- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Ein kleiner Spalt
Sie war spät dran. Vor dem Supermarkt hatte sie eine alte Schulfreundin getroffen und war mit ihr ins Gespräch gekommen. Alt. Bei dem Wort überkam sie unwillkürlich eine tiefe Traurigkeit. Alt, sie war nicht alt, sie war erst sechsundzwanzig und mit sechsundzwanzig war man nicht alt. Man war jung. Sie war jung. Vielleicht zu jung.
Sie lenkte den Golf an den Straßenrand, genau vor den Kindergarten. Es war erst zwei, also hatte sie noch fünf Minuten Zeit. Sie öffnete das Handschuhfach und zog eine Packung Zigaretten daraus hervor. Sie war fast leer.
Sie musste sich beeilen. Warum verflucht nochmal hatte sie nicht einfach gesagt, dass sie gehen musste? Aber hatte sie es andererseits nicht auch einmal verdient, mit einer Freundin zu plaudern? Wieder durchströmte sie diese Wehmut. Freundin, sie hatte gar keine Freundinnen!
Sie öffnete die Fensterscheibe, zündete die Zigarette mit einem alten blassgrünen Feuerzeug an und blies den Rauch hinaus.
Eine alte Frau mit zerfleddertem Mantel, strähnig-grauen Haaren und einem schäbigen Gehstock ging an ihr vorbei. Sie dachte daran, was sie in diesem Alter wohl machen würde.
Überall standen Mütter, vereinzelt auch Väter, auf dem Bürgersteig und direkt auf dem Gelände des Kindergartens und warteten auf ihre Sprößlinge. Normalerweise parkte sie weiter abseits, um den Blicken der anderen Eltern auszuweichen. Irgendwie schämte sie sich, ohne jedoch genau zu wissen, warum.
Von weitem hörte sie, wie die Tür des Kindergartens aufgerissen wurde und das Geschrei begann.
Schnell schnippte sie die Zigarette weg, möglichst außer Sichtweite, und startete den Motor. Sie wollte nicht, dass ihre Kinder sie rauchen sahen..
Fröhliches Gelächter stürmte und vertrieb nun die Stille. Bunte Buben und Mädchen überall. Ein kleines Mädchen blieb vor ihr stehen und schaute sie an. Sie versuchte vergeblich zu lächeln. Da klackte die Autotür.
Das Lächeln sah jetzt besser aus, als Lisa, Andreas und Petra ins Auto stiegen. Sie fuhr los.
Andreas schrie. Lisa schrie, weil Andreas schrie und Petra schrie, weil die beiden anderen schrien. Normalerweise würde sie jetzt auch schreien, um die drei zum Schweigen zu bringen. Heute jedoch nicht. Das Brüllen der drei Kinderkehlen schien sich zu einem einzigen Raunen in ihrem Kopf zu verbünden, was ihre Kopfschmerzen noch verschlimmerte. Doch sie blieb ruhig. Ganz ruhig.
Sie drückte aufs Gas.
Sie musste noch kochen und Helene sollte sie nicht so lange allein lassen. Es fing an zu regnen. Sie stellte die Scheibenwischer an.
Und hoffentlich ist Bernd heute besser gelaunt als gestern. Es war ihr immer unangenehm, fadenscheinige Ausreden zu erfinden, wenn er wieder mal etwas in seiner Wut zerstörte.
Die Wohnung war leer und still, als sie die Tür öffnete. Helene musste schlafen. Sie schaltete den Fernseher für die drei ein und ging in die Küche. Es war drei Uhr, also hatte sie noch eine Stunde Zeit für das Abendessen.
Als sie die Küche betrat und die Einkaufstüten auf den Küchentisch stellte, strich ihr ein kühler Luftzug ums Haar. Ihr blondes Haar, das einmal so schön gewesen war. Sie musste vergessen haben, die Tür zu schließen. Der Boden des Flurs, den sie heute Mittag gewischt hatte, war nun übersät mit kleinen braunen Schuhabdrücken.
Bernd hatte nächste Woche Geburtstag, sie musste sich noch was einfallen lassen. Vielleicht schenkte sie ihm einfach mal Rosen, so, wie er es immer tat, wenn sie Geburtstag hatte und er es vergessen hatte. Die Tür schwenkte im Rhythmus des Windes, der hereinzog und ein paar braunwelke Blätter lagen auf dem Fußabtreter.
Sie ging zur Tür und blickte hinaus. Der Baum auf dem Rasen direkt vor der Wohnung war fast kahl. Nur noch wenige rotbraune oder dunkelgelbe Herbstblätter wiegten sich leicht im Wind.
Bald ist er ganz kahl, dachte sie und legte die Hand auf die kalte, eiserne Türklinke.
Es war wirklich kalt geworden und sie fror. Hinter ihr hörte sie das Schreien der Kinder.
Sie schaute zurück, doch plötzlich war da nichts mehr, kein Geschrei, keine Wohnung. Vor ihr tanzten die Blätter des Baumes im warmen Licht der Herbstsonne.
Sie nahm den Mantel und streifte ihn über. Der Wind schmiegte sich sanft an ihr Gesicht und streichelte ihr Haar. Die Luft schmeckte würzig und duftete mild nach Kastanien. Sie schloß die Tür hinter sich und ging die Straße entlang. Einmal noch drehte sie sich um, doch hinter ihr war nichts, außer dem dumpfen Rauschen des Windes.