Mitglied
- Beitritt
- 13.07.2017
- Beiträge
- 563
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 28
Ein Freund
Das Getrommel auf dem Lenkrad pochte hinter Eriks Schläfen und der Schmerz zog hoch zur Stirn. Ein Schlag in Johns Nacken wäre eine Option, aber nicht ungefährlich. Johns Finger blieben auf dem Kunstleder liegen und sein Blick wechselte vom Rückspiegel zurück zur Straße. „Schräg. Gerade waren noch total viele Autos hinter uns. Um diese Uhrzeit ist die Autobahn immer brechend voll.“ John machte sein Nachdenkgesicht: Die Nasenwurzel gefurcht, der Blick starr, die Muskeln um den Mund energisch entspannt.
„Und du findest scheiße, dass es jetzt nicht mehr so ist?“, fragte Erik, obwohl er lieber in Ruhe die vorbeirasenden Rapsfelder betrachtet hätte. Wenigstens hielt John die Finger still.
Das Gelb der Blüten erschien Erik unnatürlich leuchtend. Passte nicht zu dem ranzigen Geruch, der durch den Fensterschlitz kroch. So wie der Sonnenschein nicht zu dem Nebel in seinem Kopf passte, der die Stirn taub kribbeln ließ. Winzige, mit Wassertropfen ummantelte Splitter. Ein allgegenwärtiges, alleserfassendes Stechen in trüben Dunst – seit der Nacht vor zwei Jahren, in der Erik seinen Eltern zuliebe stundenlang nach Kati suchte und dabei verflucht sauer war, weil er wegen ihrer Unzuverlässigkeit die Semesterabschlussparty verpasste. Mit dem Jurastudium hätte er imponiert und bestimmt ein paar Telefonnummern abgesahnt.
Man fand Lackspuren eines anderen Autos. Damals wäre Erik fast erstickt – an der Trauer, an den aufmunternden Worten von Freunden und Bekannten, an dem Bild seiner Eltern, wie sie sich gegenseitig stützend weiße Rosen hinabwarfen.
Mit einem Fingerdruck schloss sich ratternd das Fenster und sperrte den hereinströmenden Gestank aus.
John wechselte auf die rechte Spur und schnalzte mit der Zunge. „Nee. Ich meine nur. Was, wenn es genau hinter uns 'ne krasse Massenkarambolage gab? Und wir sind gerade noch durchgekommen. Überleg mal, fünf Sekunden später und …“ Er kippte den Oberkörper ruckartig nach vorn und deutete in den Spiegel. „Kommt immer noch keiner!“ John schien von seiner Argumentationskette selbst positiv überrascht und gleich vollends überzeugt zu sein.
Erik wusste, dass John nur die Stille füllen wollte. Das machte er immer. „Liegt vielleicht daran, dass du so rast.“ Was sollte diese Konfrontation? Schließlich stieg Erik wieder in ein Auto. Vor Anspannung schmerzten die Schultern und der obere Rücken. Alles Hin- und Hergedrehe auf den durchgesessenen Sitzen des alten Toyotas half nichts.
„Was?“ John stockte kurz: „Nein, ich pass auf. Ich würde nicht …“ und zog das Kinn zurück. „Erstens, rase ich nicht. Und zweitens, gibt es immer welche, die noch schneller fahren. Und wo sind die jetzt?“ Die Augenbrauen hochgezogen: „Ich sag’s dir. Alle dort hinten, zusammengequetscht in einem riesigen bunten Block aus Metall … wie bei 'ner Schrottpresse. Und wir sind gerade noch davongekommen.“
„Ey John, echt jetzt?“ Erik war müde und überschlug die Zeit, die sie noch bis zur Arbeit brauchen würden. Er hätte Johns Angebot besser ausschlagen und mit dem Schienenersatzverkehr tuckern sollen. Alles wäre besser, als Johns verklärten Ausführungen zu ertragen. Neben der Autobahn tauchten die ersten Häuser auf.
Die beiden kannten sich seit ihrer Zeit auf Station 8. Für John war es der zweite Aufenthalt. Und der letzte, wie er gegenüber Erik betonte – wenn er Alkohol nur rieche, müsste John schon kotzen. Unten am See redeten sie über Erlebtes, über Familie und über Verluste, auch wenn Erik genaue Schilderungen vom Unfallort nie über die Lippen kamen. Erik zeigte John auf dem Handy Fotos von Kati aus dem Sommer vor ihrem Tod – Es war ein brütend heißer Tag unten am Fluss. Und Kati, mit ihren braunen langen Haaren, zum hohen Dutt aufgetürmt, schaute vergnügt über den Rand ihrer Sonnenbrille in die Kamera. Eriks Schwester war ganz verliebt in die Hitze, während er sich im Schatten rumgedrückt hatte.
Erik wartete Tag für Tag darauf, dass das schmerzhafte Vermissen nachlässt.
John und Erik stellten bald fest, dass sie aus der gleichen Gegend kamen, aber unterschiedliche Freundeskreise hatten. Handball, so erzählte John, bedeutete damals noch die Welt für ihn. Ständig unterwegs, von Spiel zu Spiel. Seine Eltern, stets treue Unterstützer, großzügige Investoren und verlässlicher Fahrdienst.
Johns altes Leben endete, als er seinen Vater in der alten Traktorgarage fand. Den Abschiedsbrief habe er versteckt, bevor seine Mutter ihn sehen konnte. Es würde genügen, dass John jede Nacht abwechselnd Bilder aus der Garage und dem Brief plagten. Ein paar Mal, so schien es Erik, war John kurz davor, ihm von Einzelheiten der Worte seines Vaters zu berichten. Erik drängte ihn nicht. Jeder entschied für sich, wenn die Zeit zum Reden gekommen ist. Er konnte selbst die ruhigen Nächte an einer Hand abzählen. Manchmal bringt das Schicksal zwei Menschen eng zusammen, die sich sonst nie begegnet wären.
Ohne John säße Erik jetzt wahrscheinlich zu Hause. Und er hätte nicht den Job im Zeitungsladen. Also spielte er mit. Gesunder Sarkasmus nennt man das wohl. „Hm. Kennst du Final Destination?“
„Äh, du verdammter Zyniker. Immer wenn du keine Erklärung mehr hast. Echt, komm mir nicht wieder mit dem Vorsehungsscheiß!“, presste John hervor. Ohne John säße Erik nicht neben seinem Freund auf dem Weg in die überfüllte Innenstadt.
„Nee man, hast schon Recht. Aber wenn abtreten, dann mit 'nem Paukenschlag, mit höherem Sinn für den Rest der Menschheit.“ Erik konnte nicht widerstehen, ihn zu provozieren, versuchte mit aller Kraft, ein Grinsen zu unterdrücken. Klar würde John darauf anspringen.
„Du bist also der Held, der uns alle rettet?“ Johns Wangen färbten sich rot und seine Augen verengten sich. „Wenn wir dem Untergang geweiht sind. Ohne Zögern, ohne Furcht, ohne einen Gedanken an mögliche Konsequenzen?“, setzte er pathetisch nach.
Erik riss die Augen auf und runzelte gespielt überzogen die Stirn, spürte dabei wieder die Kopfschmerzen. Aber mit seinem Gelaber schaffte John es, dass sich der Dunst in Eriks Kopf verzog. Er nickte, biss in die Käselaugenstange von der Tanke und erwiderte kauend: „Unbedingt. Kannst dich auf mich verlassen.“
Die Faust traf ihn in die Seite. „Du furchtloser Held, dann sprich endlich die Kleine mit den Krimis an!“ Damit hatte John ihn drangekriegt. Und das wusste er. Die Genugtuung quoll ihm aus den Augen. Die Hand mit der Papiertüte senkte sich und Erik schnaufte mit vollem Mund, als er den Kopf anlehnte.
Der schmale Silberring klirrte am Türgriff des Zeitungsladens. Zielstrebig ging die junge Frau am Tresen und einem Mann vorbei, dessen Haare unter den Strahlern kürbisorange leuchteten. Mit dem Rücken zu ihr füllte John in monotonen Bewegungen die Regale mit Schokoriegeln und Kaugummis auf. Die Kriminalromane lagen weiter rechts, gestapelt auf einem der Tische. Die Finger wanderten über die Cover, sondierten gelesene, uninteressante und in Frage kommende Titel.
Sie nahm ein Buch vom Stapel und ging gefolgt von Erik in den vorderen Ladenbereich.
John schaute zwischen ihnen hin und her, dann direkt in Eriks Gesicht. „Mach schon!“, sagte er stimmlos und kassierte einen wütenden Blick. Erik wusste selbst, was für ein elender Feigling aus ihm geworden war. Er griff sich das Buch vom Tresen, scannte den Preis und nahm das Geld entgegen. Im nächsten Moment sah Erik sie durch die Tür gehen. „Fuck.“
„Dein Ernst?“, fragte John wütend, kaum dass sich die Tür geschlossen hatte. „Was ist das Problem?
„Man, lass mich in Ruhe.“ Erik massierte sich die Stirn, verstand Johns überzogene Reaktion nicht, wieso er sich überhaupt so aufspielte. Beide Männer standen sich gegenüber, getrennt vom Kassentresen.
„Nee, ich kann das nicht. Du musst die Vergangenheit hinter dir lassen und dein Leben weiterleben!“ John begann die Päckchen der Sammelkarten auszurichten.
Eriks Hände hielten in der Bewegung inne. Er spürte das Puckern an der Halsschlagader. Und ein Ziehen kroch zwischen den Schulterblättern hoch, der Nacken schmerzte. Der Tresen vibrierte unter dem Faustschlag. „Du weißt, was mein Problem ist. In jeder gottverdammten Nacht sehe ich Kati tot in ihrem Wagen sitzen!“, brüllte Erik seinem Freund entgegen, gleichgültig, ob reinkommende Kunden ihn für durchgedreht hielten. „Wie sollte ich einfach weitermachen?“
Johns Atem beschleunigte sich und er beugte sich etwas vor. „Und? Hilft es dir, die blutende Stirn und die leeren Augen zu sehen? Die eingeklemmten Beine unter tausenden Glassplittern …, ich will das nicht mehr Nacht für Nacht sehen!“ Unter rotblonden Bartstoppeln trat die Kiefermuskulatur hervor. Seine Nasenflügel bebten. „Was passiert ist, ist passiert und lässt sich nicht mehr ändern. Niemand kann es ändern. Hörst du? Das hätte mein Vater begreifen müssen. Und ich hätte ihn nicht drängen dürfen, angetrunken ins Auto zu steigen.“ Johns Worte klangen wie zu eng aufgefädelte Perlen, sein Blick flackerte im Laden umher. Dann schaute er in Eriks versteinertes Gesicht, das kreidebleich wurde. Als John realisierte, was er gerade laut ausgesprochen hatte, riss er die Augen auf.
Erik taumelte einen Schritt zurück, wendete sich ab und lief ohne ein weiteres Wort aus dem Zeitungsladen. John hielt ihn nicht auf.
Mit gesenktem Kopf folgte Erik den schwarzen Kaugummiflecken neben den Schaufenstern, ignorierte die Gesichter, die sich zu Fratzen verzerrten und atmete schwer in den zu engen Brustkorb. Am Ende der Bahnhofshalle lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Wand, ließ sich hinabgleiten, nahm das Handy raus und schaute in Katis braune Augen. Bunte verschwommene Gestalten zogen an ihm vorbei. Er zwinkerte, trieb den Nebel weg, der ihm die Sicht trübte. Und als er nach mehreren Anläufen das Gefühl hatte, genug eingeatmet zu haben, stand er auf.
John stand im Zeitungsladen noch an der gleichen Stelle, die Arme vor der Brust verschränkt, und starrte in den Raum. Ein Mann wedelte mit einem Buch vor Johns Gesicht herum, bevor er es auf den Tresen legte und kopfschüttelnd den Laden verließ. Erik stellte sich neben John, die Hände tief in den Taschen vergraben, den Blick parallel zu Johns. „Du hättest es mir sagen sollen.“
John schluckte hörbar. „Ich weiß.“ Er schaute über die Schulter in die Augen seines Freundes.