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Ein Freund ist jemand, für den man sorgt
Als Marion noch ein Kind war, hatte sie einen Hund. Einen echten, keinen von Wilcon. Sie nannte ihn Mickey.
Ihr Vater kam oft tagelang nicht nach Hause, deshalb legte sich ihre Mutter irgendwann in die Badewanne und kam nicht mehr heraus.
Marion hatte genug zu essen in der Wohnung, getaute Pizza schmeckte zwar beschissen, aber alles war besser, als vor die Tür zu gehen. Nur für Mickey war nicht genug da, deshalb biss er nach einer Woche ein Stück aus Mutters Arm, der aus der Wanne hing.
Als ihr Vater am Wochenende wiederkam erschlug er Mickey mit einem Klavierhocker.
Fisch schwimmt. Adler fliegt. Wilcon denkt.
(Werbeslogan der Wilcon International Think Friends)
Sie entschloss sich schließlich, sich für einen der Jobs bei Wilcon zu bewerben. Zwar hatte sie genug, um sich Essen zu kaufen, aber gerade in letzter Zeit konnte sie etwas mehr Geld immer brauchen.
»Sie haben eine halbe Stunde Zeit, den Test auszufüllen. Dort oben an der Wand sehen Sie eine Uhr, für diejenigen, die die Zeit lesen können. Für die anderen werde ich alle zehn Minuten eine Durchsage machen, und dann noch mal fünf Minuten vor Schluss.
Bitte betrachten Sie die Bilder genau und kreuzen Sie jeweils an, welches nicht in die Reihe passt.
Und nun« - die Personalangestellte schlug die Hände zusammen, als gelte es, die Bewerber aufzuwecken - »viel Glück!«
Marion nahm den Filzstift zur Hand und versuchte, die Kappe zu entfernen. Sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass es sich um einen Drehverschluss handelte.
Schaß!, dachte sie. Zeit vaschwendet.
Sie stierte auf die erste Bildreihe: Ein Bus, ein Auto, ein Kind, ein Lastwagen.
Was passte nicht?
Da Kind fahrt mit da Bus. Nich mit da Auto: Zu klein. Nich mit da Lastwagen, is ja kein Schwein. Bus passt nich. Aba fährt da Auto mit da Lastwagen?
Ihre Gedanken schweiften ab, und die Bildreihe verschwamm vor ihren Augen. Sie begann, einen Rahmen um das Bild des Kindes zu zeichnen, dann malte sie eine Blume auf den Lastwagen.
Bessa so!
Warum wollte sie eigentlich die Arbeit hier? Sie bekam doch Geld, um sich Essen zu kaufen. Und ihre Dachwohnung war schön, auch wenn es neuerdings etwas hereinregnete.
Ein erneutes Klatschen ließ sie zusammenzucken. Sie hatte sich mit dem Filzstift einen schwarzen Kasten auf den Handrücken gemalt.
»Wenn Sie jetzt bitte nicht mehr schreiben würden?« Die Personalangestellte lief in ihrem grauen Kostüm durch die Reihen und sammelte Bögen ein.
Die andern ham bessa gemacht. Sicha.
Marion sah sich die Gesichter an. Alte Gesichter, auch die ganz jungen. Papierkleidung, wie ihre. Sehr schön und bunt, und nicht so teuer.
Als die Angestellte Marions Bogen aufnahm, zögerte sie kurz und schüttelte den Kopf. Dann trat sie noch einmal vor die Arbeitssuchenden.
»Wir werten die Tests aus und melden uns dann bei Ihnen. Vorerst, vielen Dank für Ihr Kommen!«
Marion war schon aus dem Zimmer gelaufen. Sie musste nach Hause, sich um Mickey kümmern.
»Direktor Gabeler! Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen? Ja, das ist Doktor Gabeler, er ist der Personaldirektor bei Wilcon.«
»Freut mich sehr.«
»Mich auch. Sie entschuldigen mich sicher? Ich muss noch zu einer Pressekonferenz ... das Wohnprojekt.«
»Oh, Sie meinen, mit diesen Arbeitslosen, die Sie auf dem alten Werksgelände wohnen lassen?«
»Ja, genau. Sie sind gut informiert, meine Liebe!«
»Ich war bis letztes Jahr im Rathaus beschäftigt. Amt für Soziales, Sie wissen schon. Die Schmarotzer.«
»Hähä! Wir hatten letzte Woche einen Test, weil wir dachten, wenn die schon bei uns wohnen, können sie ja vielleicht einfache Arbeiten erledigen, Müll wegräumen und so. Sie werden's nicht glauben, was dabei ... oh! Ich muss los!«
»Jaha, die Pflicht ruft. Schönen Tag noch!«
Sie fuhr mit der U-Bahn zurück. Am Bahnsteig herrschte das übliche Gedränge. Meist Leute in Papierkleidung: Teenager, Arbeitslose. Zwei Jugendliche in ballonartigen roten Jacken. Sie starrten sie an.
Marion griff in ihre Jackentasche und umfasste den Taser.
Dann dröhnte die Bahn wie Godzilla aus dem Tunnel.
Die Plexiglasscheiben, die den Bahnsteig vom Gleis trennten gingen erst auf, als der Zug stand. Sofort drängten die Leute zu den Türen als gäbe es dort Arbeit oder Freibier. Gleichzeitig quollen andere Menschen aus der Bahn heraus.
Eine Frau trat einem Mann in einem langen Mantel in den Bauch, weil er nicht schnell genug auswich. Er krümmte sich.
Selba schuld, dachte Marion.
Sie quetschte sich an der Trennwand entlang in den Wagen, dabei rammte sie einen der Teenager mit der Ballonjacke.
»Eyo Schlampe!«, zischte der. »Passo auf!«
Sie achtete nicht auf ihn und drängelte sich vorbei. Ein Schlag traf sie zwischen den Schulterblättern. Marion taumelte vorwärts und schlug sich die Lippe an einer Haltestange auf.
Inzwischen waren die meisten Leute in der Bahn. Die Türen schlossen sich und zerschnitten das Band der nachströmenden Passagiere. Einer sprang hoch und verpasste der Bahn eine Art Ving-Chun-Tritt.
Der Zug fuhr los.
Manche Leute hatten einen Sitzplatz erwischt, zum Beispiel eine junge Mutter, die ein Kleinkind mit der linken Hand auf dem Schoß festhielt. Ihre Rechte umklammerte etwas Schweres in der Manteltasche, während ihr Blick umherzuckte.
Knarre, dachte Marion. Sie schwamm durch die Menge auf die Ballon-Boys zu.
»Hey«, sagte sie. Der erste hatte sich kaum umgedreht, da hatte sie ihm schon eine Ladung aus dem Taser verpasst. Er klappte zusammen wie von Gummibändern gezogen. Der zweite zog ein Messer, ließ es aber sofort fallen, als Marion ihm 20 000 Volt in den Arm jagte.
Außer dem Wimmern des zweiten Boys und dem Schleifen der Bahn war nichts zu hören. Die Leute sahen in andere Richtungen, betrachteten die defekten Werbe-LCDs.
Die Mutter saß mit aufgerissenen Augen da und hielt eine Pistole in der Hand.
Marion ging zu ihrem Platz zurück. Für den Rest der Fahrt dachte sie darüber nach, welches Bild nicht in die Reihe passte: Bus, Kind, Lastwagen oder ... was war das letzte?
Explosion in Wilcon-Labors!
Fünf Schwerverletzte! Was ist passiert? Firmensprecher: »Eine Treibstoffverpuffung.«
Werkschutz durchsuchen Stadtteil am Firmengelände. Was ist der Zusammenhang?
Anwohner: »Sie hatten große Knarren!«
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Sie öffnete die Tür, indem sie ihren Daumen auf das Schloss drückte. Am Rand hatte sich eine gelbliche Schicht abgesetzt: Fett und Schweiß der Vorbewohner.
Eklich!
Die Wohnung stank feucht, was nicht verwunderlich war, weil ein Loch im Dach klaffte. Das Loch, durch das Mickey gefallen war.
»Hallo! Bin wida da!«, rief sie.
Sie ging in die Küche und nahm einen Beutel Kunstmilch aus dem Kühlschrank. Mickey mochte das Zeug. Mit den Zähnen biss sie die Plastikhülle auf und betrat das Wohnzimmer. Da lag Mickey, wie immer. Er konnte ja nicht weg.
Während sie ihm die Milch in die Öffnung goss, die sie für seinen Mund hielt, wunderte sie sich wieder, wie komisch Mickey aussah. Anders als die Leute. Auch kein Hund.
Was weißich, dachte sie.
Mickey war eine Art Würfel, so groß wie der Couchtisch, aber eindeutig ein Lebewesen, als hätte man versucht, eine quadratische Kartoffel zu züchten. Er atmete und hatte einen Mund an der Oberseite. An einer Seite hatte jemand eine Art Steckdose eingebaut, aber sie war etwas zerschmolzen von seinem Fall durchs Dach. Außerdem passte kein Stecker: Sie hatte am ersten Morgen alle ausprobiert, sogar den von der elektrischen Zahnbürste.
Jetzt grunzte er.
»Das schmecktier, ne? Is gut.« Sie tätschelte seine ledrige Seite. »Mein Freund.«
Den leeren Milchbeutel warf sie in eine Ecke, in der schon ein Haufen Plastikmüll lag. Dann ließ sie sich auf die Knie nieder und tastete unter dem Sofa nach der abgesägten Schrotflinte, die sie gestern hinter der Arbeitsagentur gekauft hatte.
Wenn der Werkschutz kamen, um ihr Mickey wegzunehmen, war sie bereit.