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Eheringe
Eheringe
Nach zwanzig Ehejahren hatten Karla und Paul sich nichts mehr zu sagen. Halt! Das heißt, reden mussten sie schon noch miteinander, was es eben so zu bereden gibt, wenn man ein Haus, eine Tochter und vor allem ein Konto gemeinsam hat. Erst letzte Woche hatte Karla versucht, den Dialog zu beleben, indem sie – direkt in Pauls Blickfeld auf der Windschutzscheibe - einen Aufkleber platziert hatte mit dem Text „Ich steige aus“. Paul allerdings hatte ihn kommentarlos abgerubbelt. Dabei hatte sie sich so gewünscht, dass er irgendwas dazu gesagt hätte. Zum Beispiel:
" Was meinst du mit 'aussteigen'?" Oder:
"Ziemlich kindisch, die Idee. Stammt sie von deiner Freundin oder hast du das in deiner Daily Soap gesehen?" Oder wenigstens:
"Den nächsten Aufkleber bitte an die Heckscheibe. Ich sehe ihn ja dann im Rückspiegel."
Karla verbrachte viel Zeit mit Grübeln. Sie versuchte gelegentlich, bei ihrer Tochter Verständnis zu finden. Die hatte dafür so gut wie nie Zeit und schien überhaupt eher auf Papis Seite zu stehen. Außerdem hatte sie genug damit zu tun, ihre eigene Beziehungskiste in Ordnung zu halten.
'Früher haben wir Spaß gehabt an Wortgefechten', dachte Karla des Öfteren, 'und ich war nicht immer der Verlierer. Wann haben wir aufgehört, uns dabei in die Augen zu sehen? Wenn wir jetzt streiten, geht es allenfalls darum, dass er das Geld heimbringt. Was kann ich darauf noch sagen? Er hat ja Recht. Und wenn wir schon einmal miteinander schlafen, dann denkt er bestimmt an die Steuererklärung.'
In ihren Augen war Paul nun ein hartgesottener Verweigerer. Nur ganz selten ließ er sich provozieren. Meistens blieb er unnahbar, schweigsam, die Augen an ihr vorbei gerichtet. Nur wenige Male hatte er ihr einen Blick hinter den eisernen Vorhang seines Pflichtbewusstseins erlaubt; aber da war sie zurückgeschreckt vor dem Überdruss und der Kälte in seinen Worten.
Karla rührte abwesend in ihrer vierten Tasse Kaffee an diesem Morgen, während sie lustlos in einem Frauenmagazin blätterte. Sie wusste genau, was an ihrer Ehe nicht stimmte. Sie spürte die wachsende Verdrossenheit ihres Mannes. Immer häufiger übernahm er nebenberufliche Aufträge, jetzt wo die Tochter meistens eigene Wege ging und nur noch selten zuhause übernachtete. Karla fühlte immer weniger Lust, das Heim durch alle möglichen Dekorationskünste gemütlicher zu gestalten. Es nahm ja doch niemand Notiz davon. Der Haushalt forderte sie nicht mehr heraus wie in den ersten Jahren, als sie sich – erleichtert darüber, dass ihr die Verantwortung für ein eigenes Berufsleben erspart blieb – begeistert darauf gestürzt hatte. Eine falsche Entscheidung damals, eine Entscheidung gegen den Willen ihres Mannes, der es lieber gesehen hätte, wenn sie ihren Beruf nicht einfach aufgegeben hätte. Na klar, sie war schwanger gewesen, aber hätte eine Babypause von ein paar Jahren nicht genügt? Aber wie sollte sie sich jetzt, mit fünfundvierzig, wieder in eine Arbeit als Chemielaborantin stürzen? Heiße Wellen der Angst überfluteten sie bei dieser Vorstellung.
'Ich habe alles verlernt', dachte sie, 'ich kann einfach nicht mehr nach der Uhr leben und gleichzeitig an Laboranalysen und Einkaufslisten denken. Verdammt, ich kann ja nicht einmal mehr ein vernünftiges Gespräch führen, das sich nicht um Rezepte und Kinder dreht! Wie soll ich da einem Personalchef klar machen, dass er schon immer auf mich gewartet hat!'
Es gab ihr einen ordentlichen Stich, als sie im Magazin auf ihr Wochenhoroskop stieß. Hier stand: „Was immer Sie tun müssen, tun Sie es jetzt! Es könnte Ihre letzte Chance sein!“
Sie fing an, die Bügelwäsche einzusprühen. Wieder einmal zerrte sie vergeblich an ihrem Ehering. Ihre Hände waren nicht nur von der Hausarbeit geschwollen. In ihre alte Kleidergröße passte sie längst nicht mehr. Zu Hause reichten ja Schlabberhosen und zeltartige Oberteile, aber als Berufstätige müsste sie schon etwas mehr für ihr Äußeres tun. Paul trug seinen Ring schon seit Monaten nicht mehr, er lag im hintersten Winkel der Nachttischschublade. Ob er fremdging? Immer öfter kam er spät in der Nacht nach Hause, häufig mit einer Fahne. „Vorstandssitzung“, murmelte er mit abgewandtem Gesicht, während er sich im Dunkeln auszog, oder „Geschäftsessen“. Wie ein Stein lag er dann auf einer Seite, die Ohren fest mit Stöpseln verschlossen, so dass er ihr ruheloses Umherwälzen, ihre häufigen Gänge ins Badezimmer oder an den Kühlschrank wohl kaum mitbekam.
Nach dem Abendessen saßen sie vor dem Fernseher. Paul hatte stumm und zielstrebig mehrere Gläser Wein in sich hineingeschüttet. Karla dachte an ihr Horoskop. Unvermittelt schaltete sie den Apparat aus und versteckte die Fernbedienung hinter ihrem Rücken.
„Ich will jetzt mit dir reden!“, begann sie forsch.
„Worüber?“ Paul klang absolut unbeteiligt.
„Ich will wissen, warum du deinen Ring nicht mehr trägst.“
„Warum willst du das wissen?“
Da war er wieder, der typische Dialog. Statt einer Antwort kam sofort eine Gegenfrage. Und darin blitzte das Warnlicht auf: Halt! Nicht weiter fragen!
Trotz erfasste sie. „Und dann will ich noch wissen, warum du in letzter Zeit so viel trinkst. Hast du eine Freundin?“
„Der Ring passt mir nicht mehr, aus verschiedenen Gründen.“
„Ist das alles, was dir dazu einfällt?“ In hilflosem Zorn sprang sie auf und fuhr Paul mit der rechten Hand vors Gesicht. „Da, da, mir passt er auch nicht mehr. Was glaubst du, wie gern ich den Ring los wäre, wenn ich nur könnte. Aber das verdammte Ding geht ja nicht mehr ab!“
„Hör auf zu schreien.“ Paul blieb ganz ruhig. "Zeig mal her." Er nahm ihre rechte Hand und betrachtete aufmerksam den Finger, wo der Ring tief im Fleisch saß. „Ich könnte ihn dir aufsägen“, fügte er nachdenklich hinzu.
„Ist das dein Ernst?“ Vor lauter Verblüffung musste Karla sich wieder setzen. Es stimmte ja, Paul hatte sehr geschickte Hände, feingliedrig und sensibel. Sie deutete auf die leere Weinflasche: „Willst du das wirklich riskieren?“
Wortlos erhob sich Paul und ging zur Kellertreppe, Karla folgte ihm misstrauisch und in Alarmbereitschaft. Im Hobbyraum schaltete er die Lampe über der Werkbank an und schob einen Hocker heran. Aus dem Erste-Hilfe-Kasten legte er ein Päckchen Verbandsmaterial bereit.
„Leg die Hand gespreizt auf die Bank.“ Ohne zu zögern, ergriff er die elektrische Säge, spannte ein Blatt für extra feine Metallarbeiten ein und drückte auf den Schalter. „Also dann los“, sagte er gedehnt und presste mit seiner Linken Karlas Handgelenk auf die Arbeitsplatte. In seinem Blick lag ein Hauch Spott und noch etwas anderes, das sie nicht deuten konnte.
'Ich muss verrückt sein! O Gott, er sägt mir bestimmt den Finger ab.' Das hohe Sirren fuhr ihr schmerzhaft in die Schläfen. Sie schloss die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Ihre Hand fing an zu vibrieren, ihr Finger wurde heiß. 'Jetzt', dachte sie, 'jetzt!'
Das Sirren erstarb. Sie öffnete die Augen. Paul hatte die Säge beiseitegelegt. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
"Mensch, Karla, kannst du die Hand nicht ruhig halten? Oder hast du vielleicht Angst vor mir?"
Karla gab keine Antwort. Ja, sie hatte Angst! Und gleichzeitig wollte sie ihrem Ehemann vertrauen. Aber durfte sie das? Sie wusste es nicht. Ihr Blick richtete sich auf den dunkelsten Winkel des Kellers.
'Mach weiter, mach einfach weiter. Bring es zu Ende.' Sie hatte keine Kraft mehr, sich gegen das Unausweichliche, was immer es auch sein würde, zu wehren. Sie verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum.
Vorsichtig bog Paul den aufgeschnittenen Ring auseinander. Matt glänzend, auf der Innenseite abgewetzt, lag er vor ihnen.
„Und wo soll er jetzt hin? Vielleicht in deine Nachttischschublade?“ Karla schüttelte heftig den Kopf, floh die Treppe hinauf und schloss sich im Zimmer ihrer abwesenden Tochter ein. Sie musste unbedingt ihre Gedanken sortieren. Den Ring war sie ja nun los, aber das war wohl kaum schon die Lösung ihrer Ehekrise. Gegen Morgen fasste sie den Entschluss, der schon längst fällig war.
Als Paul am nächsten Abend ins Wohnzimmer trat, fand er Karla auf dem Teppichboden hockend, um sich herum Zeitungen verstreut. Einige Stellenangebote daraus hatte sie ausgeschnitten und auf dem Esstisch ausgebreitet. Ihr halb zerstörter Ehering lag in einem Schälchen daneben. Paul stellte seine Aktentasche ab und beugte sich aufmerksam und eine ganze Weile über das Arrangement. Schließlich öffnete er seine Aktentasche und zog ein paar Blätter heraus. „Es gibt da Umschulungsmaßnahmen vom Arbeitsamt, extra für Frauen, die schon länger aus dem Beruf sind“, sagte Paul nicht unfreundlich, „ich habe dir das Angebot mitgebracht.“ Und Karlas Herz fing an zu klopfen, als sie die lange vermissten Lachfältchen in seinen Augenwinkeln entdeckte.