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Ein Ort, den nur wir kennen
Ich drehte das schmutzige Stück Papier wieder und wieder zwischen meinen Fingern, faltete es auf, faltete es zusammen. Obwohl die Sonne bereits tief stand und ihr kupfernes Licht sich in der Wasseroberfläche des Sees widerspiegelte, war die Luft unerträglich heiss und feucht. Mit dem Handrücken wischte ich die Schweissperlen weg, die mir auf Stirn und Oberlippe standen, strich mir meine langen Haare aus dem Gesicht.
Lass es uns tun. Heute.
Geschrieben mit blauem Kugelschreiber in schnörkellosen Buchstaben prangten die Worte auf dem Zettel. Ich las sie zum tausendsten Mal. Noch immer spürte ich ihre Berührung auf meiner Haut, als sie mir den zerrissenen Papierfetzen zusteckte. Mit zitternden Fingern zündete ich mir eine zerquetschte Marlboro an und starrte auf das ruhige Wasser des kleinen Sees, an den ich mich immer zurückzog, wenn ich nachdenken musste. Hier hatte ich meinen ersten Whiskyrausch erlebt, mein Gott, das war bestimmt fünfzehn Jahre her. Ich erinnere mich noch, wie ich in ein kleines Paddelboot direkt neben dem Steg kotzte. Das war mir am nächsten Tag so furchtbar peinlich, dass ich, ausgerüstet mit einem Eimer und Putzlappen, meine Sauerei aufzuwischen versuchte – doch das Boot war weg. Drüben auf dem kleinen Holzsteg rauchte ich meinen ersten Joint, fühlte das erste Mal die Lippen einer Frau, später den Schmerz der Liebe. Hätte ich damals ahnen können, wie weit mich unerfüllte Sehnsucht treiben konnte, ich hätte bloss ungläubig gelacht. Nachdenklich zog ich an meiner Kippe, schnippte sie weg, bevor ich entschlossen aufstand.
Heute sollte es sein. Wenn nicht heute, dann niemals. Und niemals war keine Option.
Es war bereits dunkel, als ich meine Schicht antrat, doch die Hitze staute sich noch immer auf der engen Gasse der Innenstadt. Die dunkelblaue Uniform klebte an meiner Haut. Ich hatte das Gefühl, dass mir die Angst in den Augen stand, jeder mir ansehen konnte, dass heute nichts wie immer war. Bevor ich den Türgriff berührte, sog ich die Nachtluft tief ein, schloss für einen kurzen Moment meine Augen. Meine linke Hand rückte instinktiv den Waffengurt zurecht.
Alles in Ordnung, Hanna. Lass dir nichts anmerken.
In Gedanken sprach ich mir beruhigend zu. Dann trat ich ein. Drinnen war es um einiges kühler. Ich atmete auf.
„Hey Steven, alles klar?“ Ich wollte ein lockeres Gespräch mit meinem Arbeitskollegen beginnen, in der Hoffnung, damit meine Aufregung ein wenig runterfahren zu können.
„Hanna, hi. Ja, hier läuft alles rund, keine Vorfälle bisher. Zelleneinschluss war vor zwei Stunden. Is’ alles recht ruhig heute, nur unser üblicher Störenfried, die Alte in der 303, macht ab und zu n’ bisschen Radau.“
Ich nickte ihm zu.
„Na dann, viel Spass. Ich hau mich mal für ein paar Stunden aufs Ohr, weck mich einfach, wenn’s Probleme geben sollte.“ Steven nahm seine Füsse, die in schweren Schnürstiefeln steckten, vom Tisch und stopfte sich den letzten Rest seines Sandwiches in den Mund, bevor er hinter der massiven Türe am Ende des langen Gangs verschwand. An diesem Ort hatte alles seine Routine, jeden Tag, jeden Abend, jede Nacht. Frühstück, Arbeit. Mittagessen, Arbeit. Etwas Freizeit, dann Einschluss. Ich mochte meine Stelle trotzdem seit dem ersten Tag, der jetzt fast drei Jahre zurücklag – besonders die Nachtschicht. Die Stille im Gefängnis, das während des Tages laut und trostlos erschien, legte sich nachts wie eine dicke Schneeschicht über das Geschehen, dämpfte die Ängste und Sorgen jeder Insassin und täuschte über all die Schicksale hinter den Gitterstäben hinweg. Bis zum nächsten Morgen.
Als ich vermutete, dass Steven bereits schlafen würde, schritt ich leise den Gang entlang. Vor der zweitletzten Zelle blieb ich stehen.
„Meike. Hey. Bist du wach? Meike!“ Ich konnte sie hinter der dicken Stahltüre nicht sehen, doch durch die kleine Luke, durch welche üblicherweise das Essen gereicht wurde, flüsterte ich ihr zu. Ich hörte dumpfe Schritte, dann ein leises Klicken, als die Luke von Innen geöffnet wurde. Sie griff nach meiner Hand, und ich zuckte zusammen.
„Ich habe auf dich gewartet. Ich wusste, du würdest dein Wort halten, ich wusste es einfach!“ Sie flüsterte, doch ich spürte, dass sie innerlich schrie. „Lass mich gehen. Lass uns gehen!“
Ich hielt die Luft an, tastete nach dem Schlüssel in der Hosentasche meiner Uniform, spürte dessen Zacken, Rundungen, das kalte Metall.
In dem Moment wurde mir bewusst, dass ich schon seit diesem Mittwoch vor eineinhalb Monaten, an dem ich diese zierliche Frau mit den dunkelbraunen, zu einem kurzen Bob geschnittenen Haaren aus dem Polizeiwagen in ihre Zelle führte und sie mich dabei lächelnd musterte, bereit war. Als ich ihr damals die Handschellen abgenommen hatte, war ich besonders vorsichtig, das fiel mir sofort auf, viel vorsichtiger, als ich es üblicherweise war. Ich blieb länger neben ihr stehen als üblicherweise, beobachtete sie dabei, wie sie sich auf das Bett setzte, und fühlte dabei etwas, was ich nie hätte fühlen dürfen. Ich wollte gar nicht wissen, was sie getan hatte, weshalb sie an diesem Ort war. Nichts hielt mich davon ab, diese Sehnsucht zu spüren, wenn ich tagtäglich an ihrer Zelle vorbeiging und wir ganz leise miteinander sprachen. Manchmal, wenn ich ihr das Abendessen brachte, steckte sie mir kleine Zettel zu und berührte dabei meine Hand. Das war alles, was uns blieb, und ich spürte diese Berührungen jeweils noch Stunden später auf meiner Haut.
Ich öffnete ihre Zellentüre möglichst geräuschlos. Sie stand direkt dahinter, kaum grösser als ich.
„Schön, dich zu sehen“, sagte sie fast stimmlos, ganz ruhig. Wir sahen uns einen Moment lang nur an.
Ich drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch, als wir endlich die Autobahnauffahrt erreichten. Meike sass, ein Bein angewinkelt und ganz an ihren Körper gezogen, auf dem Beifahrersitz meines alten Audis und rauchte bestimmt die fünfte oder sechste Kippe am Stück, während sie sich ständig mit den Fingern durch ihr lockiges Haar fuhr.
„Wo fahren wir eigentlich hin?“, fragte sie, ohne ihren Blick von mir abzuwenden, was meine Nervosität noch weiter steigerte.
„Ich hab’ nen Bulli, der steht direkt über der deutsch-tschechischen Grenze. Ich denke, wir fahren erstmal dorthin, und morgen seh’n wir weiter.“ Ich hörte mir selbst zu und wusste, dass der Plan nicht wirklich durchdacht war.
„Okay“, sagte sie nur und blies den Rauch aus dem fingerbreit geöffneten Fenster. Ich spürte, wie sie den Blick von mir abwandte und den vorbeiflimmernden Lichtern am Autobahnrand nachsah. „Willst du eigentlich gar nicht wissen, wieso ich verknackt wurde?“
„Ganz ehrlich?“ Ich sah kurz zu ihr rüber, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder zurück auf die nahezu leere Strasse richtete. „Nein. Es würde so oder so nichts an dieser Sache hier ändern.“
„Diese Sache“, wiederholte sie lachend. „Ach, was soll's. Ich habe gedealt. Verdammt, irgendwie musste ich mein Leben ja finanzieren, wie soll man heutzutage schon von der Musik allein leben können?“ Irgendwie klang es wie eine Entschuldigung, aber ich wusste, dass sie nicht zu der Sorte Mensch gehörte, die sich für irgendetwas entschuldigen würde.
Diese verdammte Hitze wurde langsam unerträglich. Ich öffnete das Fenster auf der Fahrerseite, der Fahrtwind rauschte an meinem linken Ohr. Der Gedanke an ihre Nähe liess mich nahezu zittern. Als sie meinen Oberschenkel berührte, fühlte ich eine unbeschreibliche Erlösung von dieser Anspannung, die meinen ganzen Körper beherrschte.
Die Fahrt nach Tschechien über die grüne Grenze dauerte gute zwei Stunden. Nach meinen Berechnungen würde Steven in ungefähr einer Stunde aufwachen und nach dem Rechten sehen. Spätestens dann würde auffallen, dass Meikes Zelle leer und ich mit ihr verschwunden war. Vielleicht war er aber auch längst wach, vielleicht wurde längst nach uns gefahndet.
Mein alter VW-Bus befand sich, ziemlich versteckt hinter einigen grösseren Tannen, in einer abgelegenen Waldlichtung. Neben der kleinen Spüle stand eine angebrochene Flasche Whisky. Ich nahm einen ordentlichen Schluck.
„Na, willste auch was davon? Is’ zwar widerlich warm, aber was soll’s.“ Ich reichte ihr die Flasche, und sie trank einige Schlucke, verzog das Gesicht. Meike hatte sich mittlerweile neben dem Bulli ins feuchte Gras gesetzt, und ich legte mich neben sie, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah in den klaren Nachthimmel.
„Ich wusste, dass du mich da rausholen würdest.“ Sie sagte es mehr zu sich selbst denn zu mir. „Aber ich weiss nicht, warum.“
Ich überlegte eine ganze Weile. „Ich habe den Bulli von meinem Vater geerbt, da war ich gerade dreiundzwanzig. Er starb an Krebs. Und ich war nicht da, weil ich mir selbst zu wichtig war, weil ich dachte, vor allem wegrennen zu können, womit ich nicht klar kam.“
Der Whisky brannte in meinem Magen. Ich sah, wie das aufflackernde Feuerzeug sich kurz in Meikes Augen widerspiegelte, als ich mir eine Kippe ansteckte. Wir schwiegen eine ganze Weile. Dann legte sie sich neben mich, drehte sich zu mir um, sodass ich erst ihren warmen, regelmässigen Atem auf meinem nackten Oberarm, dann ihre Lippen auf meinem Hals spüren konnte. Mit geschlossenen Augen genoss ich ihre Nähe und die Stille der Nacht.
„Danke, Hanna“, flüsterte sie in mein Ohr, hielt einen Moment inne, bevor sie ihre Hand in meinen Nacken legte und mich zu sich zog. Als wir uns endlich küssten, schien mein Verlangen in diesem Moment zu zerrinnen, mein Hunger und Durst nach ihr gestillt zu sein. Ihre Lippen fühlten sich unglaublich sanft an, schmeckten nach Whisky und Freiheit. Ich vergrub meine Finger in ihrem Haar, um ihr noch näher zu sein, zog ihr ungeduldig ihr durchgeschwitztes Shirt über den Kopf. Meine Hände wanderten über ihren muskulösen Rücken, als sie sich über mich beugte. Sie war wunderschön, das war alles, was ich in diesem Moment zu denken vermochte. Als ihre Lippen sich von meinen lösten und über meinen Bauch, meine Hüften wanderten, legte ich den Kopf in den Nacken und sah in den Sternenhimmel.
Als ich meine Augen öffnete, brauchte ich eine ganze Weile, um mich zu orientieren. Die Sonne schien auf meinen halbnackten Körper, trocknete die von Morgentau überzogene Wiese. Verwirrt versuchte ich, meine alkoholgetränkten Erinnerungen zu ordnen.
„Meike?“ Ich setzte mich auf, rieb mir die Augen. Das helle Sonnenlicht verursachte einen stechenden Schmerz in meiner Schläfe.
„Meike! Verdammt, wo bist du?“, schrie ich in Richtung des Waldes. Nichts. Instinktiv sprang ich auf, rannte barfuss zum Auto. Ich riss die Seitentüre auf, griff ins Handschuhfach.
Meine Waffe war weg. Neben dem leeren Holster lag ein sorgfältig gefalteter Zettel.
Hast du jemals etwas so sehr begehrt, dass du es gehen lassen musstest, um frei zu sein?
Ich liess mich auf den Beifahrersitz sinken und lächelte.