zu kommen. Noch einmal abdrücken. Klick – Klick – Klick!
Da war er wieder bei ihr, ganz nah, ganz warm. Sie schrie in ihrer Panik, sah ihm dabei in seine Augen und konnte keine Hoffnung erkennen.
Er lachte noch und öffnete seinen Mantel. Langsam schlug er ihn auf und hüllte Maria mit ein.
So standen sie beide, wie ein Wesen, und Marias Schreie wurden immer schwächer.
Und erstarben schließlich.
Hagen verletzte so ziemlich jede Geschwindigkeitsbegrenzung auf dem Weg nach Hause. Er war aus dem Häuschen, fast euphorisch, und seit Tagen das erste Mal wieder glücklich. Er wusste nun, dass der Hurensohn ihn betrogen hatte, er hatte ihn eiskalt über den Tisch gezogen. Damit war der Vertrag ungültig und er brauchte nicht zu bezahlen.
Als er zu daheim anlangte, war das Haus leer. Nur die Kleine lag schlafend in ihrem Bettchen. Er hoffte, dass seine Frau nichts Dummes angestellt hatte und fuhr weiter seinem Ziel entgegen.
Er würde dem Alten die Meinung sagen, sich umdrehen und einfach davon fahren.
Nicht bezahlen, keine Schuld!
Nun zeigte sich auch, warum diese unglaubliche Trockenheit im letzten Jahr nur regional begrenzt geblieben war.
Wenn der Alte in der Lage war, Regenwolken aufziehen zu lassen, dass war er natürlich auch dazu fähig, ein Regengebiet davon abzuhalten, über eine bestimmte Gegend zu ziehen.
Der alte Hexer hatte dafür gesorgt, dass an dem Ort hier die Dürre ausbrach, dass Menschen und Vieh litten in der Trockenheit. Und dann war er ganz und gar nicht zufällig hier aufgetaucht und hatte darauf gewartet, dass einer der Bauern bei ihm anklopfte und um Rat fragte. Er hatte erst die Situation geschaffen, die dafür sorgte, das Hagen den Vertrag abschließen musste. Somit war der Vertrag ungültig.
Er fuhr durchs Dorf, sein Heimatort. Weiter ging es, vorbei an den brachliegenden Feldern, die Ruhe hatten dieses Jahr und dann an denen, die Jacques und er in den letzten Tagen bearbeitet und besät hatten. Auf den grünstrotzenden Weiden die Rinder schienen ihn nicht zu bemerken, als er mit immer banger werdendem Gefühl an ihnen vorüber fuhr. Er hatte eine böse Ahnung als er den holprigen Weg durch den finsteren Kiefernwald entlang fuhr, und er gab immer stärker Gas und seine Fahrt wurde immer wilder und halsbrecherischer.
Als er schließlich aus dem Wald auf die freie Fläche rollte, sah er seine schlimmsten Ahnungen bestätigt: der Wohnwagen war fort, an seiner Stelle bog sich das Gras im Wind.
Der einzige Punkt, der dem Auge auffiel, der die gleichmäßige Szenerie unterbrach und so den Blick wie magisch anzog, war eine Person, die reglos vor der erloschenen Feuerstelle lag.
Zitternd stieg Hagen aus seinem Wagen und ging langsam auf die Gestalt zu. Es war Maria.
Als er feststellte, dass ihre Leiche schon erkaltet war, warf er seinen Kopf in den Nacken und stieß einen langen, markerschütternden Schrei aus.
ENDE