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Ein geringer Preis
Tony hörte den Lärm aus Axels Kneipe schon von weitem. Gelächter, Musik, Pfiffe und Rufe. Wie immer gings bei Axel hoch her.
Der Schnee fiel in dicken, schweren Flocken. Sauberer, fester und hartnäckiger Schnee. Der konnte noch bis Mitte April liegen bleiben. Nicht so wie dieses wässrige, grauschwarze Matschzeug in den Städten, das die hässlichen Straßen nur noch schmuddeliger machte.
Vor der Wirtschaft blieb Tony kurz stehen und sammelte seine Gedanken. Das würde jetzt kein Vergnügen werden.
Er sah sich um. Auf dem kleinen Parkplatz stand ein Geländewagen mit einem fremden Kennzeichen: 'ASL'. Aus dem Dorf kam niemand aus Aschersleben. Also Durchreisende. Aber das wusste er ja schon.
Mit einem Seufzen stieß Tony die Tür auf und betrat den Schankraum. Ein riesiger Kachelofen sorgte zusammen mit den vielen Gästen dafür, dass die lupenartigen Gläser von Tonys Brille sofort beschlugen. Ihm wehte der kräftige Duft von Bratkartoffeln, Haxen mit Sauerkraut und würzigem Bier entgegen. Aus der Stereoanlage hinter der Theke trällerte irgend ein Schlagerfuzzi. Von den Wänden starrten Hirschschädel und Wildschweinköpfe mit toten Glasaugen auf ihn herab.
Axel stieß einen lautstarken Pfiff aus, der den allgemeinen Lärmpegel durchschnitt wie sein Rasiermesser die Kehlen der zappelnden, quiekenden Ferkel, die er schlachtete, wenn mal wieder Krustenbraten und Speckknödel auf der Karte stehen sollten.
„Na da schau her, der Tony. Grüß dich. Du musst unbedingt den Wacholder vom Franz probieren. Christine, mein kleiner Engel, bring dem Tony doch gleich mal eine Lage.“ Axel schwenkte eine bauchige Korbflasche und lachte gutmütig. Seine dicken Hamsterbacken glühten und die Lachfältchen um seine Augen verliehen ihm zusammen mit dem Bürstenhaarschnitt das Aussehen eines Igels.
Georg, der Polizist, hob das Glas und prostete in Tonys Richtung. Seine Krawatte lag zusammen mit dem Ausrüstungsgürtel und der Dienstpistole in der Schirmmütze neben ihm auf der Bank.
„Auf dich, Tony. Den besten Bürgermeister, den Taubereschlingen jemals hatte.“ Die übrigen Gäste lachten, applaudierten und pfiffen. Axels Tochter Christine, die in den Semesterferien bei ihrem Vater kellnerte, brachte ein Tablett mit einem Schnapsglas und Bier. Kondenstropfen liefen an dem eiskalten Krug herab.
Tony sah in Christines lächelndes Gesicht. Ihr langer blonder Pferdeschwanz lag wie eine Seidenstola über ihrer Schulter. Wie gerne hätte er sich einfach nur auf eine der Bänke an den Ofen gesetzt und die Kälte der Winternacht mit Witzen, Liedern, Skat und Bier vertrieben.
Aber das musste noch warten.
Die Anwesenden merkten, dass etwas nicht stimmte. Das Gebrabbel und Gelächter erstarben. Stattdessen setzte nervöses Murmeln ein. Axel runzelte die Stirn und kam hinter dem Tresen hervor.
„Ist dir was? Du schaust aus, als hätts dir die Petersilie verhagelt. Sag schon.“
Tony nahm langsam seine Brille ab und rieb sich müde die Augen. Dann setzte er sie wieder auf und schaute sich bedächtig um. Sein Gesicht war ausdruckslos, die Miene undurchdringlich.
„s ist wieder an der Zeit.“
Schlagartig verstummten alle Gespräche. Klirrend knallte das Tablett aus Christines Händen auf den Boden. Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Ihr Blick erinnerte Tony an Gansers dämliche Pferde, wenn er seine Tochter Paula zum Reitunterricht brachte. Die blöden Viecher glotzten ihn auch immer so panisch an. Fast so, als wüssten sie es.
Nur noch die Musik war zu hören.
Ohne Tony aus den Augen zu lassen, drehte Axel leicht den Kopf in Richtung seiner Tochter.
„Liebes, würdest du bitte die Musik ausmachen?“
„Papa, du hast mir versprochen, dass ich nie wieder …“
„Stell das verfickte Gedudel ab“, sagte Axel leise, aber so drohend, dass Tony unbewusst einen Schritt zurückwich.
Christine drehte sich herum, ging hinter die Theke und schaltete die Anlage aus.
Nur noch das Knacken des Ofens war zu hören.
Axel ließ die Schultern hängen. Sein Gesicht war grau und eingefallen.
„Sie hat angerufen, ja?“
„Na was denkst du denn?!“
Die Gäste sahen Tony erschreckt an. Georg stand auf. Jede Spur von alkoholbedingter Fröhlichkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. Er griff zu seiner Pistole und zog sie aus dem Holster. Grimmig ließ er den Verschluss zurückgleiten und trat neben Tony.
„Seid froh, dass es nur so selten passiert. Wir alle wissen, wie das jetzt läuft. Also reißt euch gefälligst zusammen.“
Tony sah Georg dankbar an. Wenn er nicht immer so entschlossen durchgreifen würde, wäre Chaos ausgebrochen. Dank ihm aber blieb die Situation unter Kontrolle. Auf Georg war Verlass.
Der Bürgermeister sah zu Axel hinüber.
„Wem gehört der SUV aus Ossiland da draußen?“
Der Wirt nickte wortlos zu einem kleinen Ecktisch am Fenster. Ein Pärchen saß dort. Der Mann trug einen gepflegten Vollbart. Seine Partnerin schien etwas jünger als er zu sein. Sie hielten sich an den Händen und beobachteten stumm und unbehaglich das Geschehen.
Niemand sah in Richtung des Ecktisches, als Georg zu dem Pärchen hinüber schlenderte. Er machte sich weder die Mühe, seine Uniformjacke anzuziehen, noch seine Pistole wegzustecken. Er hielt sie locker am gestreckten Arm in der Hand.
„Na los. Mitkommen.“
„Was hat das zu bedeuten? Ich verstehe nicht, was das hier werden soll. Was wollen Sie überhaupt von uns?“
Georg winkte mit der Pistole in ihre Richtung.
„Christian, Mustafa. Geht mir mal zur Hand.“
Zwei muskulöse junge Männer bahnten sich ihren Weg durch die Menge. Sie packten die beiden grob an den Armen und rissen sie von ihren Stühlen. Die Frau kreischte auf. Der Mann versuchte, das Buttermesser zu greifen. Georg drückte ihm den Lauf seiner Pistole an die Stirn.
„Aufhören, oder ich schieße dir und deiner Tussi ins Gesicht. Na, bist du jetzt lieb?“
Der Mann wurde ruhig. Hilflos sah er zu seiner Begleiterin.
„Was wollt ihr von uns? Sie sind doch Polizist, verdammt noch mal! Wir haben nichts getan.“
Tony stellte sich neben Georg.
„Nein, aber das werden Sie. Und dafür möchte ich Ihnen von Herzen danken. Ich hoffe, das tröstet Sie ein wenig. Los jetzt.“
Christian und Mustafa zerrten das Pärchen ins Freie. Die Gäste folgten ihnen aufgeregt murmelnd. Mittlerweile fiel der Schnee wie eine weiße, undurchdringliche Wand. Außer den Straßenlaternen brannte kein Licht. Es war nicht besonders kalt, aber dennoch zitterte Tony am ganzen Körper, als er die Gruppe die Straße hinunter zu dem kleinen Marktplatz führte. Und von dort weiter hinter den kleinen Springbrunnen, dessen Zeitschaltuhr jeden Tag um 22.00 Uhr das beheizte Wasserspiel abstellte. An der riesigen Eiche vorbei, die einer Legende zufolge von Bismarck persönlich eingepflanzt worden war, auch wenn niemand erklären konnte, was zum Teufel Bismarck jemals in so einem Kaff verloren haben sollte. Weiter entlang der schmiedeeisernen Parkbänke, die auf kleinen Messingschildchen der Welt verkündeten, dass sie eine Spende der Genossenschaftsbank Taubereschlingen waren.
Und dort stand sie. Bei einem Mülleimer. Unscheinbar. Klassisch. Gelb.
Die Leute versammelten sich um die Telefonzelle. Tony trat an die schwere gummierte Schwingtür und ging hinein. Dann nahm er den Hörer ab und sprach für die Übrigen unhörbar in die Muschel. Schließlich nickte er und verließ die Telefonzelle wieder. Er stellte sich vor die Gruppe. Die Anwesenden hielten den Atem an. Die Frau aus der Kneipe schluchzte leise und der Mann sah den Bürgermeister mit schreckgeweiteten Augen an. Tony trat vor die beiden Gefangenen. Er seufzte ein letztes Mal und legte dann seine Hand auf die Schulter der Frau.
„Sie will die Frau.“ Die Frau schrie auf und der Mann versuchte sich aufbrüllend loszureißen. Georg drosch ihm mit einem Teleskopschlagstock in die Kniekehlen. Der Mann flog hart zu Boden.
Tony hielt die Tür der Telefonzelle auf und Christian stieß die Frau hinein. Die beiden drückten die Tür zu und traten zurück. Die Frau kreischte, rüttelte an der Tür und trommelte mit ihren Fäusten gegen die Scheibe.
Das Neonlicht in der Zelle begann zu flackern. Zuerst nur ein wenig und unstet, doch dann immer schneller. Schließlich blitzte und zuckte das Licht wie ein Stroboskop. Ein dumpfes Grollen ertönte. Das Telefon begann zu klingeln. Lauter und lauter. Die Dorfbewohner wichen immer weiter von der Telefonzelle zurück, die wie wild wackelte und vibrierte. Die Frau im Inneren schrie, tobte und hielt sich die blutenden Ohren zu. Immer heftiger schaukelte die Kabine wie in einem Sturm. Sie flog hin und her, als hätte sie einen epileptischen Anfall. Und plötzlich, mit einem Schlag, blieb die Telefonzelle stehen.
Die Frau explodierte in einem Knall aus Blut, Fleischbrocken und Knochentrümmern. Die Überreste klatschten an die Innenwände der Zelle. Ihre abgerissene Kopfhaut rutschte zusammen mit einem Großteil ihrer Haare langsam an der Tür zu Boden.
Der Mann schrie und schrie, bis seine Stimme krächzend versagte. Die ihn umgebenden Personen sahen ihn stumm an.
Tony hockte sich neben ihn zu Boden.
„Sie verstehen das jetzt nicht, aber ihre Frau hat uns gerettet. Ich weiß noch nicht genau wovor, aber vor irgendetwas Schlimmem, was passieren könnte. Wissen Sie, wir alle verdanken dieser Telefonzelle so viel. So unvorstellbar viel.“
Georg trat vor.
„Meine Frau hatte Brustkrebs. So frisch, dass die Scheiße keinem einzigen Arzt aufgefallen wäre. Jetzt raten Sie mal, woher ich das erfahren habe, hm? Ich hab einen verdammten Anruf gekriegt. Die Zelle hat meine Frau gerettet.“ Der Polizist sah zu Axel hinüber.
„Die Bremsleitung von Christines Auto war beschädigt. Meine Tochter hätte sterben können. Der Mechaniker sagte, es wäre ein Wunder, dass ich das bemerkt hätte. Nur hab ich’s gar nicht bemerkt, sondern die Zelle. Sie hat mich angerufen.“
„Ihr seid verrückt. Ihr seid alle total wahnsinnig, ihr Schweine.“
Tony schüttelte mitleidig den Kopf.
„Die Zelle beschützt uns. Sie sagt uns, wer von uns in Gefahr oder krank ist und wann wir uns vor was schützen müssen. Vor über einem Jahr hat sie mich angerufen und mir gesagt, dass wir ein paar alte Asbestmatten in die Wände unserer Schützenhalle stecken sollten. Einfach so. Wir wussten nicht warum, aber wir vertrauten ihr und habens gemacht. Und wissen Sie, was passiert ist? Uns hat man unsere Schützenhalle nicht weggenommen und da irgendwelches Gesocks reingesteckt. Unsere Nachbargemeinde hatte nicht so viel Glück.“
Der Bürgermeister deutete auf die Telefonzelle. Die Scheiben waren blitzblank sauber. Nicht ein Fleckchen war zu sehen.
„Alles, was sie von Zeit zu Zeit will, ist Nahrung. Sie ruft mich an, wenn Fremde ins Dorf kommen und sie Hunger hat. Ein geringer Preis für ein ganzes Dorf, wenn sie mich fragen.“
Tony stand wieder auf und klopfte sich den Schnee von der Hose. Dann drehte er sich zu Georg.
„Der Wagen?“
„Ist in drei Stunden in der Tschechei. Ich hab Marek schon angerufen. Wir sollen den Körper wieder in den Kofferraum legen.“
Der Bürgermeister nickte Mustafa zu. Der junge Türke schlang seinen Arm um den Hals des Mannes. Mustafas Bizeps spannte sich an. Die meisten blickten zu Boden oder schlossen die Augen. Aber Tony sah so lange zu, bis die Beine des Mannes nicht mehr den Schnee durchwühlten, strampelten und zuckten. Dann drehte er sich zu den Dorfbewohnern um.
„Ich glaube, jetzt können wir alle einen Wacholder vom alten Franz gebrauchen, was meint ihr?“
Ein kollektives Aufatmen war zu hören. Halblautes Gemurmel setzte ein. Sogar das eine oder andere Lächeln stahl sich in manche Gesichter.
Mustafa schulterte den Körper. Dann machten sich die Taubereschlinger auf den Rückweg zu Axels Kneipe.