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Ein Leben "innerhalb"
~*vielleicht ist es nicht die schönste Zeit, aber dafür ist es unsere*~
„Hi“, sagte er und trat zu meiner Tür herein.
„Hi“, entgegnete ich freudig und ließ ihn herein. Es wurde auch mal wieder Zeit, ihn zu sehen, meinen besten Freund. So nannte ich ihn jedenfalls. Ganz sicher war ich mir nicht.
Wir kennen uns jetzt seit der zweiten Klasse, verstehen uns super, machen jeden Scheiß zusammen und trotzdem konnte ich ihm nicht beichten, dass ich seit vierzehn Wochen in der Psychiatrie war.
Ich hätte mehrere Wochenende Zeit gehabt, ihn anzurufen, da ich jedes zweite Wochenende von Samstag früh bis Sonntagabend Heim durfte, doch ich hatte nie die Zeit gefunden. Nicht, dass ich nicht wollte, ganz im Gegenteil, aber ich hatte so viel zu erledigen.
Nick hatte sich sehr verändert in den drei Monaten, die wir uns nicht gesehen hatten. Seine Haare waren kürzer geschnitten. Sie reichten ihm nicht mehr über die Ohren, er hatte abgenommen, ragte in die Höhe und sah gar nicht mal so schlecht aus, musste ich gestehen.
Seine Haut war rein, anders wie früher. Jetzt schmunzelte ich.
Mum hatte damals noch gescherzt, dass ich ihn heiraten werde.
Ich verkaufte sie für blöd, ganz klar. Er war mein Freund, sah nicht gut aus und außerdem konnte ich mir das nie mit ihm vorstellen.
Allein der Gedanke, Nick meinen Ehemann zu nennen. Oh Graus.
Außerdem bin ich erst fünfzehn. Das hat also noch Zeit.
„Kennen wir uns nicht? Ich bin Nick“, er reichte mir die Hand.
Ich schaute verdattert darauf, bis ich verstand, dass ich ihn zu dämlich gemustert haben muss, und schlug sie sanft weg „Sparwitz, ehrlich, verkneif es dir.“ Grinsend trottete er mir in mein Zimmer hinterher und schloss die Tür. „Wo warst du so lange?“, fragte er interessiert, als er meinen noch gepackten Koffer im Zimmer stehen sah.
Ich setzte mich „Ich bin auf Kur“, log ich wie ein Profi. Er schien meine Korrektur nicht zu bemerken. „Stimmt“, murmelte er und schaute mir in die Augen, „Deine Mutter hat mir die Nummer gegeben, als ich letztes Wochenende anrief. Du warst nicht zu Hause.“
Ich schüttelte den Kopf „Nein. Ich darf nicht jedes Wochenende Heim.“
Das war die Wahrheit.
„Und wie lange bleibst du heute noch?“ Mein Blick richtete sich auf seinen Mund. Er hatte schöne Lippen, sie gefielen mir.
Dann schaute ich wieder in seine Augen. „Bis halb sieben muss ich zurück sein. Wir haben also noch genau eine halbe Stunde Zeit, etwas zu unternehmen, damit ich rechtzeitig um sechs losfahren kann." Er nickte verständnisvoll und lehnte sich an die Tür „Erzähl mir was von deiner Kur!“
„Was soll ich schon erzählen?“
„Wie ist es da? Mit wem bist du in einem Zimmer?“
„Meine Zimmernachbarin ist Sharon. Neben uns im Zimmer sind zwei Jungs.
Der eine Schwul, der andere Esoteriker. Gegenüber ein arrogantes, überhebliches Arschloch, ein Mobber und ein Zahnstocher.“ Er musste leise lachen. Was war daran witzig?
Leider war es nur die pure Wahrheit.
Obwohl ich Liam, den Schwulen und Kevin den Esoteriker ganz gut leiden konnte.
Wahrscheinlich war es das, wie gleichgültig ich es gesagt hatte.
„Aha, scheint dich nicht so zu begeistern!“, bemerkte er. Richtig.
Wir schauten uns eine Weile schweigend an. Die Zeit wurde immer knapper, er bekam keine Antwort, dann räusperte er sich. „Ich werde die neunte Klasse wiederholen“, sagte ich, um ein neues Gesprächsthema zu finden. Sehr einfallsreich, ich weiß.
Er nickte verständlich.
Hilfe, konnten wir nicht ein normales Gespräch führen nach drei Monaten?
Es waren nicht drei Jahre, die wir uns nicht gesehen hatten, nur drei Monate. Warum also so schweigsam? Hat man sich nach so langer Zeit nicht viel zu erzählen? Seufzend ließ ich mich auf mein Bett fallen und schaute ihn an „Willst du mir beim Einpacken helfen? Ich muss bald los.“
Eigentlich waren noch zwanzig Minuten Zeit, seltsamerweise langweilte er mich gerade aber ganz schön. „Da ist doch schon alles eingepackt“, sagte er stirnrunzelnd und starrte den Koffer an, der offen mitten im Zimmer stand. Was verstand Nick bitte unter: alles eingepackt? Ich stand auf und verdrehte die Augen „Da passt noch die Hälfte meines Kleiderschrankes rein. Also komm, hilf mir!“ Widerwillig kniete er sich vor den Koffer und packte die ordentlich zusammengefalteten Klamotten, die ich ihm aus meinem Schrank reichte, in den Koffer.
Nachher folgte er mir sogar noch ins Bad zum Schminken. Irgendwas war extrem komisch zwischen uns. Vielleicht hatten wir uns einfach zu lange nicht gesehen. Das musste es sein. Anders konnte ich es mir nicht erklären.
Nick war in meinem Alter, also beide in der Pubertät. Was erwartete ich schon?
Dass er, als Junge, oder Verzeihung, als junger Mann, sich um meinen Hals warf und vor Freude, dass ich ihn zu mir einlud, fast überlief?
Alice, krieg dich ein, du bist nicht im Wunderland, sagte ich zu mir selber und zog meine Jacke an.
Es war höchste Zeit zum Gehen.
Wie auf Kommando zog er sich, synchron zu mir, die Schuhe an und würdigte mich keines Blickes. „Ich rufe dich am Dienstagabend um sieben Uhr an“, beteuerte ich und öffnete die Tür. Wir mussten reden, aber anscheinend ging das persönlich nicht. Er trat vor mir aus der Tür. „Tschüss Mum, tschüss Pa!“, rief ich ins Wohnzimmer und schloss die Tür.
Ich hatte keinen besonders guten Draht zu meinen Eltern und mochte Abschiede nicht. Er war schon längst aus dem Treppenhaus gelaufen.
Er war immer schneller als ich, aber dass er nicht mal daran dachte, mir beim Koffer schleppen zu helfen, fand ich ganz schön dreist.
Ich kam pünktlich zum Abendessen in der Klinik an. Frau Bischoff, meine Bezugsbetreuerin hatte Spätdienst. Das fand ich erleichternd, denn mit ihr verstand ich mich sehr gut. Die Körpervisite hatte ich auch überstanden.
Seit zwei Wochen hatte ich mich bereits nicht mehr verletzt.
Ich war auf dem Weg der Besserungen, das spürte ich selber. Ich hatte nur noch selten diese extremen Stimmungsschwankungen, doch heute hatte ich das Gefühl, so einer Schwankung zu verfallen. Der Tag heute hatte mich verwirrt. Und Sachen, die mich verwirrten, taten mir nicht gut.
Appetit auf das Abendessen hatte ich auch keinen mehr. Ich konnte sagen, ich hätte zu Hause schon gegessen. Hier in der Klinik wurde sehr darauf geachtet, dass ich mich richtig ernährte. Die ersten Wochen habe ich nämlich Hungerstreik gemacht. Sieben Kilo in einer Woche abgenommen, genauso schnell aber wieder zehn Kilo zugenommen. Super.
Was hat das bitte bezweckt? Entlassen wurde ich nicht.
Inzwischen bin ich froh darüber, weil ich sehe, dass mir das wirklich was bringt, trotzdem habe ich jetzt zehn extra Kilos mit mir rumzuschleppen.
Wir saßen alle im Aufenthaltsraum an den Tischen beim Essen. Beziehungsweise aßen sie, nicht ich.
„Rutsch rein! Ich komm nicht vorbei.“ Schnauzte mich Patrick von der Seite an und riss mich aus meinen Gedanken. Blödmann. Ich hasste es, so angefahren zu werden. Er tat das immer. Bis jetzt hatte ich es mit mir durchgehen lassen, doch nun war es mir zu blöd „Das kannst du auch freundlicher sagen, kapiert?“, fauchte ich zurück und blieb stur sitzen. Er passte zwischen dem Schrank und meinem Stuhl nicht durch. Pech gehabt. „Ja, reg dich ab“, murmelte Patrick nun und verdrehte die Augen, „Kannst du bitte ein Stück reinrutschen?“ Seufzend rückte ich näher an den Tisch und ließ ihn vorbei.
Zu schade, dass er so ein Arsch war. Er sah verdammt gut aus.
„Man kann es auch übertreiben, ganz ehrlich.“ Grummelte er leise vor sich hin, in der Hoffnung, dass ich es nicht hörte. Tja. Nun platzte mir der Kragen „Hey, jetzt halt mal den Ball flach, ja? Das ist nicht das erste Mal, dass du jemanden so blöd von der Seite anquatscht, also sei froh, dass ich bis jetzt nie etwas gesagt habe.“ Scheißkerl, dachte ich mir noch im Anschluss, sprach es aber nicht aus.
„Ja, Alice, immer unser Sonnenschein!“ giftete er. Arschloch. Normal wäre das ein Kompliment gewesen, sicher doch nicht so, wie er es gesagt hatte. Ich schaute ihn rauchend vor Wut an und stand auf „Rede mich nie wieder an, kapiert? Sonst erlebst du dein blaues Wunder!“ Ich wusste gar nicht, dass ich meine Krallen so ausfahren konnte. Ich hatte eindeutig an Selbstbewusstsein gewonnen, seit ich hier war. Rasend stampfte ich in mein Zimmer und knallte die Tür zu.
Natürlich war das vielleicht ein bisschen übertrieben von mir, aber einer musste ihm doch endlich mal die Meinung sagen. Süßes Lächeln hin oder her.
Die Ärzte waren an Wochenenden nicht da, also konnte ich zum Glück kein Tavor bekommen – irgend so ein Beruhigungsmittel. Davon hatte ich am Donnerstag gleich zwei verpasst bekommen, weil ich zu viel Halli-Galli gemacht habe.
Dabei wollten Sharon und ich nur heiraten. Ich hatte meinen schwarzen Schlafanzug an, ein langes, flauschiges, rosa Bademantel und meinen Plüsch Affen, der als Baby dienen sollte. Ja, mein Baby war ziemlich behaart. Aber was soll´s, ein Image für die Europäer.
Jedenfalls, wenn es nach den Amys geht.
„Du brauchst noch einen Schleier“, bemerkte Sharon, während sie sich eine Fliege aus Trockentüchern bastelte. Gute Idee. Ich rann raus, auf die Toilette zum Handtrockner und riss eine große Menge Zewarolle ab, die ich dann im Zimmer mit einer Haarklammer noch an meine Haare befestigte. Jetzt war ich eine echte Braut.
Manchmal benahmen wir uns wirklich gestört.
Wahrscheinlich lag es an der Psychiatrie.
Es machte uns Spaß, darüber herzuziehen, dass wir in der Klapse waren.
Im Grunde genommen waren wir alle ganz normal, nur mit den ein oder anderen, etwas größeren Problemen – abgesehen von Franklin – er war wirklich gestört!
Tut mir leid, es so auszusprechen, aber wenn man ihn kennt, weiß man, was ich meine.
Er hat Neurodermitis, dafür kann er nichts, eklig ist es trotzdem, weil es bei ihm so extrem ist.Er kratzt sich überall auf; am ganzen Körper. Am Kopf sieht es deswegen so aus, als hätte er unzählige Schuppen. Das erinnert mich immer an den Schuppen-Denny von Hannah Montana, nur dass Franklin viel, viel mehr „Schuppen“ hat.
Er ist immer unter der Woche da und das nur von früh bis Abend.
Wenn er da ist, isst er nie etwas zu Mittag mit, was auch gut so ist, denn sonst würde er, nach dem Sitzplan zu urteilen, neben mir sitzen. Ich Glückspilz.
Wenn er nicht mitisst, sitzt er auf dem braunen Sofa hinten in der Ecke und spielt Nintendo DS.
Totale Ausnahme, denn wir dürfen hier keine elektronischen Geräte haben.
Während er spielt ruft er dann immer wieder: „Pups, Puuuuups.“ Oder: „Quak, Quak.“
Ab und zu erzählt er auch Geschichten über Justin Bieber, wie er Harry Potter umbringt und sich Voldemord darüber ärgert. Das einzige Lustige daran ist, dass man nichts versteht, außer: „Bla bla bla, nuschel, nuschel, nuschel, Justin Bieber. Bla, bla, bla, nuschel, nuschel, nuschel, Justin Bieber.“
Beim ersten Mal, als ich das hörte, musste ich so lachen, dass ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Und ich könnte schwören, dass ich am Abend Muskelkater im Bauch hatte. O je, o je.
Wenige Minuten, nachdem ich mich auf mein Bett geworfen hatte, und versuchte mich zu beruhigen, klopfte es. Das musste Frau Bischoff sein.
Die Tür ging auf und wie erwartet trat sie herein. Frau Bischoff war jung.
Sie hatte kurze, hellbraune Haare und dunkle Augen, die immer wieder glitzerten, wenn sie lachte.
Seufzend erhob ich mich vom Bett und stellte mich ihr gegenüber.
Aus reiner Höflichkeit, um ihr direkt ins Gesicht schauen zu können.
„Tut mir leid“, murmelte ich sofort, nachdem sie die Tür hinter sich zugemacht hatte, „Mich hat das gerade aber wirklich aufgeregt.“
Nun setzte sie sich auf mein Bett. Ich setzte mich auch wieder, neben sie.
„Wie war denn dein Wochenende?“, fragte sie. Womöglich suchte sie einen Zusammenhang.
„Eigentlich gut.“ Und das stimmte auch.
„Was war dann der Auslöser?“
Ich verdrehte die Augen „Patrick hat mich genervt.“
Sie glaubte mir nicht. Ich wollte ihr nicht sagen, was los war heute Nachmittag.
Ich konnte Frau Bischoff zwar vertrauen, aber das war etwas, womit ich selber klarkommen wollte.
„Na gut, wenn du es dir anders überlegst, kannst du kommen und mit mir reden. Ich bin heute aber nur bis neun da.“ Sie merkte, dass ich ihr etwas verbarg.
Sie war ja nicht blöd.
„Danke“, sagte ich und stand auf, um ihr die Tür aufzuhalten.
Wieder nur rein Höflichkeitshalber.
Nachdem sie rausging brach ich in Tränen aus. Das Schlimme war, dass ich nicht mal wusste warum.
Ich setzte mich auf die Heizung am Fenster und vergrub mein Gesicht in den Händen.
Vielleicht konnte ich diese Tränen als ganz natürlich abstempeln.
Ich war ein sensibler Mensch und Wochenendurlaube nahmen mich immer sehr mit.
Kein Grund zur Sorge.
Ich hatte die Aufmerksamkeit, die ich gerade bräuchte. Frau Bischoff war für mich da.
Aber trotzdem konnte ich nicht reden. Heute fiel es mir schwer zu sagen, dass es mir nicht gut ging. Es zu zeigen schien mir ein viel einfacherer Weg, doch das wäre nicht fair gegenüber mir selber.
Ich war stolz darauf, dass ich mir nichts angetan hatte, so lange Zeit, und darauf war ich auch stolz. Außerdem hatte ich nichts da, womit ich mich verletzen hätte können.
Alle "gefährlichen" Gegenstände mussten wir abgeben.
Mit angespanntem Unterkiefer ließ ich wieder den Kopf hängen und versuchte das Glas auszublenden, das auf meinem Tisch stand und scheinbar nur so schrie, dass ich es auf den Boden warf und ich mich mit einem seiner Glassplitter bediente.
Ich hoffte so sehr, dass Sharon gleich in unser Zimmer kam.
Dann konnte ich mich nicht mehr verletzen.
Inzwischen weinte ich nicht mehr.
Meine Gedanken hatten mich abgelenkt.
Ich schaute auf, als ich Schritte vor meiner Tür hörte. Darauf folgte ein Klopfen.
Diesmal war es nicht Frau Bischoff. Das wusste ich. Die Tür ging auf „Alice, kommst du zu den grünen Stühlen?“, es war Bree, die mich hoffnungsvoll ansah und sich ihre schwarze Lockenpracht zuband.
Seufzend stand ich von der Heizung auf. Ich musste mich ablenken.
Die vier grünen Stühle waren auf der anderen Seite der Station.
Ich ging langsam neben Bree her und setzte mich nach ihr.
„Ich habe von Kevin zwei Yoghuretten bekommen“, grinste sie und wedelte mit einer vor meinem Gesicht herum. Sie bemerkte nicht, dass ich geweint hatte.
„Willst du eine?“
Ich schüttelte den Kopf „Nein danke. Hab keinen Hunger.“ Das stimmte.
„Na gut“, Bree legte die zwei Riegel auf den Stuhl neben sich ab, „Ich mag die auch nicht.“
„Bree, mein Sonnenschein!“ Strahlte Liam und kam auf uns zu.
Wir drehten unsere Köpfe zu ihm und Bree lachte kurz auf.
„Woher hast du die Yoghuretten?“, fragte er und setzte sich neben mich auf einen Stuhl. „Von Kevin. Willst du?“
„Nein danke.“
„Du kannst die ruhig haben. Ich mag die nicht, die schmecken zu künstlich. Ich mag mehr Kinderriegel oder so.“ Bree kratzte sich an der Nase, das tat sie immer, wenn sie irgendeinen Hintergedanken hatte, und warf Liam eine Yoghurette zu. Er fing sie nicht auf, ließ sie fallen und schaute sie grinsend an „Oh ja, weil Kinderriegel ja auch so natürlich sind, dass sie auf Bäumen wachsen.“ Er verdrehte die Augen.
Ich musste lachen.
Danke Liam. „Du weißt, was ich meine“, seufzte Bree und gab ihm die zweite Yoghurette in die Hand. Er machte sie auf und aß sie. Er hatte es auch dringend nötig.
Er war dünn wie ein Strohhalm.
„Ah, da bist du ja!“ Rief Frau Bischoff vom Stationszimmer aus.
Ich schaute sie an und wartete. Sie kam auf mich zu „Komm mal mit.“ Sagte sie und ging mit mir in das Zimmer von Frau Liebers, meiner Ärztin.
Sie bat mich rein und schloss die Tür.
Hier roch es nach frischer Farbe; das Zimmer wurde vor paar Tagen renoviert, und nach Frau Liebers´ Parfüm, den ich sehr mochte.
Ich wusste nicht, was Frau Bischoff von mir wollte.
„Setz dich ruhig.“ Sagte sie und tat dasselbe, während ich mich ihr gegenübersetzte.
Ich schaute sie abwartend an und legte meine Hände auf den Tisch.
„Tagesrückblick.“
Ach so. Jetzt wusste ich, warum sie mich geholt hatte. Tagesrückblick. Klar.
Warum ich da nicht selbst draufgekommen bin?
„Erzähl mal, wie das Wochenende bei dir aussah.“
Schon wieder das Thema. Sie ließ nicht locker.
„Ich bin im Zwiespalt“, murmelte ich. Es war ein anderes Thema, auf das ich hinauswollte. Ich war mir sicher, dass sie nicht das erwartet hatte, aber das war auch Grund meines seltsamen Verhaltens, schätze ich.
Sie zog eine ihrer schön geformten Augenbrauen hoch und sah mich fragend an.
„Ich will nach Hause. Zu meinen Freunden, in meine Klasse, in meine Schule, zu meinen Lehrern, in mein Zimmer, in meine Umgebung“, fing ich an und senkte dann den Blick, „Aber ich will nicht zu meinen Eltern.“ Ich wusste nicht, ob es ganz die Wahrheit war, aber so empfand ich nun einmal im Moment.
Es war die Schuld meiner Eltern, dass ich sie nicht mehr so gut leiden konnte.
Mein Vater sitzt jeden Tag vor seinem Computer und trinkt sechs bis elf Bier.
Er stinkt, ich habe ihn noch nie duschen gesehen. Trotzdem ist er oft sehr nett zu mir, aber er merkt es nicht, wenn ich von zu Hause weggehe.
Auch nicht, wenn ich mich abmelde.
Wenn er auf das Klo geht, sperrt er nicht ab. Es kam schon öfters vor, dass ich ihn aus Versehen beim Selbstbefriedigen erwischt habe. Das war widerlich. Absolut widerlich!
Meine Mutter … warum ich sie nicht mag, weiß ich nicht genau.
Sie tut seit ich in der Klinik bin auf Hobbypsychologin und meint mich zu verstehen, zieht ihre eigenen Schlüsse, die vollkommen daneben sind. Das nervt!
„Du kannst deine Eltern aber nicht rausschmeißen,“ bemerkte sie. Neunmalklug.
Das war mir auch klar.
„Ich will andererseits auch hier bleiben. Ich habe hier die Hilfe, die ich nie zuvor in meinem Leben hatte. Ich habe einen geregelten Tagesablauf und fühle mich nicht so orientierungslos und überfordert, wenn mal viel anliegt. Aber … ich vermisse Nick. Und die Kleinen.“ Die Kleinen waren meine Freunde, die unter mir wohnten.
Meine nicht ganz alters adäquaten Freunde
Jetzt kam ich doch auf das Thema. Verdammt.
„Mhm … hast du die Kleinen und Nick am Wochenende gesehen?“
O je, das war die falsche Frage.
Oder besser gesagt die, die ich nicht hören und nicht beantworten wollte.
Ich ließ meinen Kopf senken und schaute auf meine Hände.
„Alice?“
„Ja“, murmelte ich, „Ich habe Nick gesehen“, jetzt platzte alles aus mir heraus, „Es ist so schwer den Kontakt zu pflegen, wenn man so lange weg ist. Es hat sich alles verändert zwischen uns.
Er ist so schroff geworden, wir haben kaum geredet, er hat mich nicht einmal gefragt, wie es mir geht. Und er sieht plötzlich so gut aus. Das verwirrt mich alles!“
Sie nickte verständlich und fuhr sich durch ihre kurzen Haare
„Vielleicht müsst ihr euch nur wieder aneinander gewöhnen.“
Was hieß da: aneinander gewöhnen?
„Wir kennen uns seit acht Jahren. Wenn wir uns einmal aus den Augen verlieren, dann lebt man sich doch in drei Monaten nicht so schnell auseinander. Wir waren außerdem schon mal sechs Monate getrennt, beziehungsweise hatten wir keine Zeit und als er dann wieder da war, war alles wie früher.“
Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals sammelte. Ich hatte Angst Nick zu verlieren. Er war einer meiner besten Freunde, ich leugne es nicht.
Vielleicht konnten wir nicht über ernste Themen reden, ja und? Das muss nichts heißen.
Ich wollte ihn nie verlieren.
Und jetzt war plötzlich alles so komisch zwischen uns.
„Vielleicht wart ihr da nicht unter solchen Umständen getrennt. Weiß er, dass du …“
„Nein“, antwortete ich, „Er weiß nicht, dass ich in der Psychiatrie bin. Und das soll er auch nie erfahren. Ich bin auf einer Asthmakur.“
„Dann geht das von dir aus.“
„Was geht von mir aus?“ Ich schaute sie verwirrt an. Was meinte sie?
„Vielleicht bist du Diejenige, die sich verändert hat, nicht er. Hast du darüber schon nachgedacht?“
Ich überlegte. Hatte er mich je gefragt, wie es mir geht? Nein. Nie.
Er hatte mich noch nie nach meinemZustand gefragt.
Hatte er mich je umarmt? Nein. Auch das war nichts ungewöhnliches, das er mich heute nicht mit einer Umarmung begrüßt hatte.
Ich schluckte den Kloß und musste mir eingestehen, dass wirklich ich Grund meiner Aufregung war.
Nicht er.
Und dass er nun so gut aussah, dafür konnte er auch nichts.
Seufzend sah ich Frau Bischoff in die Augen und zuckte die Schultern „Ja“, murmelte ich, „Vielleicht bin das wirklich ich.“ Oh man, wie ungern ich das zugab.
Das passierte mir oft, dass ich mich in Sachen hineinsteigerte.
Das war also meine Schuld.
„Also war das der Grund, warum es dir nicht gut ging?“ Fragte sie und schaute mich vielsagend an.
Ja, sie hatte Recht. Schwachsinnig wie immer.
Im Grunde genommen war ich wie meine Mutter.
Super in den voreiligen Schlüssen ziehen.
„Ich habe mich hineingesteigert. Anscheinend ist doch alles wie immer.“
Sie lächelte mich an „Hat Liam das vorhin verdient?“ Sie wollte jetzt nicht ernsthaft, dass ich mich entschuldigte.
„Ja. Das hat er verdient. Und ich habe es in vollen Zügen genossen, ihn mal meine Meinung zu geigen.“ So ganz stimmte das nicht. Aber ich war stolz, dass ich endlich mal meine Meinung gesagt hatte.
In wenigen zehn Minuten war das Gespräch vorüber, alles war geklärt.
Dass sich ein Mensch in Sachen hineinsteigert, war nichts Neues und so nahm der Tag doch noch ein angenehmes Ende. Während der Spätdienst mit dem Nachtdienst die Übergabe machte, spielte ich noch mit Sharon, Kevin, Liam, Angelie und Bree Flaschendrehen, was mich sehr gut ablenken konnte von den Geschehnissen des Tages.
So konnte ich auch ruhig schlafen heute Abend.
Und wenn mir mal wieder etwas komisch vorkommen sollte, weiß ich, bei wem ich als erstes Zweifel haben muss: bei mir.