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Ein Leben als Ersatz - Rechnen lernen
Gelbe, blassgrüne, blaue, rote, rosafarbene und hölzerne Wäscheklammern warteten im weißen Leinenbeutel auf ihren Einsatz. Die mütterliche Inquisition hockte auf einem Stuhl. Die Kinder hatten auf ihren Betten zu sitzen und die Fragen zu beantworten.
»Wie viel ist drei mal acht?«
Viel Zeit blieb nicht für eine Antwort, und niemand wagte es, anstelle des Bruders ein Ergebnis in den Raum zu werfen.
Nennt man es Schwarzer Peter, dieses Spiel?
Namen wurden keine genannt, die Jungen wussten durch die Blicke, wen es getroffen hatte.
Mariannes Augen kreisten wie die Flasche beim Flaschendrehen eine kurze Zeit durch den Raum und durch die Gesichter, bis sie auf einem liegen blieben, von dem sie wie aus der Pistole geschossen ein Ergebnis erwartete.
Die Zeichen in dem Buch sagten Marianne nichts, sie konnte mit Mühe die Zahlen lesen und mit denen vergleichen, die sie zu hören bekam. Sie konnte nur in dem Buch sehen, ob die genannte Antwort richtig oder falsch war. Nie konnte sie Textaufgaben stellen bei diesem Spiel, denn sie konnte die Buchstaben nicht entziffern. Die Hausaufgaben der Jungen halfen ihr dabei, Struktur in diese Aneinanderreihung von Zeichen zu bekommen. Langsam lernte sie deren Sinn zu verstehen, indem sie die Hefte wieder und wieder zerriss, weil eines dieser Zeichen die untere Begrenzungslinie überschritt, oder in der Luft tanzte.
Bis zu zehn Mal am Nachmittag mussten die Jungen die Hausaufgaben wiederholen, damit Marianne lernte, aus den Buchstaben Wörter zu formen. Sie konnte nicht lesen, was dort in roter Schrift unter den Arbeiten ihrer Kinder stand, sie konnte nur ahnen, es waren Tadel, die sie ermahnten, noch sorgfältiger darauf zu achten, dass keines der Zeichen aus der Reihe tanzte.
»Zweiundzwanzig«, antwortete Günther angsterfüllt, aber das, was er sagte, stimmte nicht mit dem überein, was Marianne aus dem Buch auf ihrem Schoß entnehmen konnte. Marianne griff nach einer der Wäscheklammern, penibel darauf bedacht, dass sich nicht schon eine gleicher Farbe in Günthers Gesicht befindet. Erst, wenn er alle Farben in seinem Gesicht hatte, wurde er zum Verlierer erklärt.
Mariannes Kinder sollten in der Schule etwas lernen. Dafür würde sie sorgen. Sie wollte stolz sein können, wenigstens auf ihre Jungen. Sie wollte platzen können, wachsen können, wenn die Lehrer sie an den Elternabenden auf ihre Kinder ansprachen.
Während ihrer Schulzeit war Krieg. Ihre Mutter musste sich um andere Dinge kümmern als um die Hausaufgaben der Töchter. Sie hatte keine Zeit, deren Hefte zu überprüfen, mit ihnen zu üben, ihnen vorzulesen oder mit ihnen zu spielen. Das würde Marianne alles besser machen. Sie war ihrer Mutter nicht böse, sie war ihr dankbar, denn sie wusste, es war nicht leicht gewesen, im Krieg zwei Töchter alleine aufzuziehen. Aber Marianne hatte die Zeit, und sie würde dafür sorgen, dass ihre Brust schwellen konnte, wenn andere Eltern über ihre Kinder sprachen.
Die hölzerne Klammer war immer die letzte. Wenn sie Günther die hölzerne Klammer ins Gesicht klemmte, atmeten die Brüder erleichtert auf, verkrochen sich unter ihre Bettdecken und schrien, wie Marianne glaubte, vor Begeisterung.
Aber Marianne kannte keine Gnade. Sie kamen alle dran. Der mit den wenigsten Klammern musste sich zuerst die Schlafanzughose runterziehen und sich bei ihr auf den Schoß legen. Für jede Klammer einen Schlag. Der Sinn des Siegens war es, weniger Schläge zu bekommen und selbst schlagen zu dürfen.
Es waren genau elf verschiedene Klammern, zweiundzwanzig Schläge auf den nackten Hintern, wenn man dieses Spiel verlor. Dann küsste Marianne den Po für jede Klammer ein Mal, bevor sie gemeinsam sangen:
»Abendstille überall …«
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