Ein kleiner Lichtstrahl
Dunkelheit.
Schwärze.
Nichts.
Sie konnte nichts sehen. Sie wusste, dass sie an einer Straßenkreuzung stand, konnte die Autos hören, den Smog riechen, den Kaugummi in ihrem Mund schmecken und Lorenzo an seinem Geschirr ziehen spüren. An der Art, aus welcher Richtung der Autolärm kam, konnte sie erkennen, dass ihre Ampel auf grün geschalten hatte – Lorenzo zog sie sicher über die Straße.
All ihre Sinne waren vollständig ausgeprägt, um einiges stärker als früher. Alle bis auf einen. Seit ein paar Jahren, seit ihrem Unfall, konnte Nanette nichts sehen. Sie war blind.
Lorenzo war ihr treuer Begleiter. Gleich nach ihrem Unfall hatte Nanette sich auf die Suche nach einem Blindenhund gemacht. Sie hatte nicht auf die Ärzte gehört, die ihr gesagt hatten, dass ihr Augenlicht durchaus wiederkehren könnte, dass sie hoffen musste. Sie hoffte nicht. Sie wusste dass sie nie wieder sehen können würde. Nanette hatte resigniert, so wie alle in ihrer Familie. Jeder hatte anders reagiert.
„Das ist doch nicht weiter schlimm. Hauptsache du lebst!“ Ihre Mutter.
„Wird also Zeit, dass du dir einen Mann suchst, der auf dich aufpasst!“ Ihre Großmutter.
„Ich mag dich trotzdem.“ Ihr Bruder.
„Du magst doch Fernsehen sowieso nicht.“ Ihr damals achtjähriger Neffe.
Doch egal, wie sehr betont wurde, dass es nicht weiter schlimm war, dass sie ein fast normales Leben führen konnte – Nanette wusste, dass sie seitdem mit anderen Augen betrachtet wurde. Sie konnte hören, wie über sie besorgt getuschelt wurde, wenn niemand wusste, dass sie zuhörte. Und sie wusste ganz genau, dass ihre Eltern die Möbel in ihrer Wohnung immer an die Wände rückten, wenn Nanette zu Besuch kam, aus Angst, sie könnte darüber stolpern.
Nanette war es gleich. Sie hatte sich gewissermaßen aufgegeben. Sie ging mit Lorenzo durch die Straßen und wusste, dass jeder sofort auswich, wenn er die gelbe Armbinde mit den drei schwarzen Punkten sah. Es war ihr nur recht.
Bis zu dem Tag, als jemand nicht sofort ihre Armbinde bemerkte und sie schnurstracks anrempelte.
Sie war gerade auf dem Weg zum Supermarkt, Lorenzo an der Leine. Gemeinsam gingen sie über die Straße, durch einen Park und einen Weg entlang, der direkt zum Supermarkt führte. Nanette erinnerte sich genau an diesen Weg, wie er aussah, die vielen kleinen Gassen, die ihn kreuzten. Und aus einer dieser Gassen kam ein Mann, passte nicht gut auf und lief genau in sie hinein.
„Oh, Entschuldigung!“, sagte er. Er hatte eine angenehme Stimme. „Ich habe Sie nicht gesehen.“
„Kein Problem, ich…“, Nanette überlegte, was sie sagen sollte. Es war ihr noch nie passiert, dass jemand sie anrempelte, denn die meisten machten einen weiten Weg um sie. „Lorenzo hätte besser aufpassen müssen.“
„Das ist wohl wahr“, Er lachte leise. Nanette gefiel sein Lachen. Es erinnerte sie ein wenig an ihren Onkel, der viel zu früh gestorben war.
Lorenzo bellte und versuchte, seine Besitzerin weiterzuziehen. „Ist schon in Ordnung, Lorenzo“, meinte Nanette. „Ich vergesse schon nicht, dass ich zum Supermarkt muss.“
„Kann ich Sie vielleicht begleiten?“, fragte der Mann, und Nanette hörte eine gewisse Hoffnung in seiner Stimme. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte – durch ihre Blindheit hatte sie schon lang keinen Kontakt mehr mit Männern gehabt, die nicht mit ihr verwandt waren.
„Ich weiß nicht einmal, wie Sie heißen“, sagte sie verlegen.
„Ach, natürlich“, Er lachte noch einmal. „Wo bleiben nur meine Manieren? Ich heiße Elias.“
„Nanette“, antwortete sie, und streckte ihre Hand unsicher aus. Elias nahm sie und hielt sie kurz, sicher und sanft.
„Ich könnte Sie natürlich auch auf einen Kaffee einladen, wenn Sie möchten“, meinte Elias.
„Ich…“, Nanettes Stimme verlor sich. Eigentlich wollte sie ihm sagen, dass sie nicht konnte, dass sie blind war und Angst hatte. Angst vor Männern, Menschen, Angst vor allem. Sie wollte ihm raten, eine andere Frau einzuladen, eine die ihn sehen konnte und nicht mit einem Blindenhund zum Supermarkt gehen musste. Doch dann fragte sie sich: wieso eigentlich? Elias schien freundlich. Lorenzo war bei ihr. Es war helllichter Tag: Was sollte denn passieren?
„Ja, das würde mich freuen.“
„Ich kenne da ein sehr nettes Café am Ende der Straße“, Elias nahm erneut ihre Hand, und Nanette ließ sich bereitwillig von ihm führen. Lorenzo trottete gehorsam neben ihr.
Nanette wusste, welches Café Elias meinte. Sie war früher sehr gern dorthin gegangen – doch seit sie nicht mehr sehen konnte, war sie immer seltener ausgegangen und hatte sich zuhause eingesperrt. Sie war froh, doch wieder einmal den guten Latte Macchiato mit Karamellgeschmack trinken zu können.
Sie ging in Schweigen, als sie plötzlich etwas bemerkte. Sie blieb verwirrt stehen. War es eine Täuschung gewesen?
„Alles in Ordnung?“, fragte Elias besorgt.
„Ja, ich dachte nur, ich hätte…“, Beinahe hätte Nanette ihren Satz mit „etwas gesehen“ beendet. Doch es war nicht möglich. Sie war blind. Sie hatte seit drei Jahren nichts mehr gesehen.
Da war es wieder. Diesmal war Nanette sich sicher.
Ein winzig kleiner, aber nicht zu übersehender Lichtstrahl in einem Meer aus Schwärze.
Ein kleines Gefühl der Glückseligkeit breitete sich in Nanettes Herz aus. Es wurde immer größer, schwoll an und Nanette spürte sich selbst lächeln. Ungezwungen und frei. Zum ersten Mal seit drei Jahren.
Zur Glückseligkeit gesellte sich ein weiteres Gefühl, eines das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte.
Hoffnung.