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- 08.07.2012
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Ein normaler Fall
Georg Stammer betrachtete das Foto. Es war verrückt, sich das Mädchen in einem Bordell vorzustellen, aber er hatte diese Geschichte überall in Europa so oft erlebt, dass ihm keine andere Wahl blieb, als den Wahnsinn für Normalität zu halten.
»Warum wenden sich die Eltern nicht an die Behörden?«
»Die Umstände sind heikel.« Willesch räusperte sich, nestelte an seiner Brille und atmete geräuschvoll aus. »Nehmen Sie noch einen Drink, Georg«, sagte er schließlich. »Sie sehen aus, als könnten Sie einen gebrauchen.«
Stammer winkte ab, den Blick noch immer auf das Foto gerichtet.
Willesch erhob sich, machte ein paar Schritte durch das Büro und blieb am Fenster stehen.
»Emelies Vater ist ein hohes Tier im Senat. Die Sache soll diskret geregelt werden.«
»Aufenthaltsort?«
»Prag, Nähe Kohlenmarkt. Bekannte Rotlichtgegend.«
Stammer schob das Foto in die Innentasche seines Jacketts.
»Wie gesagt, vermutlich irgendein Teenie-Puff«, fuhr Willesch fort. Vor dem Hintergrund der regenverschleierten Skyline wirkte sein schmales Gesicht wie eine Maske. »Wir haben eine ziemlich gute GPS-Peilung von Emelies Handy. Sie bekommen die genaue Adresse.«
»Dann wurde sie also nicht entführt.«
Willesch zögerte. »Wahrscheinlich nicht.«
Stammer hatte gelernt, Willesch Zeit zu lassen. Seit Jahren beobachtete er ihn bei seinen Seiltänzen. Willesch war ein Mann, der nie vergaß, dass ein einziges Wort der Indiskretion seinen beruflichen Aufstieg im Handumdrehen beenden konnte. Und es schien kaum etwas zu geben, das er mehr fürchtete.
»Emelie hat ihrem Vater damit gedroht.«
»Mit einer Karriere als Nutte?«
»Das war nur so dahingesagt. Sie wissen, wie diese Teenager sind. Rebellieren, provozieren ...«
Willesch kehrte zurück und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch.
»Aber jetzt sieht es wirklich danach aus.«
»Ich brauche das Team«, sagte Stammer.
»Nein, Georg. Lassen Sie uns den Ball flach halten. Je weniger Leute davon wissen, desto besser.«
Stammer schüttelte den Kopf. »Dann bin ich raus. Keine Lust, mich mit der Prager Mafia anzulegen.«
Willesch hob beschwichtigend die Hände. »Ist klar, verstehe ich. Fahren Sie runter, sondieren Sie die Lage. Mehr verlange ich nicht. Reden Sie mit ihr, und dann entscheiden Sie.«
Es war bereits früher Abend, als Stammer seinen Wagen auf dem Parkplatz einer Raststätte vor der Grenze ausrollen ließ. Der Horizont im Süden verlor sich in schmutzigem Dunst. In dieser Richtung lag Prag, die Goldene Stadt. Stadt der Bordelle und Lolitahuren.
Stammer warf die Fahrertür zu und strich seinen Mantel glatt. Die Pistole rechts an seiner Hüfte hinterließ eine Beule, die jedem auffallen musste, der genau hinschaute. Aber nur wenige Leute schauten genau hin.
Im Schnellrestaurant der Raststätte trat er an die Verkaufstheke und bestellte einen Espresso. Während er wartete, glitt sein Blick über die Gäste. Einige von ihnen mochten Pendler sein, die nach einem Arbeitstag zurück nach Hause fuhren. Andere waren zweifellos auf dem Weg zum Straßenstrich gleich hinter der Grenze.
Als Stammer in seiner Tasse rührte und durch die Panoramascheiben des Restaurants auf die vorbeigleitenden Autoscheinwerfer starrte, fragte er sich, wie ein sechzehnjähriges Mädchen auf die Idee kommen konnte, nach Prag durchzubrennen, um dort anschaffen zu gehen. Willesch hatte gesagt, dass Emelie auf die Versuche ihrer Eltern, sie über ihr Handy zu erreichen, nicht reagierte.
Einer Eingebung folgend, klappte Stammer sein Telefon auf und wählte Emelies Nummer. Und da war nach dreimaligem Freiton ihre Stimme auf der Mailboxansage: Hier ist der Anschluss von Emelie Mühlheim. Ich bin unterwegs. Hinterlasst mir eine Nachricht.
Ziemlich förmlich, dachte Stammer. Hinterlasst mir eine Nachricht. Die Mailbox war aktiv, was bedeuten konnte, dass Emelie einen Kanal zu ihren Eltern offen halten wollte. Doch weshalb? Und warum Prag? Eine Weile grübelte Stammer vor sich hin, dann gab er es auf.
In diesem Moment schoben sich drei Teenager lärmend durch die Eingangstüren. Einer von ihnen, ein robuster Sachse mit Bürstenschnitt, schlug knallend die Hacken zusammen, riss einen Arm in die Höhe und skandierte Sieg heil, ihr Wichser!
Stammer beobachtete die Drei, während sie sich am Büffet Kartoffelsalat auf die Teller schaufelten und am Automaten Pappbecher mit Cola füllten. Keiner der Gäste hatte reagiert.
Wahrscheinlich nicht entführt. Stammer rieb sich die Stirn. Emelies Telefon war in Betrieb, in Ordnung. Entführer hätten das Gerät sicher zerstört, denn heutzutage wusste eigentlich jeder, dass man Smartphones orten konnte. Und es gab keine Lösegeldforderung.
Stammer registrierte, dass der junge Sachse auf ihn aufmerksam geworden war, sein Tablett abgestellt hatte und nun mit einem fiesen Feixen im Gesicht auf ihn zukam.
»Alter, wer glotzt, kriegt eins auf die Fresse«, kündigte er an. »Das geht zack-zack.«
Stammer lehnte sich zurück und betrachtete den Jungen, der sich jetzt vor ihm aufbaute, mit einem Ausdruck von Resignation.
Der ist vielleicht in Emelies Alter, dachte er.
»Schaut euch diesen Penner an«, rief der Junge seinen Freunden zu. »Macht auf coole Sau.«
Hinter der Theke verschanzt, hatte ein Angestellter des Restaurants Stellung bezogen und rief: »Jungs, wenn da nicht gleich Ruhe ist, ruf ich die Bullen. Lasst die Gäste in Frieden.«
Der Junge zuckte mit den Achseln und gab ein Zischen von sich.
»Glück gehabt, Arschloch«, sagte er im Umdrehen und gesellte sich zu seinen Freunden.
Stammer folgte ihm mit leerem Blick und wandte sich dann wieder seinem Espresso zu. Rebellieren, provozieren. Plötzlich begann er zu ahnen, wo bei diesem Fall der Schwerpunkt lag.
Als er das Restaurant verließ, stieß der Sachse einen gellenden Pfiff aus und seine Freunde applaudierten.
Die Pendelleuchte über dem Torbogen der Nirvana-Bar warf ein rötliches Schimmern auf das regenfeuchte Pflaster. Während am Wenzelsplatz protzige Gentlemen-Clubs wie das Hot-Peppers oder das Goldfingers die erotischen Dienstleistungen hunderter Mädchen ganz ungeniert feilboten, ging es hier in den Nebenstraßen der Prager Altstadt etwas diskreter und bei Weitem exklusiver zu. Die meisten Etablissements hatten sich auf ausländische Kundschaft spezialisiert, und einige von ihnen boten den besonderen Service sehr junger Mädchen an.
Stammer betrat das Nirvana. Ein Mann, dessen Sakko über der Brust Falten warf, tastete ihn ab und nickte. Die Dekoration des Empfangsraums - orientalische Holz- und Steinfiguren, Elefanten, Buddhas und Ganeshas - variierte das Thema des Clubs. Der Duft von Sandelholz lag in der Luft.
Während eine anmutige Garderobiere, die den unvermeidlichen Sari trug, Stammer aus dem Mantel half, fiel sein Blick auf die Mädchen, die im Salon auf Freier warteten.
Der reinste Babystrich, dachte er und wandte sich dem Empfangspult zu. Der junge Mann dahinter klärte ihn mit professionellem Lächeln über die Konditionen auf.
»Die Clubkosten betragen einmalig fünfhundert Euro«, sagte er in nahezu akzentfreiem Englisch. Getränke gebe es ab zwanzig Euro, alle anderen Vergnügungen seien frei.
Stammer zog ein paar Geldscheine aus seiner Brieftasche und legte sie auf den Zahlteller aus Kristall.
Im Salon nahm er an einem Loungetisch Platz, ließ den Blick über die Mädchen schweifen, betrachtete die antiken Säulen und die Tempelfiguren. Auch hier stellte der Club ein Sammelsurium folkloristischer Accessoires zur Schau - hinduistische Masken, Seidenkissen, Wandteppiche. Und all der Plunder, um die Kunden in Stimmung zu bringen, dachte Stammer.
Ihn erfasste ein Gefühl der Niedergeschlagenheit, das er nur zu gut kannte. Er hatte im Laufe seiner Berufsjahre begriffen, dass der Glaube an die Welt ein Luxus war, den sich nur diejenigen leisten konnten, die sie nicht kannten. Wer die Welt kannte, trauerte um sie.
Eine Hostess, deren High Heels durch den Salon klackerten, trat an den Tisch.
»Guten Abend, ich bin Sarah. Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
Stammer spürte die Versuchung, Emelies Foto aus der Tasche zu ziehen. Arbeitet diese junge Frau hier? Ja? Ich würde sie gern sprechen. Ich habe ein paar dringende Fragen. Bitte schicken Sie sie zu mir. Doch der direkte Weg war hier sicher nicht die beste Strategie.
»Also, es klingt vielleicht etwas merkwürdig«, begann er und wartete, bis Sarah ihm mit einem Blick signalisierte, er solle nur fortfahren.
»Ich suche ein Mädchen aus der Schweiz. Bin schon durch die halbe Stadt gelaufen, aber bisher Fehlanzeige.«
»Switzerland?«, wiederholte die Hostess verblüfft. Dass Gäste nach russischen Mädchen verlangten, kam sicher häufig vor. Auch Chinesinnen oder Mädchen aus Nordafrika wurden in tschechischen Bordellen oft nachgefragt, denn die Kunden liebten alles, was exotisch war, das wusste Stammer. Aber ein Mädchen aus der Schweiz?
»Nur eine sentimentale Erinnerung«, erläuterte Stammer in vertraulichem Ton.
»Einen Moment bitte, ich frage mal nach.«
Stammer beobachtete, wie sich die Hostess entfernte und den Salon durch einen Seitengang verließ.
Einige Minuten später kehrte sie zurück, ein Lächeln auf den Lippen.
»Ein Mädchen aus der Schweiz haben wir nicht«, sagte sie bedauernd. »Aber wir können Ihnen ein deutsches Model bieten.«
Stammer runzelte die Stirn.
»Sehr jung, etwas unerfahren«, fügte die Hostess zu.
Stammer zuckte die Schultern und lachte. »Naja, Deutschland ist ja nah dran.«
Das Warten im Séparée entwickelte sich zu einer Geduldsprobe. Stammer orderte einen Gin Tonic und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Hoffentlich ist es Emelie. In diesem Moment begriff er, dass ihm der Job an die Nieren ging. Und das hieß, es wurde Zeit, aufzuhören.
In all den Jahren hatte er zig vermisste Personen aufgespürt, hatte Dutzende minderjähriger Mädchen zurück nach Hause gebracht, einige von ihnen krank vor Erschöpfung, andere mit Heroin vergiftet oder von ihren angeblichen Freunden und Geliebten halbtot geschlagen. Nicht wenige waren auf dem Strich gelandet. Ich habe meinen Teil geleistet, dachte Stammer. Häng den Job an den Nagel, bevor er dich umbringt.
Kurz nachdem man ihm seinen Drink serviert hatte, betrat Emelie das Séparée. Stammer erkannte sie sofort. Da gab es etwas, das ihm bereits beim Betrachten ihres Fotos aufgefallen war - die Andeutung eines tief verborgenen Schmerzes, ein Schatten, der sich von innen durch die Fassade jugendlicher Frische und Schönheit fraß. Und eben jenes Gesicht, das die Narben eines unsichtbaren Leidens trug, schaute ihn jetzt mit einer Mischung aus Neugier und Herablassung an.
»Wenn du mich willst, kostet es hundert Euro extra.«
Stammer musterte sie. Haar und Makeup waren gekonnt gemacht, und in ihrer Seidencorsage wirkte Emelie wie das Katalogmodell einer blutjungen Edelhure.
»Wie heißt du?«, fragte er, ebenfalls auf Englisch. Die Frage schien Emelie in Erinnerung zu rufen, dass sie alles andere als ein Profi war.
Sie räusperte sich. »Sorry, ich bin Lisa.«
»Und woher kommst du, Lisa?«
Stammer beobachtete, wie Emelie auf ihre Unterlippe biss. Vielleicht versuchte sie zu erraten, ob sie es mit einem Deutschen zu hatte.
»Berlin«, antwortete sie schließlich.
»Ich habe dich noch nie gesehen, Lisa. Du bist noch nicht lange hier, oder?«
»Nein, noch nicht lange. Also willst du quatschen oder ficken?«
»Hast du ein eigenes Zimmer hier?«
»Sicher«, erwiderte sie. »Komm, deinen Drink kannst du mitnehmen.«
Nachdem Emelie die Tür hinter sich geschlossen hatte, stützte sie die Hände in die Seiten und schlug einen geschäftsmäßigen Ton an.
»Wie gesagt, einhundert extra, und für Küssen oder Blasen gibt es noch mal einen Aufschlag.«
Stammer spürte eine lähmende Verunsicherung. Er schaute Emelie an, und in diesem Moment traf ihn die Ambivalenz seiner Gefühle mit voller Wucht – dieses Mädchen mochte noch keine Frau sein, aber ein Kind war es gewiss auch nicht mehr. Niemand konnte leugnen, dass es etwas ungeheuer Verführerisches von Emelie ausging, auch wenn einem sofort bewusst wurde, wie fatal dieser Eindruck war.
»Emelie, ich bin hier, weil mich deine Eltern schicken«, sagte Stammer auf Deutsch und schluckte. »Du wirst jetzt deine Sachen zusammenpacken, und dann bringe ich dich nach Hause.«
Als Stammer später an diesen Augenblick zurückdachte, vermischten sich Emelies Wutschrei, ihr hasserfüllter Blick, ein Poltern vor der Tür und die Klinge, die plötzlich im Dämmerlicht des kleinen Zimmers aufblinkte. Mit einem Krachen stürzte ein Mann herein - offensichtlich einer der Sicherheitsleute des Clubs - und packte Stammer von hinten bei den Schultern. Emelie fuchtelte mit einem Messer und schrie hysterisch. Jetzt brach ein Tumult los, der Stammer ebenfalls nur lückenhaft in Erinnerung bleiben sollte. Da waren zwei weitere Security-Männer im Zimmer sowie mehrere halbnackte Mädchen, die sich auf dem Gang davor versammelten und lautstark forderten, man solle dem Wichser die Eier abschneiden. Stammer versetzte einem der Männer einen Schlag mit dem Ellbogen und sah, wie er seinen Kollegen in die Arme kippte. In diesem Augenblick sprang Emelie herbei und hieb mit der Klinge zu.
Den Gestank von Abfall, Urin und Erbrochenem in der Nase, kam Stammer zu sich. Er saß an eine Mauer oder Häuserwand gelehnt, die Beine lang von sich gestreckt, auf einem schäbigen Hinterhof. Mantel und Brieftasche lagen neben ihm im Schmutz, und ein paar Meter weiter glänzte sein Handy im trüben Licht einer Bogenlampe, die wie ein Galgen hoch über ihm aufragte.
Stammer tastete sich ab. Zunächst schien es, als würde ihm, von ein paar Prellungen abgesehen, nichts fehlen. Doch dann bemerkte er das Blut, das aus seinem Ärmel tropfte, und schließlich fand er den Schnitt am Oberarm, den er wahrscheinlich Emelie verdankte.
Mühsam richtete er sich auf und sammelte seine Sachen ein. Offenbar hatte man ihn zur Hintertür hinaus auf den Hof befördert und zusammengeschlagen. Oder umgekehrt. Das spielte kaum eine Rolle.
Steif vor Schmerz und Erschöpfung machte er sich auf den Weg zu seinem Wagen.
Ihm blieb jetzt nicht mehr viel zu tun. Die Wunde verbinden, Willesch anrufen, den Job canceln und dann irgendwo ein Zimmer nehmen. Emelie war nicht zur Rückkehr zu bewegen und wurde von Gangstern beschützt. Sollte sich ein anderer darum kümmern.
Im Parkhaus bei seinem Wagen angekommen, spürte Stammer, wie erledigt er war. Sein Kopf dröhnte, die Schultern brannten, und er fühlte sich so übel, dass er befürchtete, sich jeden Moment ein weiteres Mal übergeben zu müssen. Er ließ die Heckklappe nach oben schnellen, nahm eine Wasserflasche aus dem Kofferraum, öffnete sie und trank. Dann zog er Mantel, Jackett und Hemd aus und versorgte die Schnittwunde.
Als er ein wenig später hinter dem Steuer saß und den ganzen vertrackten Fall überdachte, bemerkte er, dass er die Fäuste ballte. Mit einem trotzigen Grunzen öffnete er das Handschuhfach und entnahm ihm die Pistole. Er wog die Waffe in der Hand. Sollte sich ein anderer darum kümmern. Aber wer?
»Ja?«
»Stammer hier. Ich habe sie gefunden.«
»Gut. Wie geht es ihr?«
»Sie ist okay. Aber sie will nicht zurück.«
»Ja, das war zu befürchten. Wie sind die näheren Umstände, ich meine ...«
»Sie macht auf Nutte, hat sich mit Gangstertypen eingelassen. Ich kann sie nicht einfach an der Hand da raus führen.«
»Okay, Georg. Was schlagen Sie vor?«
»Schalten Sie die Polizei ein.«
»Ausgeschlossen. Ganz ausgeschlossen. Der Skandal wäre ... Das geht nicht, Georg. Fällt Ihnen nichts anderes ein?«
»Doch. Aber das wird teuer.«
»Das ist unwichtig. Sie haben finanziell freie Hand.«
»Gut. Und ich brauche das Team.«
»Verdammt noch mal. Ist das wirklich nötig, Georg?«
»Ja.«
»In diesem Fall hat Verschwiegenheit oberste Priorität. Sagen Sie das den Männern.«
»Verstehe.«
Trat ein Mann wie Rakast durch die Tür, ging man in Deckung. Und wurde Rakast von zwei Männern wie Redlich und Stammer begleitet, dann war die Sache gelaufen. Rakast, Redlich und Stammer hatten zwanzig Jahre zuvor als Fallschirmjäger in derselben Einheit gedient. Jetzt als Freelancer-Team unterwegs, statteten sie Gangstern Besuche ab, trieben Schulden ein oder brachten Leute nach Hause, die vom Moloch der Drogenszene verschluckt worden waren.
Rakast, der Zwei-Meter-Mann, stürmte durch den Eingang der Nirvana-Bar, brüllte Aus dem Weg, ihr Penner! und lud geräuschvoll seine Schrotflinte durch – eine Warnung, die nie ihre Wirkung verfehlte. Redlich und Stammer eilten durch den Salon und von dort weiter zu den hinteren Räumen des Clubs.
Stammer warf sich gegen Emelies Zimmertür und überraschte sie, wie er es befürchtet hatte, im Bett mit einem Freier. Er zerrte den Mann von dem Mädchen herunter, fauchte: »Sie ist sechzehn, du Schwein!« und schlug mit dem Griff seiner Pistole zu.
Redlich hatte inzwischen den Kleiderschrank geöffnet, und stopfte nun alle Sachen, die er in der Eile greifen konnte, in den Rucksack, den er mit sich führte. Stammer packte Emelie am Handgelenk. Erst jetzt bemerkte er, dass sie ihn mit einem Ausdruck von Fassungslosigkeit und Entsetzen anstarrte. Er rollte seine Sturmhaube hoch, und weil ihm nichts Besseres einfiel, murmelte er: »Wie gesagt, ich bringe dich nach Hause.«
Emelie hatte zwei Stunden lang getobt. Nun saß sie, die Hände mit einem Kabelbinder gefesselt, erschöpft neben Redlich auf dem Rücksitz und starrte aus dem Fenster. Von Osten her kroch das Licht des anbrechenden Tages über die Felder, die sich abgeerntet, trostlos und septembergrau bis zum Horizont erstreckten.
»Wie viel bezahlt euch mein Vater?«, fragte Emelie plötzlich in das monotone Fahrgeräusch hinein.
Keiner der drei Männer antwortete.
»Also, das könnte auch anders laufen.«
Während Stammer im Rückspiegel Redlichs frustrierten Gesichtsausdruck betrachtete, fragte er sich, was in Emelie vorgehen mochte.
»Kommt schon. Keine Lust, eine Achtzehnjährige zu ficken?«
»Du bist sechzehn, Emelie«, sagte Stammer und schaltete einen Gang rauf. »Was ist los mit dir? Was soll die Show, die du hier abziehst?«
»Ach, fick dich, Mann!«
»Es gibt da eine Sache, die ich nicht verstehe, Emelie«, sagte Stammer und schwieg. Er ließ die Bemerkung einsickern und registrierte befriedigt im Rückspiegel, dass Emelie ihm einen kurzen Blick zuwarf.
»Und die wäre?«, sagte sie, als sie begriffen hatte, dass Stammer nicht gewillt war, einen Monolog zu führen.
»Wenn es dir so wichtig ist, von zu Hause wegzukommen, warum hast du dann nicht deine Handy-Nummer gewechselt?«
Emelie zuckte mit den Schultern. Ihr Gesicht wirkte jetzt sehr bleich und so hart wie Stein. Stammer versuchte, sich das hinter Concealer, Lidschatten und verwischter Mascara verborgene Mädchen vorzustellen, das Emelie in Wirklichkeit war.
»Ich habe eine Vermutung«, sagte er und schwieg abermals.
Stammer beobachtete, wie ihm Emelie im Spiegel das Gesicht zuwandte und die Augenbrauen hob.
»Ich denke, du wolltest Nachrichten von ihnen empfangen. Wolltest hören, dass sie ganz krank vor Angst sind.«
»Ach, fick dich, Alter. Du kapierst gar nichts.«
»Naja, du bist nicht die erste Ausreißerin, die ich einfange«, erwiderte Stammer. »Tja, und die Kids, die nichts mehr von ihren Eltern wissen wollen, lassen sie nicht auf ihre Mailbox sprechen.«
Emelie beugte sich ruckartig vor, worauf Redlich sie hastig wieder zurück in die Polster der Rückenlehne drückte.
»Ich bin fertig mit meinen Alten, egal was du denkst, Wichser.«
»Na, ich denke, dass du mich gerade anlügst.«
Darauf folgten erneut einige Minuten Aufruhr und Geschrei. Emelie trat gegen den Fahrersitz und versuchte, Stammer mit ihren gefesselten Fäusten zu boxen.
Etwas später, es war nicht klar, ob Emelie sich in ihr Schicksal gefügt hatte oder gedanklich an neuen Fluchtplänen arbeitete, sagte sie: »Okay, ja, ich wollte hören, dass sie leiden.«
Stammer nickte und schaute zu Rakast rüber, der während der ganzen Fahrt geschwiegen hatte.
»Hab meinem Alten die Reifen zerstochen, als ich zwölf war«, sagte er jetzt und rieb sich das Kinn.
Redlich lachte rau. »Ja, und mit sechzehn hast du ihm die Fresse poliert.«
Stammer schaute wieder in den Rückspiegel.
»Okay, Emelie«, sagte er. »Du wolltest, dass sie leiden.«
»Ich wollte, dass sie kapieren, dass ihre Tochter jetzt offiziell eine Hure ist.«
Emelie weinte ein lautloses Weinen. Sie wischte die Tränen mit den Unterarmen ab und richtete ihren Blick aus dem Fenster, einer Zukunft entgegen, von der Stammer - wenn er ehrlich war - nichts zu sagen wusste.
»Und warum Prag?«, fragte er.
Emelie antwortete nicht sofort. Sie schien tief in Gedanken versunken. Dann tauchte sie wieder auf.
»Was?«
»Es hätte doch auch jede andere Stadt sein können«, sagte Stammer. »Weshalb Prag?«
»Eine Freundin aus Kroatien lebt da.«
»Und arbeitet als Callgirl?«
Emelie nickte. Stammer presste die Lippen zusammen. So war sie auf die Idee gekommen. Prag zog junge Mädchen aus ganz Osteuropa an, lockte mit gutem, schnell verdientem Geld.
»Was soll das?«, rief Mühlheim entrüstet, als er die gefesselten Hände seiner Tochter sah. »Das ist doch wohl unnötig.«
Stammer schob Emelie durch die Tür und zerschnitt den Kabelbinder mit seinem Messer.
»Es gibt noch ein paar Details zu besprechen«, sagte er und erwartete beinahe, dass Emelie sofort davon laufen würde. Doch die Gegenwart ihres Vaters schien jeden Widerstandswillen in ihr auszulöschen. Mühlheim nahm Emelies Gesicht zwischen seine Hände und sah sie mit einem Ausdruck an, der schwer zu deuten war.
»Hören Sie, ich bin überglücklich, dass Sie mir Emelie zurück gebracht haben«, sagte er und wandte sich Stammer zu. »Für Formalitäten ist sicher auch morgen noch Zeit.«
Da war eine Glätte in Mühlheims Gesicht, die man seinem Beruf als Politiker zuschreiben mochte. Stammer beobachtete ihn finster.
»Wo ist Ihre Frau im Augenblick?«, fragte er, um Zeit zu schinden.
Mühlheim musterte ihn mit dünnem Lächeln.
»Sie ist zurzeit auf einer Dienstreise in Griechenland. Wir erwarten sie morgen zurück«, sagte er.
Einem Impuls folgend, richtete sich Stammer an Emelie: »Wenn du willst, bleibe ich noch ein bisschen. Wir könnten auch ...«
Doch Emelie bedachte ihn nur mit einem ausdruckslosen Blick und schüttelte den Kopf.
»Ich denke«, sagte Mühlheim, »meine Tochter braucht jetzt etwas Ruhe.«
»Und? Wie lief es?«, fragte Rakast, als sich Stammer wieder hinter das Steuer schob.
Stammer setzte zu einer Antwort an, doch dann schwieg er und schüttelte den Kopf. Er startete den Motor und steuerte den Wagen durch die von prächtigen Stadtvillen gesäumten Straßen Frohnaus.
Sie sollen kapieren, dass ihre Tochter jetzt offiziell eine Hure ist.
»Ich könnte ein Bier vertragen«, sagte Redlich.
»Mir gefällt die Kleine«, sagte Rakast zusammenhangslos. »Die ist tough.«
»Ja, und ist auch nicht auf den Kopf gefallen«, gab Redlich zurück. »Die fängt sich wieder.«
Jetzt auch offiziell eine Hure.
»Verdammt noch mal!«, stieß Stammer hervor und wendete mit quietschenden Reifen. Der Geruch von Gummi bereitete sich im Wagen aus, als Stammer beschleunigte.
»Was wird das?« Rakast klammerte sich an den Haltegriff über dem Fenster, während Stammer um eine Kurve jagte.
Hinten im Fond knallte Redlich mit dem Kopf gegen die Scheibe und fluchte.
»Das stinkt gewaltig«, sagte Stammer. »Der Kerl ist nicht sauber.«
Vor dem Haus der Mühlheims kamen sie mit einem Ruck zum Stehen. Redlich fluchte abermals. Stammer sprang heraus, rannte um den Wagen und riss die Heckklappe auf. Er packte ein Stemmeisen und stürzte los.
Die Tür gab mit einem Knirschen nach. Stammer betrat das Haus. Er hörte einen Schrei und erstarrte. Ich hätte sie nicht bei ihm lassen dürfen!
Dann rannte er los, die Treppen zum ersten Stock hinauf. »Du verdammte Nutte!«, hörte er Mühlheim toben.
Stammer stieß eine Tür auf. Emelie lag nackt am Boden, ihr Vater beugte sich über sie.
»Ich bringe dich um!«
Er hatte Emelie mit einer Hand an der Kehle gepackt und hieb mit der anderen auf sie ein. Stammer sah, wie das Messer einen funkelnden Bogen beschrieb. Er riss Mühlheim nieder und schlug mit der Faust zu, zweimal, dreimal ...
Über Berlin stand der Himmel wie ein steingrauer Block. Der erste Schnee des Jahres fiel in dicken Flocken. Vor der steil aufragenden Siegessäule bewegten sich zwei dunkle Gestalten über einen Kiesweg des Tiergartens.
»Offenbar ein Versuch, sich an ihrem Vater zu rächen«, sagte Willesch. »Wie viel ihre Mutter wusste, ist noch nicht geklärt.«
»Ich hätte es kapieren müssen«, erwiderte Stammer. »Sie hat es mir gesagt, im Wagen. Ihr Vater hat sie zu seiner Nutte gemacht. So hat sie es empfunden.«
»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Das hätte niemand wissen können.«
Willesch räusperte sich und rückte seine Brille zurecht. »Natürlich verstehe ich, wenn Sie nach der Sache eine Pause machen wollen«, sagte er.
»Ich brauche keine Pause«, gab Stammer zurück. »Ich bin fertig. Fertig mit diesem Job. Fertig mit Ihnen.«
»Sie sollten nicht vergessen, wie vielen Menschen Sie geholfen haben, Georg.«
Stammer schüttelte den Kopf.
»Ich kenne Sie, Georg. Ein Mann wie Sie lässt sich nicht von einem einzelnen Rückschlag aufhalten.«
Stammer blieb stehen und sah Willesch einen Moment lang nachdenklich an.
»Sie haben nichts verstanden«, sagte er schließlich.
Zwischen den beiden Männer rieselte der Schnee herab. Vom Großen Stern her waren gedämpfte Verkehrsgeräusche zu hören, und in den kahlen Bäumen über ihnen versammelten sich die Krähen.