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Dr. Störkes gesammelte Gleichzeitigkeiten
Störke wusste nicht zu sagen, ob er früher jemals besonders darauf geachtet hatte. Sehr häufig geschah es ja ohnehin nicht, und wenn es geschah, hatte er es meist innerhalb weniger Augenblicke wieder vergessen. Allerhöchstens dachte er kurz darüber nach, fand es witzig, aber nicht weiter verwunderlich. Immerhin war er Zeit seines Lebens ein obsessiver Leser gewesen, und je häufiger man las, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass es hin und wieder einmal passierte. Den Kopf hatte er sich nie darüber zerbrochen.
Er erinnerte sich allerdings, wann er erstmals ausführlicher darüber nachgegrübelt hatte.
Eines Samstagabends war er zu Besuch bei seiner Schwester gewesen. Mit seiner Nichte lag er auf dem Wohnzimmerteppich und die Kleine las ihm aus einem ihrer Kinderbücher vor:
„… schwankend erhob sich Ernst Stoppelbart, weil die Wirtshausbank immer heißer wurde. Mit Entsetzen stellte er fest, dass Flammen aus seinem Hintern züngelten. Meine Güte, ich werde noch verrückt, sagte Stoppelbart …“
„Meine Güte, ich werde noch verrückt“, sagte Claudia, die in haargenau derselben Sekunde mit der Teekanne ins Wohnzimmer kam, „könnt ihr nicht Kekse essen wie normale Menschen?“
„Vollkommene, perfekte Synchronizität, Schwesterherz.“ Störke grinste sie an.
„Was?“
„Ach, vergiss es.“
Er allerdings vergaß es nicht. Am nächsten Morgen saß er vor dem Computer und überflog seine Mails.
„Sollte sich die Lage nicht entscheidend ändern …“, las er.
„… sollte sich die Lage nicht entscheidend ändern …“, sagte der Nachrichtensprecher im Radio in haargenau derselben Sekunde.
Na ja, ein Zufall halt, so wie gestern, wie schon so oft. Störke nippte am Kaffee, zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich zurück und versuchte sich auszumalen, wie oft ihm das in seinem Leben wohl schon passiert sei. Dutzende Male? Hunderte Male? Schade, dachte er, dass er niemals auf die Idee gekommen war, diese zufälligen Koinzidenzen zu notieren. Nicht, dass er meinte, er hätte in der zufälligen Aneinanderreihung von Wörtern möglicherweise irgendeinen Sinn entdecken können, gar eine Botschaft - er war jeglichem esoterischen Hokuspokus abhold, stand diesem nicht nur skeptisch, sondern vollkommen intolerant gegenüber - aber wäre es nicht eine reizvolle Aufgabe gewesen, herauszufinden, ob er aus den Wörtern vielleicht Sätze hätte bilden können? Eine Art Scrabble zu spielen mit ganzen Wörtern? Er stand auf und holte sich noch einen Kaffee aus der Küche.
Wäre es theoretisch möglich, die Wahrscheinlichkeit solcher Synchronizitäten zu berechnen?, fragte er sich, als er wieder am Schreibtisch saß. Das Schwierigste wäre wohl, die Parameter zu definieren, die man in die Gleichung einfließen lassen wollte, so viel war ihm klar. Das wäre in der Tat ein hübsches Stück Arbeit, keine Frage.
Er schnappte sich einen Bleistift und Papier und dachte angestrengt nach. Zuallererst müsste er wohl die Größe des deutschen Wortschatzes kennen, beziehungsweise die Anzahl der Wörter, die in der Alltagssprache Verwendung fanden.
„Der Wortschatz der deutschen Standardsprache umfasst ca. 75.000 Wörter, die Gesamtgröße des deutschen Wortschatzes wird je nach Quelle und Zählweise auf 300.000 bis 500.000 Wörter bzw. Lexeme geschätzt“, las er in Wikipedia und schrieb 75.000 auf seinen Zettel. Er hatte keine Ahnung, was Lexeme bedeutete. Nun, mit der Zahl konnte er schon mal was anfangen, allerdings erinnerte er sich daran, einmal in einem Buch von Michael Köhlmeier „… die ringförmige Anordnung des Benzolmoleküls“ gelesen zu haben, just in dem Moment, als der Sprecher der Ö1-Wissenschaftssendung, die im Hintergrund im Radio lief, „… die ringförmige Anordnung des Benzolmoleküls“ sagte. Störke radierte 75.000 aus und schrieb stattdessen 150.000. Gut. Als Nächstes bräuchte er einen Zeitrahmen. Stünde nämlich unendlich viel Zeit zur Verfügung, wäre auch die Wahrscheinlichkeit unendlich hoch, das war eine Binsenweisheit. Also fünf Jahre? Zehn Jahre? Und natürlich die Häufigkeit, mit der ihm solche Zufälle passierten. Erlebte er das durchschnittlich einmal im Monat? Gar wöchentlich? Er wusste es nicht. Und die Tatsache, es selbst nur selten zu erleben, bedeutete ja nicht gleichzeitig, dass es sehr unwahrscheinlich war, sowas passierte vermutlich immerzu irgendwo irgendjemandem. Musste er also auch die Anzahl aller deutschsprachigen Menschen in seiner Rechnung berücksichtigen? Wenn ja, vermutlich über dem Bruchstrich.
Sein Zettel füllte sich mit Zahlen, er schrieb, radierte, schrieb und rechnete. Zu einem schlüssigen Ergebnis kam er nicht, seine Mathematikkenntnisse waren offenbar doch nicht ausreichend, musste er sich eingestehen. Und je länger er rechnete, umso mehr Parameter fielen ihm ein, die es in der Rechnung zu bedenken gab. Beispielsweise müsste er natürlich die statistische Häufigkeit, mit der jedes Wort im Alltag auftrat, wissen. Benzolmolekül, Sessellift oder gar Poststrukturalismus zum Beispiel belegten vermutlich nicht gerade Spitzenplätze. Und was wiederum bedeutete es, wenn ein Wort einmal gedruckt war? Egal, ob in einem Buch oder in einer Zeitung oder sonst wo. War es damit nicht gleichsam allgegenwärtig und erhöhte damit wieder die Wahrscheinlichkeit? Und spielte nicht auch die Auflagenhöhe des Druckwerks eine Rolle?
Nicht dass sich Störke für dumm hielt, aber diese Aufgabe, musste er sich eingestehen, war eindeutig eine Nummer zu groß für ihn. Die zu lösen bedürfte es wohl eines leistungsstarken Computers, eines Rechners, dem es kein Problem bereitete, Sternbildungsprozesse oder globale Wetterphänomene zu simulieren, so was in der Art. Und obendrein, beziehungsweise in allererster Linie, bräuchte es ein verflixt schlaues Kerlchen, welches verstünde, die relevanten Daten einzugeben. Er zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Papierkorb.
Es war ein wunderschöner Wintermorgen und Störke grinste vor sich hin. Er beschloss, in Hinkunft zumindest immer ein Notizbüchlein und einen Stift bei sich zu tragen. Scrabble hatte er schon als Kind liebend gerne gespielt. Und wer weiß, vielleicht hätte er in ein paar Monaten ein hübsches, kleines dadaistisches Gedicht beisammen.
„Kleines Notizbuch besorgen!“ schrieb er in seinen Kalender.
„… das Buch besorgen sie sich am besten …“, tönte ein Radiowerbespot in haargenau derselben Sekunde.
„Du verarscht mich doch, Alter. Das hast du dir ausgedacht, gib’s zu.“ Georg blätterte vor und zurück und las vor:
„(die ringförmige Anordnung des Benzolmoleküls),
Meine Güte, ich werde noch verrückt,
sollte sich die Lage nicht entscheidend ändern,
Buch besorgen,
Amsel,
jenes bedrohliche Szenario,
Norbert/Nordpol,
approximativ,
Langsamkeit,
streunender Kater,
in gewisser Weise,
Probabilität ,
Libellenflug,
... und so weiter und so weiter, blablabla. Sei mir nicht böse, Stephan, aber das ist doch nur zusammenhangloser Blödsinn.“
„Ja eh. Was hast du dir denn erwartet? Die Göttliche Komödie? Ich hab ja erst im Februar angefangen. Und ich achte ja auch nicht immer drauf. … Und diese ganzen Hilfsverben zum Beispiel, bin, sein, haben, was weiß ich, und erst die Konjunktionen, und, aber und so Zeug, das schreib ich ja gar nicht auf. Ich würde ja verrückt werden.“
„Du würdest verrückt werden, soso. Und warum die Klammer?“
„Was?“
„Benzolmolekül. Steht in Klammer.“
„Ach, das war irgendwann, früher. Ist außer Konkurrenz eigentlich.“
„Und was heißt Norbert/Nordpol?“
„Das kam auch gleichzeitig.“
„Aber das stimmt ja nicht überein.“
„Eh nicht. Aber ich schwör’s dir, als ich im Frühling in Ransmayers Buch von dieser Payer-Weyprecht-Expedition das Wort Norbert las, sagte der Sprecher im Radio im selben Moment Nordpol. Und dann hab ich gesehen, dass ich mich nur verlesen hab. Stand eh Nordpol da, nicht Norbert … Aber Norbert Gstrein, sagt dir das nix? Der ist ja auch ein österreichischer Autor.“
„Der Schifahrer?“
„Nein, das ist sein Bruder.“
„Ach ja. Na und?“
Störke ging zum CD-Spieler und schaltete ihn ein. „Hör mal zu.“
„Ja, Police, cool. Mag ich nach wie vor, weißt du eh.“
„Ich rede von Mustererkennung, Georg. Verstehst du?“
„Nein.“
„Jessas, Georg, du warst doch früher nicht so schwer von Begriff. William Gibson, Pattern Recognition. Na, klingelt‘s?“
„Nein.“
„Alter! Das Buch erschien 2003, im selben Jahr nannte Bernhard Gstrein, also der Schifahrer, in einem Interview auf die Frage nach seinen Lieblingstieren die Katze und die Libelle, und er sagte, sein Lieblingssong sei, na, errätst du‘s?“
„Synchronicity von Police?“
„Bingo. Aber es kommt noch besser. In seiner zwölfjährigen Weltcupkarriere hat er zweiundvierzig Top Ten-Resultate erreicht, und exakt zweiundvierzig Tage nach dem Interview überfuhr er mit dem Auto einen streunenden Kater. Das stand sogar in der Zeitung. Weil er immer so gerast ist wie ein Irrer. Und das Benzoldingsbums hab ich nur aufgeschrieben, weil Michael Köhlmeier ein sehr guter Freund vom Gstrein ist, also vom Bruder, dem Schriftsteller. Was sagst du jetzt?“
„Zweiundvierzig? Kein Scheiß? Witzig. … Äh, aber gibt’s da nicht diesen Satz in der Quantenmechanik, wonach alles, was die Naturgesetze nicht dezidiert ausschließen, zwangsläufig der Fall ist? Oder so ähnlich?“
„Genau, und damit wären wir wieder bei dem Kater, oder meinetwegen der Katze, egal, also Schrödingers Katze, du weißt schon.“
„Sag bloß, Schrödinger hat mit zweiundvierzig …“
„Nein, das nicht, aber in einem Interview erzählte Köhlmeier einmal, er habe mit seinem ersten Buch zirka zweiundvierzigtausend Schilling verdient, damals hatten wir ja noch nicht den Euro, und auf dem Schillingtausender war der Erwin Schrödinger drauf, erinnerst du dich?“
„Na klar.“
„Und weißt du, was Köhlmeier in dem Interview damals wortwörtlich sagte? Er sagte nicht: Ich verdiente zirka, sondern er sagte: Ich verdiente damit approximativ zweiundvierzigtausend. Wortwörtlich.“
„Das ist ja erstaunlich. Und was hast du jetzt vor?“
„Na ja, momentan hab ich beinahe dreihundert Wörter beisammen. Mal sehen, ob ich ein Märchen für Mira hinbekomme. Die Kleine mag so verrücktes Zeug.“