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Ein Engel im Aufzug
„Ich - bin - ein - Engel“.
Es schien, als ließe sie jedes einzelne Wort auf Betonung bedacht perlend über ihre blassen Lippen tropfen.
Na prima, dachte Michael entnervt. Fünf Stunden Sitzung lagen nun hinter ihm – davon vier unnötiges dummes Rumgeschwafel - und nun diese kleine Aussage von einer Frau, die er zuvor noch niemals in dem Bürogebäude von Clark & Smith gesehen hatte.
Ich hätte die Treppe nehmen sollen, schoss es ihm durch den Kopf. Auf der Treppe vom achten Stock zum Erdgeschoss waren ihm noch nie die Zeugen Jehovas begegnet. Heutzutage benutzt doch kein Mensch mehr die Treppe, wäre also ziemlich sinnlos für die Jungs und Mädels dort ihre Botschaft zu verbreiten. Aber nein, er war geschafft und müde gewesen, hatte sich, obwohl er eine geschlagene Viertelstunde hatte warten müssen, dazu entschieden, den Aufzug zu nehmen und musste sich nun von dieser Frau, die sich im allerletzten Moment noch durch die Türe gedrückt hatte, Weisheiten aus dem Paradies anhören.
Wer, verdammt noch mal, brauchte so etwas nach einem 14stündigen Arbeitstag?
Jetzt gleich zieht sie bestimmt ihr Heftchen heraus und hält es mir unter die Nase, überlegte er, emsig darauf bedacht bloß nicht den Blick von seiner Zeitung hin zu der freundlich lächelnden, aber dennoch höchst unscheinbaren Frau zu wenden.
Michael wappnete sich und versuchte, sich auf die übergroßen Lettern ERWACHET vorzubereiten, die ihm bestimmt gleich unter die Nase gehalten wurden. Waren solche Leute nicht in einem öffentlichen Bürogebäude verboten? grübelte er weiter. Es konnte doch nicht einfach irgendeiner daher kommen und seine religiöse Mission mal eben so
hervorschmettern…
„Du hast es geschafft“, unterbrach sie, immer noch lächelnd, seine Gedanken. „Die Stilllegung des Atomkraftwerkes ist um drei Jahre aufgeschoben.“
Sein Blick schnellte hoch und traf ihre aquamarinblauen Augen. „Woher wissen Sie von der Besprechung?“ Es folgte ein kurzes Zögern, während dessen er überlegte, ob er diese blonde Frau mit den langen Haaren schon einmal gesehen hatte. Nein, er glaubte nicht. Zumindest nicht die letzten Tage. Er konnte sich an die meisten Menschen, die sein Leben für eine kurze oder auch längere Zeitspanne begleitet hatten, nicht erinnern. Ein Gesicht war für ihn wie das andere und nur die Wenigsten hinterließen in seinem Gedächtnis einen bleibenden Eindruck.
„Hören Sie“, fuhr er fort. „Ich hatte einen langen Tag. Weiß der Teufel woher Sie von der Besprechung wissen. Ich kenne Sie auf alle Fälle nicht und wenn ich ehrlich bin dann…“
Schon wieder wurde er unterbrochen, aber diesmal nicht von dem blonden selbsternannten Engel schräg gegenüber, sondern durch einen plötzlichen Ruck, dem ein lautes metallisches Knirschen folgte.
„Verdammt noch mal, jetzt bleibt diese Scheißkiste auch noch stehen“, ärgerte er sich lautstark.
„Du hast dir das Fluchen immer noch nicht abgewöhnt“, die junge Frau schüttelte nachsichtig ihren Kopf. Je nachdem wie das Licht auf sie fiel wirkten ihre elfenhafte Gestalt und die blasse, fahle Haut fast transparent. „Es wäre auch nicht wirklich zu erwarten gewesen. Du hast schließlich einen Ruf zu verlieren, nicht wahr?“
Michael beschloss gar nichts mehr zu sagen und stattdessen wild den gelben Alarmknopf zu bearbeiten, um bloß keine Minute länger als notwendig mit dieser religiös Verwirrten auf beengten drei mal drei Metern verbringen zu müssen.
„Das nützt nichts“, erklärte sein Gegenüber. „ER lässt dies geschehen, um kurz innezuhalten und wir sollen es ihm gleichtun.“
„Bitte was?!“ Sein rechter Daumen war mittlerweile schon rot vom permanenten Drücken und so langsam überfiel ihn eine leichte Panik.
„Wer macht was?“, fragte er irritiert. Augenblicklich bereute Michael seine Frage, als er kurz die hoffnungslos wirren Sätze durchging, die ihm seine Gesprächspartnerin bisher preisgegeben hatte.
Sie rollte ihre meerblauen Augen gen Himmel – das einzig auffallend, fast unnatürlich Schöne an dieser Frau. „ER“, wiederholte sie mit einer lächerlich ehrfürchtigen Stimme.
„Wer ist er?“
Warum konnte er nicht einfach aufhören zu fragen? Warum konnte nicht dieser beschissene Aufzug wieder losfahren und wieso gab es überhaupt diesen bescheuerten gelben Alarmknopf, wenn sich eh kein Arsch am anderen Ende darum kümmerte, dass er mit einer Verrückten eingesperrt war.
„Du weißt schon – ER halt.“ Schon wieder dieser senile Blick zur Decke des Aufzuges.
„Natürlich ER – wie konnte ich nur vergessen“. Michael schlug sich theatralisch gegen die Stirn.
„Sie sind der Engel und ER ist natürlich der liebe Gott. Alles klar – mein Fehler!“
„Du erinnerst dich überhaupt nicht mehr an mich, oder?“
Er lachte kurz auf. „Nein, Gott sei Dank, nicht.“
„Wir kennen uns schon so viele Leben“, fuhr sie unbeirrt fort. „So - viele - Leben.“
Abgesehen davon, dass die junge Frau eh ein wenig durcheinander wirkte, wenn man davon ausging, was sie von sich gab, schien sie gerade mit ihren Gedanken noch ein wenig weiter weg zu sein.
„Du bist einer von uns. Schon so lange bist du einer von uns. Du warst einer der Ersten und ER liebte dich über alles. ER liebt dich immer noch.“
„Selbstverständlich! Ich bin auch ein Engel und Gott liebt uns alle, nur mich mit Sicherheit nicht, sonst würde er mich nämlich nicht mit einer Irren wie Ihnen alleine im Aufzug lassen.“
„ER macht das, damit wir innehalten“, erinnerte sie ihn. „Immer wenn ein Fahrstuhl stehen bleibt, möchte ER, dass wir die Zeit nutzen, um kurz in uns zu gehen und über Geschehenes nachzudenken.“
„Natürlich“, er nickte debil lächelnd. „Immer wenn ein Aufzug stehen bleibt möchte Gott, dass wir kurz innehalten und nachdenken.“
Sie nickte.
„Auch wenn Uhren stehen bleiben?“
„Ganz besonders wenn Uhren stehen bleiben“, bestätigte sie.
„Und wenn meine Waschmaschine stehen bleibt, was ist dann?“
„Nun“, antwortete sie zögernd, als müsste sie über eine wirklich wichtige Frage nachdenken, „wenn deine Waschmaschine stehen bleibt, dann ist das sehr wahrscheinlich ein Zeichen dafür, dass sie kaputt ist.“
Es war die Mischung aus 14 Stunden Dauerarbeitsstress gemischt mit der braunen koffeinhaltigen Brühe seiner Sekretärin, die sie trotz permanenten Widerspruchs seinerseits als Kaffee bezeichnete, kombiniert mit einem schwachsinnigen „Engel“ in einem stecken gebliebenen Aufzug und dies alles nach einer 5stündigen Marathonsitzung, die ihn dazu veranlassten einen zehnminütigen Lachkrampf zu bekommen, der fast in einen hysterischen Weinkrampf gegipfelt wäre, hätte er sich nicht so gut im Griff gehabt. Geduldig lächelnd wartete sie, bis sie wieder seine volle Aufmerksamkeit hatte.
„Du bist einer von uns“, wiederholte sie unnötiger weise.
„Wenn ich mir weiter diesen Schwachsinn anhören muss und dieser Aufzug nicht weiterfährt, dann wird mich bestimmt bald das Zeitliche segnen.“
„Du bist schon tausend Tode gestorben, was macht da einmal mehr“, scherzte sie.
Ein Engel mit Humor, super, das hatte ihm gerade noch gefehlt.
„Das Ende der Welt steht kurz bevor und ich bin gekommen um dich wissen zu lassen, dass Gott einverstanden ist.“
„Habe ich mir doch gedacht, dass es um das Ende der Welt geht“, erklärte er wissend. „Habt ihr das also jetzt da oben einfach für euch beschlossen, dass der Laden bald dicht gemacht wird, ja?“
Warum sollte er sich weiter aufregen, genauso gut konnte er doch ihr dummes Spielchen mitspielen. Alles andere war Gift für seinen Blutdruck
„Nicht ER hat es beschlossen, sondern du, gerade eben, mit Deiner Unterschrift.“
Was für einen Schwachsinn sie doch daherredete, dachte Michael. Abgesehen davon, dass der Erhalt dieses Werkes hunderte Arbeitsplätze sicherte, würde selbst bei einem Störfaktor der Stufe drei die Welt noch lange nicht untergehen.
„Du denkst wie ein Mensch“, kommentierte sie seine Gedanken, „aber du handelst immer noch wie es deine Natur befiehlt. Die Dinge werden ihren Lauf nehmen, durch deine Hand geführt, und Gott ist damit einverstanden. Er meint, die Zeit, der Menschheit ein Ende zu bereiten, wäre gekommen. Aber ER ist natürlich sehr traurig, du weißt ja wie sehr ER an jedem Einzelnen von ihnen hängt und wie sehr ER sie liebt.“
„Und nun sitzt ER auf seiner Wolke und weint?“
„Was glaubst du warum das Meer salzig ist? ER hat schon so viele Tränen geweint und vielleicht – ja vielleicht überlegt ER es sich ja noch anders und greift ein, aber…“ Die blonde Frau schüttelte ihre langen blonden Haare. „Nein, diesmal glaube ich nicht, dass ER es verhindern wird.“
„Wie heißen Sie eigentlich“, fragte Michael schmunzelnd. „Verraten Sie mir doch bitte Ihren Namen.“ So langsam fand er Gefallen an dieser wirren Unterhaltung.
„Gabriel“, antwortete sie, „wir kennen uns schon…..“
„Sehr, sehr lange“, vervollständigte Michael ihren Satz.
„Ja, das tun wir. Von Anbeginn der Zeit – seit Adam und Eva – seit Himmel und Hölle – seit Gut und Böse.“
Mit einem plötzlichen Ruck setzte sich der Aufzug wieder in Bewegung. Es hätte nicht viel gefehlt und Michael wäre wirklich auf die Knie gesunken und hätte ein Dankgebet gesprochen. Mit grenzenloser Erleichterung hörte er das Klingeln einer Schelle, die ihm das Ankommen im Erdgeschoss ankündigte.
Bevor er ausstieg drehte er der blonden Frau noch einmal das Gesicht zu. „Bestellen sie Ihrem Boss einen lieben Gruß und vielen Dank, dass er mir seinen Lieblingsengel geschickt hat. Seine Botschaft hat mich erreicht.“
Schnellen Schrittes verließ er sein stählernes Gefängnis, ging durch die Eingangshalle und atmete, auf der immer noch sonnenbeschienen Straße, mit einem tiefen Zug seiner menschlichen Lunge die frische Luft der Freiheit ein.
„Ich bin ein Erzengel genau wie du, aber niemals hat ER mich so geliebt wie dich. Niemals! ER hat nie den Schmerz überwunden, dass du ihn vor so langer Zeit verlassen hast.“
Erschrocken drehte er sich um. Wie konnte das sein? Die Türe des Aufzuges hatte sich wieder geschlossen, ohne dass sie ausgestiegen war. Er war sich ganz sicher. Was um alles in der Welt ging hier vor sich?
„Habe keine Angst, mein Freund, es dauert nur einen kurzen Augenblick.“ Gabriel streckte die Hand nach ihm aus, doch Michael wich instinktiv zurück und stolperte drei Schritte rückwärts auf die Straße.
Es war nur der Bruchteil einer Sekunde. Er sah noch die in der Sonne glitzernde Stoßstange des mit überhörter Geschwindigkeit heranrauschenden LKWs - er hörte das laute Hupen – Schreie - sah ein letztes Mal das dünne Lächeln auf ihren Lippen.
Das nächste, woran er sich erinnern konnte, war, dass er inmitten einer Traube von Menschen stand. Ein kurzer Blick und er bemerkte Gabriel an seiner Seite. Wie vollkommen sie doch war. Ein Meisterwerk des Schöpfers. Ihr Lächeln wirkte zart und doch voller Kraft. Dieses Lächeln konnte Berge versetzen, Kriege beenden und genau so gut entfachen. All dies hatte er schon erlebt. Er blickte nicht mehr auf den zerfetzten Körper, der zu seinen Füßen lag. Viel zu lange hatte dieser ihn eingeengt, war ihm eine Qual gewesen, in manch lichten Momenten, wenn er sich gestattete ein wenig er selbst zu sein. Diese Hülle war tot und hatte seinen Dienst erfüllt, nun war er endlich wieder frei.
Niemand bemerkte die beiden schemenhaften Gestalten, die nicht mehr als ein kühler Luftzug an der Wange des Sanitäters waren.
Gabriel streckte die Hand nach ihm aus und diesmal nahm er sie. Wie gerne hatte er immer ihrer glockenhellen Stimme zugehört, die selbst noch in seiner Erinnerung klarer und heller klang, als jedes noch so schöne Geräusch irdischer Natur. Er konnte es kaum erwarten, sie wieder zu hören.
„Komm Luzifer.“ Welch ein Genuss! „Wir müssen gehen. Es gibt noch viel für uns zu tun!“